19. August 2016 · Kommentare deaktiviert für „Flüchtlinge : Die Schweiz macht dicht“ · Kategorien: Italien, Schweiz

Quelle: Zeit Online

Diese Flüchtlinge möchten eigentlich nach Deutschland reisen. Doch die Schweizer Behörden lassen sie nicht durch. Also stranden sie in Norditalien. Ein Besuch am Bahnhof von Como

Von Sarah Jäggi, Como

So nah war die Flüchtlingskrise der Schweiz noch nie. Neun Kilometer. Oder neun Minuten. So lange dauert die Fahrt im Regionalzug von der Grenze in Chiasso bis zum Bahnhof San Giovanni in Como. Montagmorgen, es ist kurz vor sieben Uhr. Auf dem rot gekachelten Boden liegen die Menschen in zwei Reihen, Körper an Körper. Sie schlafen unter dem Vordach der Bahnhofshalle, in Nischen und Ecken, auf dem Perron von Gleis eins und auf der anderen Seite vom Piazzale San Gottardo, an welchem der Bahnhof liegt. 400 Menschen zählte die Polizei in der vergangenen Nacht.

Seit einem Monat endet in Como die Flüchtlingsroute übers Mittelmeer. Eritreer, Somalis und Äthiopier stranden im norditalienischen Touristenstädtchen. Sie wollen in die Schweiz oder nach Deutschland oder Skandinavien – aber kommen nicht weiter. Seit Anfang des Jahres schickten die Schweizer Grenzwächter bereits mehr als 8.000 Menschen nach Italien zurück; das sind doppelt so viele wie im gleichen Zeitraum vor einem Jahr.

Die Schweiz macht dicht.

Ein Mann reckt sich, setzt sich, klaubt eine Zahnbürste aus einem Plastiksack, eine Tube Zahnpasta. Putzt sich dann die Zähne, auf der Piazzale, während die Einheimischen auf den Zug eilen oder ihren Hund Gassi führen. Privatsphäre? Gibt es hier nicht. Infrastruktur? Kaum vorhanden, bis auf vier rote Plastiktoiletten und ein paar gespendete Campingzelte. Die Flüchtlinge essen auf dem Boden oder auf einer Treppe vor dem Bahnhof. Am kleinen Brunnen im Park waschen sie sich und ihre Kleider.

„Was ist passiert in der Schweiz?“, fragt Gena Gebu. Der 26-jährige Lehrer aus Äthiopien ist durch den Nordsudan und Libyen übers Meer nach Italien geflohen. Dort wurde er als Asylsuchender registriert. Gemäß dem Dublin-Abkommen kann er deshalb nur in Italien ein Asylgesuch stellen und darf von jedem Land, das den Dublin-Vertrag unterschrieben hat, zurückgeschickt werden. Also auch von der Schweiz.

Doch in Italien zu bleiben ist für ihn und viele andere keine Option. „Es heißt, die Migranten, auch wenn sie bleiben dürfen, leben auf der Straße, in Lagern, ohne Unterstützung“, sagt Gebu. Das wolle er nicht. Er hat in Äthiopien eine Familie zurückgelassen, eine neun Monate alte Tochter, er will Geld für sie verdienen, arbeiten: „Eines Tages vielleicht sogar als Lehrer.“

Zwei Tische gibt es im Flüchtlingslager in Como. An einem laden die Gestrandeten ihre Handys auf. Eine halbe Stunde, dann ist der Nächste dran. Strom liefert ein Benzinaggregat. Hinter dem anderen Tisch steht Xaver. Man duzt sich im Park von Como und spricht englisch. Es sei denn, man merkt, dass man sich auf Schweizerdeutsch noch besser versteht. Der Student aus Bern verteilt Kleider, die täglich ins Lager gebracht werden. Während er spricht, sortiert er: Hemden zu Hemden, Hosen zu Hosen, T-Shirts zu T-Shirts. Hier die Männer, da die Frauen. Unterwäsche separat in einem Plastiksack. „What are you looking for?“, fragt er den jungen Mann, der sich dem Tisch nähert.

Xaver ist einer der vielen Freiwilligen, die im improvisierten Lager mithelfen, damit die Flüchtlinge das Nötigste bekommen: dreimal am Tag etwas zu essen. Decken für die Nacht. Informationen. Er wolle bleiben, solange man ihn brauche, und mit seinem Einsatz ein Zeichen setzen: „Dass das, was an der Schweizer Grenze passiert, nicht in meinem Namen geschieht.“

Aber was passiert eigentlich dort, an der Grenze in Chiasso? Und vor allem: Was hat sich geändert, sodass in Como eine Situation entstanden ist, welche die Schweizer Justizministerin Simonetta Sommaruga „schwer erträglich“ nennt? Sie sprach von Zuständen, die es in Europa nicht geben dürfe.

Doch Como gibt es, und die Schweiz ist mit dafür verantwortlich.

Dabei tun die Schweizer Grenzwächter im Grunde nur, was sie seit 16 Jahren tun dürfen: Wer die Einreisebestimmungen nicht erfüllt, wird „konsequent“ zurückgeschickt. Das sagt die Eidgenössische Zollverwaltung (EZV) auf Anfrage der ZEIT. Von einer Praxisänderung, wie einige Medien, Flüchtlingsaktivisten und linke Politiker vermuteten, könne keine Rede sein.

„Ich glaube nicht an Grenzen“

Das ist vermutlich auch gar nicht nötig. Miriam Behrens, Direktorin der Schweizerischen Flüchtingshilfe (SFH), geht davon aus, dass die „Personenkontrollen an der Grenze intensiviert wurden“. Gibt es also einfach mehr Personal in Chiasso, damit keiner das Land betritt, der gemäß Dublin-Abkommen kein Recht dazu hat? „Das Schweizer Grenzwachtkorps macht aus einsatztaktischen Gründen grundsätzlich keine Angaben zum Personaleinsatz“, lautet kurz und knapp die Antwort der EZV.

Sicher ist, das Grenzregime in Chiasso funktioniert nur, wenn die italienischen und die Schweizer Behörden kooperieren. Das war nicht immer so. Doch im Juli lobte Bundesrat Ueli Maurer, oberster Verantwortlicher der Grenzwache, gegenüber 10vor10 die Zusammenarbeit mit den italienischen Behörden. „Sie sind am Grenzübergang Chiasso nun viel präsenter. Deshalb können wir die Flüchtlinge sofort ‚rücküberstellen‘. Früher waren die italienischen Behörden nur halbtags und während der Woche am Grenzübergang stationiert.“

In Como verteilt ein junger Mann, kurze Haare, schwarze Brille, Flugblätter an die Touristen, die ihre Rollkoffer durch das Flüchtlingscamp in die Altstadt ziehen. Die stehen bleiben und zusehen, wie die Flüchtlinge Fußball spielen, telefonieren oder einfach nur warten. „Letter to the town“ steht auf dem Flyer. Ein langer Text, verfasst im Namen der „Frauen, Männer, Mädchen, Jungen und Kinder vom Bahnhof San Giovanni in Como“. Ein Appell an die Menschlichkeit und die Solidarität, aber auch eine große Anklage: dass die Flüchtlinge bei ihrer Ankunft in Italien zwar registriert wurden, aber nicht darüber aufgeklärt worden seien, was das bedeute. Dass ihnen mit einem Fingerabdruck die Möglichkeit genommen worden sei, sich frei zu bewegen – und selbst zu entscheiden, wo sie ihr Asylgesuch stellen wollen. „Now, we are stuck at the swiss border.“ Der Text endet mit dem Aufruf, Flüchtlinge wie Menschen zu behandeln: „Wir haben so oft versucht, über die Grenze zu kommen. Im Zug, in Bussen, zu Fuß durch Wälder, aber sie fingen uns ein wie Tiere.“

Der Aktivist bringt die Zettel unter die Leute. Auch er arbeitet freiwillig hier. „Ich glaube nicht an Grenzen“, sagt er. „Die Menschen, die hierherkommen, sind so alt wie ich, dürfen aber nicht rüber in die Schweiz – bloß weil sie einen falschen Pass in der Hosentasche haben. Ich aber war schon tausendmal da, und sei es nur für eine Party.“

Im Park von Como prallt das No-Border-Denken der europäischen Jugend auf die harte Realpolitik.

Ahmed, 18, aus Guinea steht auf dem Perron von Gleis drei. Ohne Ausweis und ohne Tasche. In einer halben Stunde geht der nächste Zug nach Chiasso. Er will es wieder versuchen, zum zweiten Mal, rüber in die Schweiz.

Eben noch stand er für das Mittagessen in der langen Warteschlange. Helferinnen mit leuchtend gelben Westen schöpften ihm das Essen in einen Plastikteller: Risotto. Dazu Brot, Apfel, Banane. So desolat die Lage in Como, die Stimmung ist erstaunlich ruhig. Und friedlich. Laut wird es nur einmal, als ein Tourist seine Kamera auf die Flüchtlinge hält. Das „Stopp!“ kommt so selbstbewusst wie unmissverständlich. Während die Caritas für das Frühstück verantwortlich ist, kümmern sich die Freiwilligen des privaten Tessiner Hilfswerkes Firdaus um das Mittagessen. Die Mitarbeiter führen Buch über jene, die an der Schweizer Grenze abgefangen wurden und wieder zurück nach Como gelangten. Sie berichten von Fällen, da Minderjährige widerrechtlich nach Italien zurückgeschafft wurden, obwohl sie Verwandte in der Schweiz haben – oder ein Asylgesuch stellten.

Die Grenzwache sei sich bewusst, dass Minderjährige einen besonderen Schutz bräuchten, heißt es bei der EZV. „Deshalb sind minderjährige Migranten bis zur Übergabe an eine andere Behörde jederzeit begleitet und betreut sowie unter Aufsicht des Grenzwachtkorps.“ Die Flüchtlingshilfe will sich selbst davon überzeugen und ist in diesen Tagen in Como unterwegs. Auch Schweizer Politiker reisen nach Norditalien, darunter Alt-Bundesrätin Ruth Dreifuss. „Aus unserer Sicht“, sagt SFH-Direktorin Miriam Behrens, „ist jede Rückweisung von Minderjährigen ohne vorherige Kindeswohlprüfung widerrechtlich – unabhängig davon, ob ein Jugendlicher bereits in Italien registriert worden ist oder nicht.“

Die Sonne scheint gleißend auf das Perron. Der Regionalzug fährt ein. Ahmed setzt sich in ein Abteil. Als ob nichts wäre. Als ob nichts dabei wäre, seit bald drei Jahren allein unterwegs zu sein. Auf der Flucht vor Armut, Perspektivlosigkeit, Unsicherheit. Als ob nichts dabei wäre, allein zu reisen mit nichts als dem, was er auf dem Leib trägt. Ein leuchtend rotes T-Shirt. Jeans. Flipflops. Er spricht leise auf Französisch. Ja, er werde in der Schweiz um Asyl bitten.

Chiasso. Endstation. Ahmed steigt aus, drei Grenzwächter schreiten ihm entgegen. Bitten ihn, mitzukommen. Freundlich, aber bestimmt. Das Regime funktioniert.

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