14. Juli 2015 · Kommentare deaktiviert für „Schaut man weg, sterben Menschen“ – Freiwilliger über Rettung von Flüchtlingen · Kategorien: Alarm Phone, Mittelmeer · Tags: ,

Quelle: taz

Hagen Kopp von der Gruppe „Watch the Med“ über die Grenzschutzagentur Frontex, die Macht von Öffentlichkeit und alltägliche Dramen auf dem Meer.

taz: Herr Kopp, nach den Katastrophen mit Hunderten toten Migranten im April hat die EU versprochen, tätig zu werden. Ist das geschehen?

Hagen Kopp: Unser Eindruck ist, dass in den Wochen nach dem schweren Schiffsunglück am 19. April relativ viel passiert ist. Es wurde darauf geachtet, dass es möglichst keine weiteren Toten gibt. Der Fokus der Öffentlichkeit war darauf gerichtet, viel in Bewegung gesetzt. Aber in den letzten drei, vier Wochen hat das Engagement spürbar nachgelassen. Schaut die Öffentlichkeit nicht mehr hin, sterben sofort wieder Menschen.

Was bedeutet das?

Großbritannien beispielsweise hatte damals ein großes, leistungsfähiges Marineschiff, die „Bulwark“, in die Region geschickt. Die wurde nun durch eine kleineres ersetzt, die „HNC Protector“. Auch die Bundeswehr hat zwei Fregatten geschickt, die „Hessen“ und die „Berlin“. Sie haben sich zunächst bewusst nicht der EU-Grenzschutzagentur Frontex unterstellt, sondern dem Kommando der zivilen römischen Rettungsleitstelle MRCC. In den ersten Wochen nach Einsatzbeginn haben diese beiden deutschen Schiffe Rettungseinsätze durchgeführt.

Es scheint aber, dass sie nicht mehr an der Frontlinie – also vor der libyschen Küste – sind, sondern sich bis auf weiteres an den Hafen von Catania auf Sizilien zurückgezogen haben. Sie sollen künftig wohl im Rahmen der Anti-Schlepper-Operation der EU aktiv sein, so verstehen wir jedenfalls Äußerungen des Verteidigungsministeriums. Die erste Aufklärungsphase der Anti-Schlepper-Mission, eine Operation namens Eunavfor-Med ist nun angelaufen.

Werden die Schiffbrüchigen deshalb sich selbst überlassen?

Nein. In der letzten Woche wurden etwa 500 bis 900 Menschen täglich gerettet und nach Italien gebracht. Daran sind aber wieder verstärkt italienische und zivile Handelsschiffe, die zufällig vor Ort sind, beteiligt. Gleichzeitig gibt es immer wieder Unglücke mit Todesfällen. Allein in der letzten Woche sind an zwei Tagen jeweils zwölf Menschen ums Leben gekommen. Diese alltäglichen Dramen verschwinden in den Nachrichten. Berichtet wird nur bei Unglücken mit Hunderten Toten. Aber auch, wenn die Rettungskapazitäten größer sind und schnell am Unglücksort ankommen, wird es immer wieder Tote geben, solange die Menschen gezwungen sind, solange es keine legalen sicheren Wege gibt.

Die EU hat im April vor allem auf einen Ausbau der Frontex-Mission Triton gesetzt. Nach langen Protesten hat sie auch deren Mandatsgebiet vergrößert. Hat das etwas gebracht?

Die Triton-Schiffe sind für uns unsichtbar. Sie haben ihre Kennungen in öffentlich zugängliche maritimen Ortungssystemen abgestellt. Wir gehen aber davon aus, dass Frontex mit seinen Schiffen in der Lage wäre, sich stärker an Rettungseinsätzen zu beteiligen, dies aber zivilen Akteuren überlässt. Anders ist die Situation, wie wir sie erleben, nicht zu erklären.

Wen meinen Sie?

Die Schiffe der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen, „Dignity One“ und „Bourbon Argos“, ein Schiff des MOAS-Projekts, das ein maltesisches Millionärsehepaar betreibt, und die Sea Watch, eine deutsche Initiative. Im Rahmen der Arbeit unseres Alarm Phones haben wir sehr frühzeitig von der „Sea Watch“ gehört, uns an ihren Vorbereitungen beteiligt und sie unterstützt. Es hat sich nun erwiesen, wie richtig und wichtig es war, dass diese Mission gestartet ist und sich durchgekämpft hat, mit ihrem kleinem Boot, trotz aller Zweifel und aller Kritik.

Weshalb?

Die „Sea Watch“ hat in den letzten Tagen Menschen gerettet, die sonst ums Leben gekommen wären. Am Samstag gab es einen besonders dramatischen Fall: Ein Boot mit über 100 Menschen an Bord sank, darunter schwangere Frauen und Kinder. Die „Sea Watch“ war das einzige Schiff in der Nähe. Es hat die Menschen versorgt, bis die Küstenwache kam und die Schiffbrüchigen übernommen hat. Auch am Tag davor gab es einen Rettungseinsatz und jetzt gerade, während wir sprechen, läuft wieder einer.

Die „Sea Watch“ hat nur Platz für acht Besatzungsmitglieder. Wie muss man sich so einen Rettungseinsatz vorstellen?

Es geht vor allem darum, Rettungsinseln aufzublasen und zu Wasser zu lassen, Schwimmwesten und Trinkwasser zu verteilen, damit die Menschen ausharren können, bis Hilfe kommt. Gerade ist ein Tanker unterwegs, weil keines der Schiffe von Triton vor Ort ist. Das ist für die Besatzung schwierig. Der Seebereich umfasst die Region vor der Küste Libyens, zwischen Zuwara im Westen und Misurata im Osten und etwa 150 Kilometer ins Meer. Da dauert es manchmal bis zu zehn Stunden, bis ein Unglücksort erreicht ist.

Wie erfahren die Helfer von Notfällen?

Die italienische Rettungsleitzentrale MRCC greift mittlerweile auch auf die „Sea Watch“ zu. Im erwähnten Fall von Samstag hat die MRCC einen Notruf erhalten und die „Sea Watch“ gebeten, an den Unglücksort zu fahren. In anderen Fällen, etwa heute, hat die „Sea Watch“ selbst mit Ferngläsern die Schiffbrüchigen entdeckt. Ein Video ihrer Einsätze der letzten Tage ist bei YouTube zu sehen. Dabei kam die italienische Küstenwache, in anderen Fällen wird mit den Schiffen von Ärzte ohne Grenzen kooperiert. Die sind groß genug, um die Schiffbrüchigen selbst aufzunehmen. Das Problem ist: Sie müssen dann nach Sizilien fahren, die Leute abladen und auftanken. Es dauert ein paar Tage, bis sie zurück sind.

Sie betreiben ein Alarmtelefon, an das sich Schiffbrüchige wenden können. Wie läuft diese Arbeit im Moment?

Wir melden Notfälle an die Rettungsleitstelle, haben aber auch enge Kooperation mit Ärzte ohne Grenzen und der „Sea Watch“. Wenn wir einen Anruf bekommen, klären wir, ob eines der Schiffe in der Nähe ist. Vor zwei Wochen war es etwa einer täglich, in der letzten Woche waren es fünf aus dem zentralen Mittelmeer. Zusätzlich bekommen wir Notrufe aus der Straße von Gibraltar und aus der Ägäis. Die Ankunftszahlen auf den griechischen Inseln sind immer höher geworden, die Versorgungslage dort ist hoch prekär. Wir bekommen nicht nur Anrufe von Menschen in Booten, sondern auch von solchen, die orientierungslos auf den Inseln ankommen.

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