18. Februar 2013 · Kommentare deaktiviert für Syrien: „Krieg wirft Syrien um 20 Jahre zurück“ · Kategorien: Syrien · Tags: ,

NZZ 16.02. 13

„Der Krieg wirft Syrien um 20 Jahre zurück. Studie beziffert negative Folgen der Gefechte für die syrische Wirtschaft

Der Krieg in Syrien zwingt die Wirtschaft des Landes in die Knie. Sanktionen, der Abfluss von Geldern und Know-how sowie die Zerstörung der Infrastruktur haben das Bruttoinlandprodukt im Vergleich zu 2010 um 81,7% einbrechen lassen.

Astrid Frefel, Kairo

Vor wenigen Tagen hat Marwa al-Aitouri Alarm geschlagen. 70% der syrischen Geschäftsleute hätten das Land verlassen, erklärte das Vorstandsmitglied der Handelskammer von Damaskus. Das syrische Zentrum für Politik-Forschung (SCPR) hat in Zusammenarbeit mit Ökonomen ausländischer Universitäten nun in einer Studie die wirtschaftlichen Auswirkungen von 22 Monaten Krise dargestellt. Es beziffert den Verlust für die Wirtschaft auf 48,4 Mrd. $. Das entspricht 81,7% des Bruttoinlandproduktes (BIP) von 2010. Die Börse in Damaskus hat 55% ihrer Marktkapitalisierung und das syrische Pfund gegenüber dem Dollar etwa die Hälfte an Wert verloren. Der Abwärtstrend ist nicht linear, er beschleunigt sich mit der Dauer der Krise.

Verschiebungen bei Sektoren

Vor dem Ausbruch des Aufstandes im März 2011 war das makroökonomische Fundament relativ stabil und das durchschnittliche Wachstum in den vergangenen zehn Jahren mit 4,45% relativ hoch. Es gab aber auch eine lange Liste von chronischen Problemen: zu wenige neue Arbeitsplätze, steigende Einkommensunterschiede, niedrige Produktivität, ineffiziente Institutionen, viel Schwarzarbeit, fehlende Transparenz des öffentlichen Sektors sowie grassierende Korruption und Monopole in vielen Bereichen, die von einem kleinen Kreis von Regime-Getreuen beherrscht werden. Die Verluste verteilen sich ganz ungleichmässig und führen zu einer Veränderung der Wirtschaftsstruktur. 83% der Einbussen entfallen auf die vier Sektoren interner Handel, Transport, Fabrikation und Bergbau. Relativ klein war der Einbruch in der Land- und in der Bauwirtschaft. Ein Bauboom vor allem am Anfang der Krise ist ein Phänomen, das in allen Ländern des arabischen Frühlings zu beobachten ist. Die Leute nützen die Schwäche der Bürokratie aus, um ohne Bewilligungen zu bauen. Begünstigt durch gute klimatische Bedingungen, hat die Bevölkerung auf dem Land den Anbau von Lebensmitteln intensiviert und brachliegende Flächen wieder genutzt, um Getreide, Oliven und Baumwolle zu pflanzen. Im Laufe des Krieges wurde der Jahrzehnte andauernde Trend der Landflucht in die Städte Damaskus und Aleppo nicht nur gestoppt, es ist sogar eine Rückwanderung aufs Land zu beobachten.

Schmerzliche Sanktionen

Das Wachstum der letzten zehn Jahre wurde zu 85% vom Dienstleistungssektor und von einem spekulativen Immobilienboom gestützt. Die Politik der wirtschaftlichen Öffnung führte zu einem Aufschwung im Handel- und im Finanzsektor sowie bei Mobiltelefonen. In diesen Branchen sowie bei Hotels und Restaurants war der grösste Wirtschaftseinbruch zu verzeichnen. Sie sind besonders arbeitsintensiv und haben wesentlich zum Verlust von 1,468 Mio. Arbeitsplätzen beigetragen. Die Arbeitslosenrate in Syrien ist von 10,6% auf 34,9% gestiegen. Einen einschneidenden Effekt hatten die Wirtschaftssanktionen der EU und der USA. Sie zogen Verluste von 6,8 Mrd. $ nach sich, davon entfielen laut Studie 3,9 Mrd. $ oder fast 60% auf den Erdölsektor. Das Ölministerium hatte kürzlich die Verluste sogar mit 6,3 Mrd. $ angegeben. Die Exporte in die EU brachen um 93%, jene in die Türkei um 82% und jene in die arabischen Länder um 57% ein. Die Konsequenzen für die Zahlungsbilanz und die Devisenreserven waren dramatisch. Diese sind von 18 Mrd. $ im Jahr 2010 auf jetzt rund 2 Mrd. $ geschrumpft.

Rückkehr zum Tauschhandel

Die Regierung hat reagiert und will künftig Handel nach dem in anderen Ländern praktizierten Muster «Erdöl gegen Nahrungsmittel» betreiben. Sie hat ein entsprechendes Protokoll unterzeichnet, das den Tauschhandel mit ausländischen Partnern regelt. Auf diese Geschäfte sollen sich vor allem «befreundete» Länder wie Russland, China, Iran, der Irak oder Indien einlassen. […]  Eine widersprüchliche Wirtschaftspolitik und populistische Massnahmen, wie Lohnerhöhungen und eine Aufblähung des Staatsapparates, hätten zu Verunsicherung in der Geschäftswelt und einem Ausbleiben von Investitionen geführt, hält die Studie fest. Die Fabrikation weist ein Minus von 76% aus. Schuld sind die zerstörte Infrastruktur, Plünderungen, die Ermordung von Managern, Sanktionen, Importrestriktionen und die Energieknappheit. Hunderte Unternehmen haben ihre Ausrüstung innerhalb des Landes oder über die Grenzen transferiert. Viele der syrischen Geschäftsleute, die ihrer Heimat den Rücken gekehrt haben, sind nun in Ägypten oder in Dubai. Der Exodus hat sich in den vergangenen drei Monaten noch verstärkt. Die Investitionen syrischer Geschäftsleute werden allein in Ägypten auf über 500 Mio. $ geschätzt.“

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