Quelle: Zeit Online
Als Kompass und Karte weist das Smartphone den Weg in die Freiheit. Es hilft Flüchtlingen aber auch, pünktlich gen Mekka zu beten – und sich Deutsch beizubringen.
Von Fritz Habekuß und Stefan Schmitt
Neustadt bei Coburg in Oberfranken – während die acht jungen Syrer im dritten Stock eines Mehrfamilienhauses darauf warten, dass auf dem Herd das Hähnchen fertig wird, liegen auf ihrem Abendbrottisch die wichtigsten Utensilien bereit: Besteck, Teller und acht Smartphones. Ständig klingelt, vibriert und pfeift es. In knappen Textnachrichten beschreiben die in Syrien gebliebenen Eltern, wie es heute in Damaskus steht. Im Chat erzählt ein Freund von seiner Unterkunft in Aachen, in der er gelandet ist. Zwischendurch schicken Onlinebekanntschaften Einladungen zum Internetspiel Candy Crush. Alle paar Minuten nimmt einer der Männer sein Handy in die Hand, entsperrt den Touchscreen, aktualisiert seinen Facebook-Stream, antwortet auf eine Nachricht, legt es zur Seite und greift bald wieder danach. Dies ist die Alltagschoreografie des 21. Jahrhunderts – und das Telefon ist das wichtigste Medium der Geflüchteten.
Rasoul al-Hamade hat heute Kochdienst in der Flüchtlings-WG. In Damaskus hat der 25-Jährige Petrochemie studiert, bis er sich zur Flucht vor Giftgas und Fassbomben entschied und in diesem Frühjahr mit einem Schlauchboot über das Mittelmeer kam. Im Mai erreichte er die griechische Ferieninsel Kos, in seinem Rucksack steckten ein paar Klamotten, Geld und natürlich sein Handy. Rasoul war erst im Morgengrauen auf Kos gelandet, aber er wusste genau, wie es weitergehen sollte. Mit der Fähre nach Piräus, von dort zum Balkan. „Ich zeig’s dir“, sagte er damals und zog ein Smartphone aus der Tasche. Er öffnete Google Maps und zoomte in die Grenzregion zwischen Griechenland und Serbien, immer näher, bis irgendwann eine schwarzer Strich sichtbar wurde, eine offene Eisenbahnbrücke. „Hier!“ Dort wolle er die Grenze überqueren. Andere, denen es schon geglückt sei, hätten ihm per WhatsApp die Koordinaten der Brücke geschickt.
Bei Facebook gibt es Gruppen, in denen sich Flüchtende austauschen. Jeder, der Arabisch spricht, kann sich darin über Routen, Schlepper und Absteigen informieren. So wird das Smartphone zum Fluchthelfer. Aber das ist nur einer der Gründe, warum dieses Gerät für Menschen wie Rasoul al-Hamade so unentbehrlich ist. Mindestens ebenso wichtig ist es als Nabelschnur in die alte Heimat und als zentraler Integrationshelfer ins neue Leben. Wenn der Arabische Frühling von 2011 die erste Facebook-Rebellion war, dann kann man die große Flucht des Jahres 2015 die erste digital gesteuerte Völkerwanderung nennen. Und all die digital refugees, die sich unterwegs mit ihren Ladegeräten um die Steckdosen scharen und die, einmal angekommen, ständig zu ihren Telefonen greifen, sie führen uns zugleich den Stand der Vernetzung unseres Planeten vor Augen.
Rasoul al-Hamade trägt sein Handy immer in der Hosentasche. Es ist ein unscheinbares schwarzes Samsung mit abgerundeten Ecken. Das gebrauchte Gerät hat er sich bald nach seiner Ankunft in Deutschland gekauft, weil ihm sein vorheriges Gerät irgendwo in Mazedonien gestohlen wurde. Das Samsung wirkt ziemlich abgenutzt, aber das ist Rasoul egal. Hauptsache, der rechteckige Touchscreen funktioniert, das Fenster zur Welt. Seine Freundin versucht, ihn per WhatsApp anzurufen, doch im Kreis seiner Mitbewohner drückt Rasoul den Anruf diskret weg. Später schickt ihm seine Schwester eine Nachricht mit Fotos der Cousins und Neffen. Er antwortet mit Schnappschüssen aus Oberfranken: Rasoul beim Ausflug mit einem gespendeten Fahrrad, beim Abendessen in seiner WG. Bilder aus seinem neuen Leben.
„Mir ist noch kein einziger Flüchtling begegnet, der nicht zumindest ein einfaches Handy bei sich getragen hat“, sagt Vassilis Tsianos, „die meisten haben heute Smartphones.“ Der Soziologe von der Fachhochschule Kiel hat ein ganzes Buch über moderne Migranten geschrieben, Mobile Commons. Im Juli und August hat er auf den griechischen Inseln Kos und Lesbos Menschen auf ihrem Weg nach Mitteleuropa befragt. Immer wieder zeigte sich dabei, wie wichtig den Flüchtlingen der digitale Anschluss war: „Die sind eng vernetzt und tauschen online Informationen und Pläne aus.“
Auch Rasouls Mitbewohner Nadeem hat in der WG in Neustadt sein Handy stets griffbereit. Nadeem stammt aus Aleppo, jener syrischen Stadt, in der der Krieg besonders stark wütet. Nur ein paar Straßen von seinem Elternhaus entfernt stehen sich Assads Regierungstruppen und die Rebellen der Freien Armee gegenüber. Als Nadeem durch seinen Facebook-Stream scrollt, sieht er das Foto eines zerstörten Parks, wenige Gehminuten von seinem alten Haus entfernt. Dann scrollt er weiter. Es taucht ein Post mit dem Foto eines halbnackten Paars auf. „Sind die Deutschen spießig?“, wird eine Sexforscherin im englischsprachigen Kanal der Deutschen Welle gefragt. Hass und Liebe, auf Nadeems Handy liegt dazwischen nur eine Wischbewegung.
Das Smartphone ist das globalste aller Digitalgeräte
Nadeem ist Sunnit, er betet fünfmal am Tag. Allerdings ruft in Oberfranken kein Muezzin vom Minarett. Stattdessen zählt eine App die Minuten bis zum nächsten Gebet herunter, und der eingebaute Kompass zeigt die Richtung nach Mekka an. Im Supermarkt in Neustadt soll ihm die App Halal-Check helfen, jene Produkte zu vermeiden, die als unrein gelten. „Meine Mutter meldet sich fast jeden Tag per WhatsApp bei mir“, erzählt er. „Sie fragt mich alles Mögliche: Was hast du heute gemacht?
Was hast du heute gegessen?
Wann bist du aufgestanden?
Wie hast du geschlafen?
Wie ist das Wetter?
Hast du im Koran gelesen?“
Das Smartphone ist das globalste aller Digitalgeräte – und damit vielleicht auch das demokratischste. Erst vor acht Jahren kam es in Gestalt eines Luxusaccessoires auf den Markt, des ersten iPhones. Aber fast von Anfang an spielte die Geschichte des Smartphones auch in der Dritten Welt. Dort sind Handys in vielen Staaten längst stärker verbreitet als Festnetztelefone. „Die Entwicklungsländer sind ein einziger großer Secondhandmarkt“, sagt Vassilis Tsianos.
Die International Telecommunication Union (ITU) – quasi die Fernmeldeabteilung der UN – prognostiziert, dass bis zum Jahresende 95 Prozent der Weltbevölkerung in der Reichweite eines normalen Handynetzes leben werden. Und mehr als zwei von fünf Menschen haben heute Internet. Am stärksten trägt der Mobilfunk zur Ausbreitung bei. So decken 3G-Netze bereits etwa die Hälfte der Weltbevölkerung ab. ITU-Direktor Brahima Sanou rechnet vor: „Auf jeden Internetnutzer in den Industrieländern kommen zwei Nutzer in Entwicklungsländern.“
Massenhersteller wie Xiaomi aus China bauen günstige Smartphones (Neupreise zwischen 50 und 100 Dollar), die zwar nie auf der Cebit ausgestellt werden, aber unzählige Menschen zu digitalen Weltbürgern machen. So prognostiziert der Netzwerkausrüster Cisco zum Beispiel, dass 2016 jeder zweite Internetnutzer im Nahen Osten ausschließlich via Smartphone online gehen wird. Für all die glücklich in Deutschland Angekommenen, die nun monatelang auf Asyl hoffen, bedeutet das: Sie tragen den Computer des 21. Jahrhunderts in der Tasche. Er kann helfen, sich die Fremde heimisch zu machen.
„Ich habe ein paar Apps installiert, um Deutsch zu lernen“, erzählt Rasouls Mitbewohner Nadeem. „Das ist der nächste Schritt. Denn ich möchte zur Universität, um meinen syrischen Abschluss als Zahnarzt anerkennen zu lassen. Am allerwichtigsten ist Google Translate.“ Tatsächlich zeigen die Statistiken der Google-Server im Lauf dieses Jahres innerhalb Deutschlands eine fünffache Steigerung der Übersetzungen aus dem Arabischen. Inzwischen bittet der Konzern Muttersprachler um Hilfe bei der Erweiterung des Wortschatzes von Translate. „Wartezeit ist Sprachlernzeit“, sagt der Forscher Tsianos. Als Al-Hamade seine fünf Lieblings-Apps aufzählt, sind das außer Google Translate ein Wörterbuch, zwei Vokabeltrainer und ein Deutschkurs.
An seine Grenzen stößt das Integrationswerkzeug hierzulande ausgerechnet beim Netzzugang. Solange Asylbewerber auf ihren Bescheid warten, bekommen sie kein Girokonto, ohne Bankverbindung gibt es keinen Telefonanschluss – und damit kein schnelles, preisgünstiges Internet. Stattdessen weichen die Wartenden auf Prepaid-Anbieter wie Lebara, Ortel oder Lyca aus. Im ländlichen Franken bedeutet das wenig Internetbandbreite für viel Geld. Was sie am meisten brauchen, um im fremden Deutschland anzukommen? Darauf hat Rasoul al-Hamade dieselbe Antwort wie seine sieben Mitbewohner: einen WLAN-Anschluss.