10. Juni 2018 · Kommentare deaktiviert für „Es gibt immer keinen Weg“ · Kategorien: Balkanroute, Serbien, Ungarn · Tags:

derFreitag | 31.05.2018

Serbien Ein Pakistaner sitzt seit mehr als zwei Jahren an der Grenze zu Ungarn fest, die er vergeblich zu überqueren versucht

Klaus Petrus

Hörst du sie?“ Amar hält sich den Finger an die Lippen. „Wer sich dem Zaun nähert, wird verhaftet! Geht zurück! Ihr seid hier nicht willkommen!“, tönt es aus dem Lautsprecher. „Jede Stunde bellt diese Stimme. Tag und Nacht. Als wären wir taub.“ Amar blickt über das Feld, 300 Meter sind es bis zur ungarischen Grenze. Er weiß, wie es drüben aussieht, er war schon oft dort. Die gleiche Leere wie hier, aber eben drüben.

Seit September 2017 haust Amar mit mehr als drei Dutzend anderen Pakistanern in einem verfallenen Getreidelager, eine knappe Stunde vom serbischen Grenzort Horgos entfernt, und wartet. Manchmal kramt er ein zerfleddertes, rosafarbenes Notizheft hervor und schreibt ein paar Zeilen: 22. Februar 2018, Horgos. Bismillahir rahmanir rahim, im Namen Allahs, des Gnädigen, des Barmherzigen. Jeden Tag schaue ich zur Grenze hinüber. Was soll ich meiner Familie sagen, meinem Vater? Er hat alle Hoffnung in mich gesetzt, hat alles Geld in mich investiert. Der Wind weht durch das Mauerwerk ins Innere des Gebäudes, Amar zieht sich die Decke über und will schlafen.

Leben im Unterholz

Horgos, Mitte September 2015: Es lag eine bedrückende Stille über dem serbischen Dorf, werden die Medien später berichten. Bis ungarische Polizisten auftauchten und die Menschenmenge, einige hundert Syrer und Pakistaner, hinter den neuen Zaun drängten. „Ihr seid hier nicht willkommen!“, schrien sie in ihre Megaphone. Dann brach Chaos aus, es flogen Steine, Tränengas wurde abgeschossen, es wurde getreten, und geknüppelt. Bald gingen die Bilder um die Welt. Und Viktor Orbán, Ungarns Premier, verkündete: „Ich setze nur um, was mein Volk will. Ungarn bleibt migrantenfrei.“

Etwa zur gleichen Zeit beschließt Amar, mit dem Segen seines Vaters nach Westen aufzubrechen. Er will weg aus Waziristan, dieser Bergzone voller Taliban im Nordwesten Pakistans, das der einstige US-Präsident Barack Obama einmal die »gefährlichste Region der Welt« genannt hatte. Amar will nach Europa, hat er doch in den Nachrichten von der „Willkommenskultur“ in Deutschland gehört. Deutschland, das klingt wie Amerika, denkt sich Amar. Jeder darf tun, was er will, hat Arbeit, fährt ein Auto. Aber Deutschland ist weit. Auf einen Zettel schreibt Amars Vater die Namen von Ländern: Iran, Türkei, Griechenland, Mazedonien, dann immer nordwärts in Richtung Österreich, Deutschland und Merkel.

Als Amar aufbrach, war Orbán längst gerüstet. In den Sommermonaten des Jahres 2015 ließ er in ganz Ungarn Plakate aufhängen, auf denen Migranten zu einer Gefahr für die „christliche Identität Europas“ erklärt wurden. Wenig später setzte er im Parlament ein neues Einwanderungsgesetz durch und ließ an der Grenze zu Serbien einen Zaun errichten, 175 Kilometer lang und drei Meter hoch. Proteste gab es kaum. Im Gegenteil, Orbán baute einen zweiten Grenzzaun. Als dann im März 2016 die Balkanroute geschlossen wurde, sah sich seine Regierung in ihrer rigiden Flüchtlingspolitik bestätigt. Tatsächlich ging danach die Zahl der Geflüchteten, die nach Deutschland wollten, massiv zurück. Kamen 2015 insgesamt 759.000 Asylsuchende über die bayerische Grenze, waren es 2016 noch gut 155.000.

Amar kommt im Februar 2016 über Iran und die Türkei auf die griechische Insel Lesbos. Dass sich die Schließung der Balkanroute auch hier bemerkbar macht – es kamen jetzt nur noch wenige hundert Menschen pro Monat an, zuvor Zehntausende –, stört Amar nicht. Das erhöht bloß meine Chance auf ein Schlupfloch, denkt er sich. Zu jener Zeit führt er in seinem kleinen, rosafarbenen Notizheft ein Tagebuch und notierte alle Ausgaben für die Schlepper: 3. Oktober 2015: Araber M., Lastwagen, Iran: 170.000 Rupien (1.200 Euro). Eine Menge Geld, weiß Amar. Doch jetzt ist er endlich in Europa, und Deutschland scheint nur noch einen Steinwurf entfernt zu sein.

So ist Amar voller Zuversicht, als er im März 2016 in Belgrad eintrifft. Dass sich die Balkanroute nicht mehr passieren lässt, hält ihn nicht davon ab, es erst recht zu versuchen. Immer mehr Geflüchtete harren jetzt in Serbien aus. Und so geschieht, was sich bereits im Herbst 2015 abgezeichnet hat, als die Grenze nach Ungarn plötzlich dicht war – die Menschen sitzen in einer Sackgasse fest.

Auch dieses Land verarmt

Schätzungen zufolge haben zwischen 2014 und 2018 mehr als drei Millionen Flüchtlinge Serbien durchquert. Weniger als 2.000 beantragten Asyl, denn große Teile Serbiens sind verarmt. Mit der Privatisierung von Staatsunternehmen verloren viele ihre Jobs und gingen ins Ausland. Mit sieben Millionen Einwohnern zählt das Land heute eine halbe Million weniger als 2008.

Als Amar am 17. März 2016 in Belgrad in den Bus nach Subotica an der serbisch-ungarischen Grenze steigt, schreibt er in sein Heft: Es gibt immer einen Weg. So Gott will. In den kommenden Monaten wandert er durch Serbien, marschiert tagelang über Feldwege oder an Gleisen entlang, er lebt im Unterholz oder in verfallenen Gebäuden irgendwo in der Pampa. Und er trifft auf Schlepper, die ihm schon wieder das Gelobte Land Europa versprechen. Sie wollen 4.500 Euro für die Tour Serbien-Ungarn-Österreich. Und zum ersten Mal denkt Amar: Wenn das nur gut geht! Tatsächlich hält die ungarische Polizei an der Grenze gezielt Ausschau nach Flüchtlingen, die versuchen, illegal nach Ungarn zu wechseln. Als im Sommer 2016 Gerüchte von gewalttätigen „Grenzjägern“ kursieren und immer mehr Bilder von aufgeschlagenen Lippen und Blutergüssen an Beinen und Armen von Geflüchteten auftauchen, werden die Vorfälle von Organisationen wie Oxfam, Human Rights Watch oder Médecins Sans Frontières (MSF) untersucht und bestätigt. Seitens der ungarischen Regierung gibt es keine offizielle Stellungnahme. Sie lässt nur verlauten, Organisationen wie MSF würden mit dem ungarisch-amerikanischen Milliardär George Soros kooperieren, dem es bloß um ein lukratives Business mit der Migration gehe. Nachdem auch Amar von den „Grenzjägern“ aufgegriffen wird, meinen andere Geflüchtete bloß, das sei normal und gehöre zum „Game“, wie sie den Versuch nennen, unbemerkt die Grenze zu überqueren. Also steckt Amar die Prügel ein und rüstet sich fürs nächste Spiel, mal mit Schlepper, meistens ohne. Zweimal, fünfmal, neunmal, man redet schon scherzhaft von „Tausendundeiner Flucht“. Ende 2016 hört Amar mit dem Zählen auf. Er ist müde, will nur noch schlafen.

Belgrad, Ende 2016, hinter dem Busbahnhof: Bei Minustemperaturen hausen hier gut anderthalbtausend Geflüchtete in heruntergekommenen Barracken, verzweifelt, verloren, allein. Bis Journalisten nach Serbien kommen, um über das Schicksal der jungen Männer zu schreiben. Die Fotos zeigen traurige Gesichter, Menschen in graue Decken gehüllt, dahinter ein Feuer, das aus einer Mülltonne lodert. Die Bilder gehen um die Welt. „Damals haben wir gelernt, euch die Geschichten zu erzählen, die ihr hören wolltet, denn wir hofften auf Hilfe«, sagt Amar heute.

Doch bald sind die Journalisten verschwunden, Weihnachten kriecht an Amar und seinen Freunden vorbei, das neue Jahr hat begonnen, und es tut sich nichts. Als Anfang März 2017 die Lagerhallen hinter Belgrads Busbahnhof geräumt und bald darauf abgerissen werden, berichtet darüber kaum noch jemand. Plötzlich sei die serbische Polizei aufgetaucht, erzählt Amar, und man musste packen und sich in eine Liste eintragen. Tags darauf geht es in den Nordosten nach Adaševci in ein Camp bei Šid, das bereits hoffnungslos überfüllt ist, eines von 17 staatlichen Lagern, in denen sich Flüchtlinge registrieren lassen können, falls sie auf Unterstützung der serbischen Regierung hoffen. Doch Amar will nicht registriert werden. Wer sich in Serbien polizeilich erfassen lässt, so hat er gehört, wird an Ungarn als Kandidat für die Weiterreise gemeldet.

Seinerzeit dürfen etwa 40 Personen am Tag auf Geheiß der ungarischen Regierung einreisen; heute sind es noch zwei. Dann lieber auf eigene Faust, denkt Amar. Also schleicht er sich mit anderen fort. Man steigt in einen Bus nach Subotica, zehn Kilometer von der ungarischen Grenze entfernt. Es ist der 10. März 2017.

Erst nach einigen Tagen fällt Amar auf, dass er schon vor einem Jahr an diesem Ort war. Und er bleibt wieder dort, diesmal für sieben Monate. Zeitweise harren an die 200 Geflüchteten, verteilt auf die drei zerfallenen Gebäude einer alten Ziegelei aus – ohne Wasserleitung, ohne Toiletten, ohne Strom. Decken, Kleider und Essen gibt es von lokalen Helfern oder man muss sich selbst helfen. Auszug aus Amars verschmutztem Heft: Im Namen Allahs, des Gnädigen, des Barmherzigen. Subotica, ein Tag gleicht dem anderen. Wir kochen lange, reden wenig, wir spielen Volleyball, chatten, schlafen, träumen. Wobei sie weniger werden, die Träume. Dafür werden die Nächte länger, die Tage auch.

Unter diesen Zeilen steht wieder eine Liste mit Ausgaben für die Schlepper: Serbien-Ungarn-Österreich: 5.500 Euro. Amar plagt das schlechte Gewissen. Er sollte umkehren. Noch mehr plagt ihn, was er seiner Familie nach Hause bringt: die Scham.

Man könnte annehmen, dieser Mann ist Mitte 30. Dabei ist Amar gerade 21 geworden. Derzeit wohnt er mit anderen Pakistanern in einem verfallenen Backsteinhaus, eine halbe Stunde von Horgos entfernt. Sie bereiten das Essen zu, Linsen, zerteiltes Huhn, dazu gibt es Fladenbrot. Die Luft ist stickig, im Feuer verbrennt Plastik. Amar schlurft nach nebenan, er hängt Wäsche auf, klagt über Müdigkeit und sagt, dass er eigentlich nur noch schlafen wolle.

Manchmal kramt der junge Mann aus Waziristan den Zettel hervor, den ihm sein Vater vor so langer Zeit mit auf den Weg gab. Darauf war die Route verzeichnet – Iran, Türkei, Griechenland, Mazedonien, dann ein dicker Pfeil nach Österreich und Deutschland. An diesem Pfeil liegt Serbien, denkt sich Amar. Und irgendwo dort oben Subotica. Und eine Haaresbreite daneben, der kleine Punkt, das müsste dann Horgos sein, dieses Dorf nahe der ungarischen Grenze.

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