Asef Bayat
Leben als Politik. Wie ganz normale Leute den Nahen Osten verändern. Aus dem Englischen von Karl Hoffmann
Berlin/Hamburg: Assoziation A 2012; 253 S.; pb., 18,- €; ISBN 978-3-86241-417-8
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Der Titel ist Programm – politisch wie heuristisch, denn in seiner Ausdeutung des Arabischen Frühlings tritt Asef Bayat der Vorstellung entgegen, in den betroffenen Staaten sei eine klassische, zielgerichtete Erscheinungsform einer neuen sozialen Bewegung am Werk. Stattdessen sieht er im Nahen und Mittleren Osten ein „alltägliches Vordringen“ (73) individueller Handlungsmuster. Konkurrieren die Individuen dann mit dem Staat um die Straße, wandelt sich ihr Handeln in ein politisches – im Sinne von kollektiv, öffentlich sichtbar, wirkungsmächtig: „Zwei zentrale Faktoren machen die Straße zu einem Schauplatz der Politik: Der erste besteht darin, dass der Gebrauch des öffentlichen Raumes zwischen den AkteurInnen und den Behörden umstritten ist. […] Der zweite Faktor ist das, was ich die ‚passiven Netzwerke’ genannt habe“ (76)
Hierunter versteht Bayat die Nutzung latent vorhandener Kommunikations‑ und Kooperationsoptionen ansonsten unvermittelt nebeneinanderher lebender Individuen. Diese spontane Potenzialität einer „postmodernen Revolte, die sich ausbreitet, führungslos und ohne klare Ideologie“ (223), definiert er als eine Mischform von Reform und Revolution. Diese „Refo‑lution“ (10) erzeugt ihrerseits eine Situation permanenter Unsicherheit und Widersprüchlichkeit zwischen „nationaler Erneuerung, Hoffnung, Freiheit und Furchtlosigkeit [… sowie] ständiger Ungewissheit, sektiererischen Zwistigkeiten und konterrevolutionären Intrigen“ (237). Die Folgen dieser in ihrer Mehrheit – so Bayats Einschätzung – auf demokratische Veränderungen abzielenden, dennoch aber atomisierten und spontanen Proteste lassen sich dabei, so sein vorläufiges Fazit, noch gar nicht abschätzen. Und so sehr man ihm in dieser Einschätzung zustimmen möchte – der Wandlungsprozess im Nahen und Mittleren Osten ist offensichtlich alles andere als abgeschlossen –, so wenig greifbar erscheint trotz allem seine Analyse, die das einzelne Subjekt zum zentralen Motor des Wandels erklärt, dies aber methodologisch nicht einlöst, sondern immer wieder auf die großen Linien revolutionärer Geschichtsschreibung rekurriert. Trotz allem bietet der Band eine spannende und eben auch ehrliche, weil nach wie vor unfertige Sicht auf den Arabischen Frühling.
Matthias Lemke (LEM)
Dr. phil., Politikwissenschaftler (Soziologe, Historiker), wiss. Mitarbeiter, Institut für Politikwissenschaft, Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.
Empfohlene Zitierweise: Matthias Lemke, Rezension zu: Asef Bayat: Leben als Politik. Wie ganz normale Leute den Nahen Osten verändern. Aus dem Englischen von Karl Hoffmann, Berlin/Hamburg 2012, in: Portal für Politikwissenschaft, http://www.pw-portal.de/index.php?option=com_lqm&query=6&Itemid=2&task=showresults&ID_Buch_Link=43136, veröffentlicht am 21.02.2013,