31. Juli 2015 · Kommentare deaktiviert für „Von der Lebensrettung zur Rückführung“ · Kategorien: Mittelmeer · Tags: ,

Quelle: NZZ Webpaper

Wie Europa seit einem tragischen Bootsunglück im April versucht, die Flüchtlingskrise zu bewältigen

Nach langem Zögern hat sich die EU der Flüchtlingskrise angenommen. Während sie das Sterben im Mittelmeer eindämmte, bleiben die Umsiedlungen von Asylsuchenden freiwillig. In den Fokus rückt nun die Repression.

Niklaus Nuspliger, Brüssel

In der Politik gibt es Momente, die über Nacht immensen Handlungsdruck erzeugen. Skandale und Affären können solche Momente sein, oder Anschläge und Katastrophen mit vielen Opfern, deren Tod man womöglich hätte verhindern können. Manchmal lösen solche Ereignisse einen politischen Paradigmen- oder Richtungswechsel aus. Manchmal schaffen Politiker bloss Arbeitsgruppen, erteilen Prüfungsaufträge und lancieren symbolische Sofortmassnahmen, um die Gemüter zu beruhigen.

Gegen den Tod im Mittelmeer

Ein Schlüsselmoment für die EU war der Sonntag, 19. April 2015, als vor Sizilien über 800 Bootsmigranten ertranken. Hatte sich die Reaktion auf frühere Bootsunglücke auf Betroffenheitsrhetorik beschränkt, schritt Brüssel nun zur Tat. Innert 24 Stunden skizzierte die EU-Kommission von Jean-Claude Juncker einen Zehn-Punkte-Plan, den die EU-Aussen- und Innenminister am Tag nach dem Unglück an einer Sondersitzung guthiessen. EU-Rats-Präsident Donald Tusk bestellte die EU-Regierungschefs drei Tage später zu einem Sondergipfel nach Brüssel, womit die Krise zur Chefsache wurde. Ob Historiker das Unglück vom 19. April dereinst als migrationspolitische Zeitenwende bezeichnen werden, ist aber zweifelhaft. Eine Zwischenbilanz zum bunten Strauss von Massnahmen fällt jedenfalls durchzogen aus.

Einen Politikwechsel leiteten die EU-Regierungschefs beim Kampf gegen das Sterben im Mittelmeer ein. Nachdem sie die Operation «Mare Nostrum» der italienischen Marine hatten auslaufen lassen, floss nun neues Geld in die Frontex-Operationen «Triton» und «Poseidon» vor den Küsten Italiens und Griechenlands, und die EU-Staaten schickten Flugzeuge und Schiffe ins Mittelmeer. Menschenrechtsorganisationen reagierten zuerst kritisch, da die EU-Agentur Frontex eher dem Grenzschutz als der Suche und Rettung von Migranten verpflichtet ist. Im Juli anerkannte aber Amnesty International, dass die Zahl der Todesopfer im zentralen Mittelmeer dank der Aufstockung von «Triton» markant gesunken ist.

Der relative Erfolg dieser humanitären Sofortmassnahme hat indes den Druck verringert, die strukturellen Probleme der EU-Asylpolitik anzugehen. Dies zeigte sich bei der Debatte um die Flüchtlingsquoten, die Griechenland und Italien über die Umsiedlung von 40 000 Migranten entlasten sollten. Im Mai schlug die EU-Kommission dazu einen obligatorischen Verteilschlüssel vor, mit dem auch 20 000 Flüchtlinge aus Drittstaaten wie dem Libanon in Europa angesiedelt werden sollten.

Doch osteuropäische Staaten, aber auch Spanien oder Grossbritannien sträubten sich vehement gegen den Plan. An den Sitzungen der Botschafter und Minister gingen die Wogen hoch, an einem weiteren EU-Gipfel im Juni stritten sich die Regierungschefs bis in die Morgenstunden. Am Ende einigte man sich darauf, die insgesamt 60 000 Asylsuchenden innert zweier Jahre bloss über freiwillige Zusagen jedes EU-Staats umzusiedeln – ein Ziel, das die EU-Innenminister im Juli nach zwei Anläufen verfehlten. Der Schacher um die Aufnahme einiger tausend Flüchtlinge war nicht von gemeinsamem Verantwortungsbewusstsein geprägt, sondern von nationalen Abwehrreflexen und innenpolitischem Kalkül.

Dennoch sollen aufgrund der freiwilligen Zusagen im Herbst die ersten Asylsuchenden zwischen den EU-Staaten umgesiedelt werden. Gelingt das Experiment, könnte es Widerstände abbauen. Junckers EU-Kommission hat eine Revision des Dublin-Systems und einen permanenten Umsiedlungs-Mechanismus für überlastete EU-Staaten angekündigt. Die giftige Debatte hat indes gezeigt, dass solche Schritte höchstens denkbar sind, wenn Italien und Griechenland auch dank der anlaufenden Unterstützung von EU-Experten die Registrierung von Migranten verbessern – und wenn die unkontrollierten Wanderungen von Süd- nach Nordeuropa eingedämmt werden.

Stockende Militäroperation

Glücklos agierte die EU auch bei der gross angekündigten Militäroperation gegen Schlepper, die zwar rasch angelaufen ist, sich aber bis jetzt auf die Informationsbeschaffung beschränkt. Für die in weiteren Phasen geplante Beschlagnahmung und Zerstörung von Schlepperbooten fehlt aber ein Mandat des Uno-Sicherheitsrats – worüber gewisse EU-Staaten angesichts der mit der Operation verbundenen Risiken gar nicht so unglücklich zu sein scheinen.

Dennoch hat sich der Fokus der politischen Debatte von humanitären Überlegungen zur Repression verschoben: Ankommenden Migranten wollen die EU-Staaten mit Zwangsmassnahmen die Fingerabdrücke nehmen. Das Mandat von Frontex soll geändert werden, damit die EU-Agentur Rückschaffungen durchführen kann. Und afrikanische Länder sollen mit der EU Rückübernahmeabkommen abschliessen und ihre in Europa gestrandeten Staatsangehörigen wieder aufnehmen. Dazu wird im Herbst in Malta ein Gipfel zwischen afrikanischen und EU-Regierungschefs organisiert; es kursieren Pläne, den Afrikanern die Kooperation mit deren Koppelung an die Entwicklungshilfe schmackhaft zu machen. So schwer sich die EU-Staaten mit der Aufnahme und Aufteilung der Flüchtlinge tun: Im Ziel, Migranten mit einer strikter Ausschaffungspolitik von der Überfahrt abzuhalten, agieren sie in seltener Einmütigkeit.

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