28. Juli 2015 · Kommentare deaktiviert für „Gestrandet vor dem Tor zu Europa“ · Kategorien: Tunesien · Tags:

Quelle: NZZ Webpaper

Tunesien liegt an der Route vieler afrikanischer Flüchtlinge, die das Mittelmeer überqueren wollen

Zahlreiche Schiffbrüchige, die aus Libyen nach Europa zu gelangen versuchten, stranden in Tunesien. Hier stossen sie auf Ablehnung, aber eine Rückkehr in die Heimat ist für viele von ihnen keine Option.

Monika Bolliger, Zarzis

Das Ehepaar M’Charek wusste zunächst nicht, was geschehen war. Über Nacht waren die Lampen am Strand vor ihrem kleinen Hotel zerstört worden – Vandalismus im Paradies? Die beiden führen uns durch die liebevoll hergerichtete Gartenanlage der weiss getünchten Hotelresidenz, deren mehrheitlich europäische Stammkundschaft Jahr für Jahr wiederkehrt, um hier zwischen Palmen die Seele baumeln zu lassen. Doch in jener Nacht vom 30. Januar 2011, kurz nach dem Sturz von Ben Ali, nutzten andere, die auf der paradiesischen Halbinsel keinen Frieden fanden, den Steg vor dem Hotel für die riskante Fahrt übers Mittelmeer. Die M’Chareks, sichtlich aufgewühlt von den Erinnerungen, haben danach eine Gedenktafel im Hotelgarten errichtet.

Fussballspiel hinter einem Haus in Zarzis, in dem 140 Bootsflüchtlinge untergebracht sind. (Bild: Jonas Opperskalski)

Aufbruch nach der Revolution

Tausende von Tunesiern suchten in jenen Monaten nach der tunesischen Revolution ihr Glück, der Steg vor dem Hotel der M’Chareks war einer von vielen Ausgangspunkten. Jede Nacht sah man die Lichter der Boote. Der Hafen von Zarzis hat sich sichtlich geleert wegen all der Fischerboote, die Richtung Italien in See stachen. Mindestens 400 Boote hätten abgelegt und seien nicht zurückgekehrt, sagt Dhaou Maatoug, ein Journalist aus Zarzis. Inzwischen begannen die Behörden mithilfe Italiens, die Küste wieder stärker zu kontrollieren.

Unterwegs treffen wir in einem Markt zwei Händler, die sagen, sie hätten früher Hunderte in Fischerbooten nach Italien gebracht. Ertrunken sei keiner, denn sie verstünden etwas von der Seefahrt, beteuern die beiden. Sie hätten damit verzweifelten Menschen geholfen. Hier in Tunesien gebe es keine Arbeit und keine Zukunft für die Jungen. Jetzt sei es allerdings schwieriger geworden, erklären die beiden. Noch immer versuchen Flüchtlinge und Migranten von Tunesien aus nach Europa zu gelangen. Doch die meisten starten inzwischen von Libyen aus, wo Schlepper-Netzwerke vom Zerfall der Staatsmacht profitieren.

Blühender Schmuggel

Die libysche Grenze liegt nur wenige Kilometer entfernt von hier, und die Gegend ist voll von Autos mit libyschen Nummernschildern. Unterwegs kann man am Strassenrand Benzin kaufen, das über die Grenze geschmuggelt wurde. Auch Drogen und Waffen werden transportiert. Hin und wieder passieren wir einen Kontrollposten der tunesischen Sicherheitskräfte. Der Schmuggel dürfte mit dem Bau der Grenzmauer, den die tunesische Regierung nach dem Attentat von Sousse begonnen hat, schwieriger werden. Tunesien will damit verhindern, dass Extremisten illegal die Grenze überqueren. In den Grenzgebieten, wo für viele der Schmuggel die einzige Einkommensquelle ist, kam es darauf zu Protesten und Ausschreitungen. In Zarzis halten jedoch Flüchtlinge die Küstenwache in Atem, ihre Boote stechen von Libyen aus ins Meer und erleiden manchmal bereits vor der tunesischen Küste Schiffbruch. Viele der Bootsflüchtlinge, die heute die Fahrt übers Mittelmeer wagen, fliehen vor Krieg und Repression in Ländern wie Syrien oder Eritrea. Andere, die aus subsaharischen afrikanischen Ländern stammen, versuchen, der Armut zu entkommen. Auch Tunesier sind dabei, allerdings weniger als früher.

Mit 14 weg von zu Hause

Manche Schlepper spielen ein besonders zynisches Spiel. Sie kassieren das Geld – Gesprächspartner berichten von Beträgen zwischen umgerechnet 600 und 1000 Franken, die sie bezahlt haben – und wissen, dass die Boote schon vor der tunesischen Küste kentern werden. Viele, die in Tunesien gerettet werden, kehren darauf zurück nach Libyen und versuchen ihr Glück erneut, sobald sie das Geld aufbringen können. Für die Schlepper ist das ein lukratives Geschäft. Nicht alle werden gerettet. Immer wieder findet die Küstenwache von Zarzis Leichen, die nach einem Schiffbruch an den Strand gespült werden. Im Monat Juli haben humanitäre Organisationen 39 gestrandete Leichen gezählt.

Soeben erhalten wir die Nachricht, dass erneut ein Boot Schiffbruch erlitten hat. Das lokale Komitee des Roten Halbmonds hat kaum mehr Kapazitäten, um die Gestrandeten zu versorgen. Hunderte von Migranten aus verschiedenen subsaharischen Ländern wurden vom Roten Halbmond in improvisierten Unterkünften untergebracht. Sie waren auf zwei Booten, welche Schiffbruch erlitten, und wurden von den Tunesiern gerettet. Am Boden des Raumes einer solchen Unterkunft in Medinine, die wir besuchen, reiht sich Matratze an Matratze. Zwei Toiletten mit Dusche stehen rund 140 Leuten zur Verfügung. Viele wollen reden, wollen ihre Geschichten erzählen. Sie erhoffen sich auch Hilfe, und seien es nur verlässliche Informationen. Sie haben kaum eine Vorstellung, was sie in Europa erwartet und welche Optionen sie haben.

Der 17-jährige Moussa aus Gambia ist durch fünf Länder gereist, bevor er in Libyen ins Boot stieg. Mit 14 verliess er sein Zuhause. Sein Vater war gestorben, als Moussa sechsjährig war. Die Mutter wollte, dass er trotzdem zur Schule geht. «Doch wir hatten kein Geld. Ich wollte ihr helfen», sagt er. Als er keine Arbeit fand, suchte er sein Glück im Ausland. Ein Senegalese habe ihm das Handwerk des Elektrikers beigebracht. In Libyen verdiente er Geld, doch dort wurde er mehrere Male von bewaffneten Banden ausgeraubt. So begann er im Internet zu recherchieren, wie man nach Europa kommt, und versuchte schliesslich sein Glück. Er sagt, er könne unmöglich mit leeren Händen zurück. Dass die Überfahrt gefährlich ist, weiss er. «Aber wer durchgemacht hat, was ich hinter mir habe, ist zu vielen Wagnissen bereit.»

Misstrauen und Ablehnung

Moussas Geschichte ist nicht ungewöhnlich, wie sich in Gesprächen mit anderen zeigt. Viele sind seit Monaten oder Jahren kaum in Kontakt mit ihren Verwandten, deren Erwartungshaltung gross ist. Der Druck, Geld zu verdienen, ist immens. «So viele sind in derselben Situation wie ich», sagt er. «Die Leute werden es weiter versuchen. Wenn die Europäer es stoppen wollen, werden viele sterben.» Moussa gehört nicht zu jenen, die als Anwärter auf Asyl eingestuft werden, und gilt deshalb nicht als schutzbedürftig. Syrer, Eritreer oder Somalier werden in der Regel als Asylsuchende kategorisiert und vom Uno-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) registriert. Wer nicht als Flüchtling gilt, fällt in die Zuständigkeit der Internationalen Organisation für Migration (IOM). Die IOM unterstützt normalerweise die Migranten drei Wochen und bietet ihnen Hilfe bei der freiwilligen Rückkehr in die Heimat an. «Hier macht die IOM kaum etwas, ausser, die Leute zu registrieren», erklärt Mongi Slim, der Präsident des regionalen Komitees vom Roten Halbmond, dessen Arbeit hier von der Schweizerischen Direktion für Entwicklungszusammenarbeit unterstützt wird – die Einzigen, die Slim derzeit Hilfe zugesichert haben.

Die Gesamtzahl der Flüchtlinge und Migranten ist schwer festzulegen. Neue kommen hinzu und andere verschwinden – oft, um erneut die Reise übers Mittelmeer zu versuchen. Seit Jahresanfang sind um die 1000 Bootsflüchtlinge in Tunesien gestrandet, andere kamen über die Landgrenzen. Im Juli trafen laut Mongi Slim einmal an einem einzigen Tag 356 Schiffbrüchige in Tunesien ein. Zwei Millionen Libyer sind ausserdem laut Regierungsangaben nach Tunesien geflohen, mit elf Millionen Bürgern ein kleines Land.

Bettler und Schwarzarbeiter

Im Camp Choucha an der libyschen Grenze harren bis heute aus Libyen geflohene Gastarbeiter aus. Das 2011 wegen des libyschen Bürgerkriegs eröffnete Flüchtlingslager ist inzwischen zwar offiziell geschlossen, existiert aber trotzdem weiter. Jene, die weder vom UNHCR als Flüchtlinge anerkannt wurden noch von der IOM in ihre Heimat zurückgeschafft werden konnten, schlagen sich als Bettler und Schwarzarbeiter durch. In Zarzis hat der Exodus der lokalen Jugend nach Europa ironischerweise dazu geführt, dass es Arbeit für Migranten gibt, die wegen ihres illegalen Status allerdings ausgebeutet werden. Jobs sind vorhanden, bezahlt sind sie schlecht. Der lokale Leiter des Roten Halbmonds, der eine Notunterkunft für Migranten unterhält, fordert mehr Pragmatismus. Die IOM solle ihnen Papiere geben, damit sie legal arbeiten könnten, fordert er.

«Sie sind lebende Tote», sagt Pater Jonathan, ein nigerianischer Priester vom Orden der Weissen Väter, der in Sfax lebt und sich für die Migranten und Flüchtlinge einsetzt. «Sie tragen schwere Geschichten im Gepäck, haben Traumatisches erlebt und stossen auch hier auf Abweisung», sagt er. Das Camp Choucha wurde einmal von einem Mob angegriffen, Zelte brannten ab, mehrere Insassen wurden getötet.

Unbekannte beerdigt

In Medinine musste eine Notunterkunft geschlossen werden, die laut den Behörden zu zentral und zu nahe bei einer Schule gelegen war. Den Migranten schlugen Feindseligkeit und Rassismus entgegen; Bewohner sorgten sich um die Kinder, die unweit der Notunterkunft zur Schule gehen; sie glaubten, dass die Schwarzafrikaner gefährliche Krankheiten mitbrächten. Mehrmals hatten die Bewohner gegen die Notunterkunft demonstriert. «Ich fühle mich hier als Bürde. Das ist mir zutiefst unangenehm», sagt ein Migrant, der vorläufig beim Roten Halbmond in Zarzis untergekommen ist.

Trotz den Risiken reissen die Ströme jener nicht ab, die ihr Glück versuchen, oft mit einfachen Fischerbooten. Das Ziel ist Europa, der Traum von einer Arbeit und einem Leben in Sicherheit und Würde. «Diese Leute haben Ausdauer. Sie haben diesen Traum, sie werden wieder und wieder versuchen, ihr Ziel zu erreichen», sagt Pater Jonathan. Manchmal muss er Tote beerdigen, die an die Küste gespült werden. Er lädt dann alle Christen seiner Gemeinde zur Beerdigung ein, um den Ertrunkenen die letzte Ehre zu erweisen. Über 70 Schiffbrüchige haben auf einem Friedhof bei Sfax den letzten Segen erhalten. Der Pater gibt jedem unbekannten Toten einen Namen, bevor er ihn beerdigt.

Beitrag teilen

Kommentare geschlossen.