04. Oktober 2013 · Kommentare deaktiviert für Fluchthilfe 1942: Verfolgt von Land zu Land – Rezension · Kategorien: FFM-Texte, Lesetipps

1942Der Titel dieser Kurzbesprechung beleuchtet nur einen Teil des Buchs von Insa Meinen und Ahlrich Meyer, das hier vorgestellt werden soll. Der Titel lautet „Verfolgt von Land zu Land. Jüdische Flüchtlinge in Westeuropa 1938 – 1944.“

Das Buch beruht auf umfangreichen Archivstudien in den Niederlanden, Belgien und Frankreich. Die in den Archiven ermittelten Daten, überwiegend „Judenregister“, Listen der Lagerverwaltungen und der Transporte, werden in zweierlei Weise bearbeitet: zum einen werden aus den Daten individuelle Geschichten von Fluchten und Fluchtversuchen rekonstruiert, dramatische Einzelschicksale, die letztlich doch fast alle in den Transporten nach Auschwitz enden. Wem die Flucht gelang, erscheint nicht auf den Listen. Zum anderen wird aus dem digitalen Abgleich dieser Archivbestände ein Forschungsansatz entwickelt, der nicht nur zu einer besseren quantitativen Abschätzung der beschrieben Flüchtlingsbewegungen führt – das mag etwas für Spezialisten sein. Sondern die Aufbereitung der Daten dient auch den Fragen: Wer waren die Flüchtlinge, Wer blieb zurück, Wie hoch ist die Dunkelziffer derer, deren Flucht erfolgreich war und nicht in den Transporten endeten? Wie sah die Landkarte der Fluchten aus?

Die Deutschen, auch in der nächsten Generation noch, stehen in der Pflicht, ihr Denken und Handeln auf dem Hintergrund des Holocaust zu reflektieren. Die aktuellen Bezüge des Buchs stehen zwischen den Zeilen, aber sie sind eindringlich für diejenigen, die sich mit der Flüchtlingsrealität heutzutage auseinandersetzen. Die Menschen in Syrien und die Migrantinnen, die das Mittelmeer zu überkreuzen versuchen, befinden sich in einer Bedrängnis, die der Schoah in ihrer systematischen Gnadenlosigkeit nicht vergleichbar ist. Aber in der Verzweiflung dieser Menschen spiegelt sich die Ausweglosigkeit der Juden in Westeuropa.

Das Buch von Insa Meinen und Ahlrich Meyer steckt voll von diesen Bezügen, in der Beschreibung von Bedrängnis, Verarmung, Illegalität und Internierungen, von gefälschten Papieren und Fluchtwegen. Nicht weniger aktuell muten die Beschreibungen an hinsichtlich der Strategien der Verwaltungen, den Flüchtlingen ihren Status so unbequem wie möglich zu machen, mit Demütigungen, Arbeitsverboten, Abschiebungen und Polizeiwillkür auf beiden Seiten aller Grenzen und Demarkationslinien. All dies liest sich wie eine Hintergrund-Doku zu Anna Seghers „Transit“.

Eine besondere Erwähnung verdienen indes nicht nur die – kommerziellen und nicht-kommerziellen – Unterstützerinnen und Fluchthelfer. Der Fluchthilfe und den falschen Papieren ist ein eigenes Kapitel gewidmet.  Besonders gewürdigt wird auch die Arbeit der Polizei- und Grenzbeamten, insbesondere die jungen Deutschen, die an den Grenzen postiert waren und die sich das Aufspüren der Flüchtigen geradezu zum Sport machten. Ahnten oder wussten sie, dass auf die Festnahme mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der Transport in den Tod folgen würde?

Was dieses Buch, neben all dem, wichtig macht, ist, dass es, im Detail und in der quantitativen Analyse, den Fluchtbewegungen in Westeuropa ein Denkmal setzt als Überlebensstrategie und als eine verzweifelte Form des Widerstands. Diese Fluchtbewegungen waren, neben den Aufständen im Ghetto und in Auschwitz, neben der jüdischen Résistance und neben anderem mehr, ein großes und wichtiges Moment des jüdischen Widerstands in Europa, mit einer Breite und Tiefe, die jedem Gerede von den Lämmern und der Schlachtbank entgegen stehen. Hannah Arendt, die selbst in der Flüchtlingshilfe in Frankreich aktiv war, konnte soziale Bewegungen und Flucht nicht als Widerstand denken, wohl auch, weil das Böse so übermächtig war.

„Aber Fluchtbewegungen, selbst wenn sie unter Gewalt und Zwang erfolgen, verweisen immer auch auf das Handeln von Menschen, die ihre eigene Geschichte haben. Es ist heute – vor allem in Deutschland – nur unzureichend bekannt, mit welchen Überlebensstrategien die jüdische Bevölkerung auf Verfolgungen, Razzien und Deportationen reagierte, welche Anstrengungen unzählige ’namenlose‘ Juden unternahmen, um dem geplanten Genozid zu entkommen. Dazu gehören das massenhafte ‚Untertauchen‘, der Gang in die Illegalität, das Verstecken von Kindern und nicht zuletzt Fluchten von einem Land in ein anderes…

Ohne jüdische Gegenwehr sähe die Statistik des Todes anders aus. Über die Hälfte der 13.000 Flüchtlinge, denen es gelungen war, sich aus Deutschland und Österreich nach Belgien zu retten, überlebte die Besatzungszeit … Zehntausende von Juden, Männer, Frauen und Kinder, gingen ab 1942 in den Untergrund, Tausende flohen innerhalb Westeuropas, während die Deportationszüge bereits nach Osten fuhren“. (S.279 f.)

Insa Meinen, Ahlrich Meyer, Verfolgt von Land zu Land. Jüdische Flüchtlinge in Westeuropa 1938 – 1944,  Paderborn (Ferdinand Schöningh) 2013. 332 S., 39,90 €

Fluchthilfe 1942 (pdf)

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