05. Juni 2018 · Kommentare deaktiviert für Obdachlose Migranten in Italien: Die Unsichtbaren · Kategorien: DT, Italien, Schengen Migration

Spiegel Online | 05.06.2018

Italien ist überfordert, Europa schaut zu: Tausende Zuwanderer leben zwischen Piemont und Sizilien obdachlos auf der Straße. Wie Amadou Dienta aus Mali, dem kaum mehr bleibt als ein zu großer Anzug und viel Verzweiflung.

Von Peter Maxwill

Amadou Dienta gießt dampfendes Wasser auf die zwei Kräuterteebeutel in seinem Plastikbecher. Ganz langsam, als hätte er alle Zeit der Welt. Dann schaut er aus dem Fenster auf die graue Vorstadtkulisse von Mailand und beginnt einen Monolog. Über seine Flucht aus Mali, über das Leben in Italien, über die Welt aus der Perspektive eines weitgereisten Wohnungslosen.

„Ich würde gerne nach Deutschland zurück“, sagt der 21-Jährige, „sobald ich das Geld dafür habe.“ Es habe ihm gut dort gefallen, vor allem im Süden, in München und Rosenheim. Aber irgendwie habe das Schicksal ihn dann nach Italien gespült, nach Mailand, in die Perspektivlosigkeit. Nun steht er im Tageszentrum einer Hilfsorganisation für Flüchtlinge, dem „Centro Naga Har“.

Dann trinkt er den Tee in einem Zug aus.

Dies ist nicht die Geschichte eines gescheiterten Asylbewerbers, sondern die eines gescheiterten Asylsystems. So wie Amadou Dienta leben Tausende Zuwanderer in Italien auf der Straße. Manche halten sich bewusst von den Behörden fern, für andere ist schlichtweg kein Platz in den öffentlichen Einrichtungen. Was passiert mit diesen Menschen? Und was mit der Gesellschaft, in deren Zwischenräumen sie wie Unsichtbare leben?

Ein einziges Kleidungsstück

Der obdachlose Malier Dienta ist ein freundlicher junger Herr, der in einer anderen Welt vielleicht Geschäftsreisender wäre. Er trägt einen dunklen, etwas zu großen Anzug und ein akkurat getrimmtes Bärtchen, er erzählt von seinen Aufenthalten in Ländern wie Österreich, Marokko, Spanien und der Schweiz. Aber in all diesen Ländern war er lediglich als Flüchtling, und der überdimensionierte Anzug ist sein einziges Kleidungsstück.

Dienta sagt, er sei von München aus in Richtung Schweiz aufgebrochen, um dort zu leben. Über Kufstein, Innsbruck und Linz habe er sein Ziel erreicht, sei aus Zürich jedoch nach Mailand abgeschoben worden – offenbar auf Grundlage des Dublin-Abkommens. Um Menschen wie Dienta kümmern sich die italienischen Behörden kaum, viele von ihnen schlagen sich auf eigene Faust durch, kommen bei Hilfsorganisationen unter. Oder nirgendwo.

Das ist ein italienisches Problem, allerdings mit deutscher Beteiligung: Dem Bundesinnenministerium zufolge ließen die Sicherheitsbehörden im vergangenen Jahr etwa 22.000 Menschen in Flugzeugen abschieben, fast jeder Zehnte dieser Flüge landete in Italien. Wie viele dieser Menschen anschließend obdachlos werden, ist unklar; sicher ist aber: Das Problem ist groß.

Laut einem Bericht von Ärzte ohne Grenzen aus dem Februar leben mindestens 10.000 Flüchtlinge am Rande der italienischen Gesellschaft unter menschenunwürdigen Bedingungen. In Dientas Wohnort Mailand übernachten Flüchtlinge unter Brücken, in abgelegenen Vierteln oder am Rande der sechsspurigen Via Vittor Pisani, die vom Mailänder Stadtzentrum zum Hauptbahnhof führt.

Und tagsüber?

Für viele ist das Naga Har ein wichtiger Anlaufpunkt. Das Tageszentrum für Flüchtlinge, versteckt gelegen im Seitenflügel einer Grundschule am südwestlichen Stadtrand, wird nachmittags zum Zuwanderer-Treffpunkt. An diesem schwülwarmen Tag sind wegen des Ramadans vergleichsweise wenige Besucher dort, wie ein Mitarbeiter sagt. Es sind mehrere Dutzend.

Das kleine Zentrum wird von der Wohltätigkeitsorganisation Naga betrieben, die von der Mitarbeit ehrenamtlicher Helfer lebt. Einige geben Flüchtlingen Rechtsberatung, andere stellen Kekse und Tee bereit, wieder andere spielen oder unterhalten sich mit den Gästen. Am Eingang hängt ein Schild: „Hier ist niemand Fremder.“

Aus dem Fernsehzimmer, in dem ein paar junge Männer ein Fußballspiel verfolgen, hallt Gelächter auf den Flur. Dort haben sich Grüppchen gebildet um den Kickertisch und die Tischtennisplatte, am Ende des Gangs haben einige Männer ihre Gebetsteppiche ausgerollt.

Viele Gäste nutzen die Treffen im Naga Har auch, um sich von anderen Flüchtlingen Tipps zu holen, wie ein Mitarbeiter erzählt: Wer nach Deutschland weiterreisen wolle oder Tipps für den Umgang mit Behördenmitarbeitern suche, werde hier fündig. Obwohl es keine festen Freundeskreise oder Gruppen gebe, sei die Solidarität unter den Besuchern groß.

Im Naga Har zeigt sich die Asylkrise von ihrer menschlichen Seite, einerseits. Andererseits ist die Einrichtung nur deshalb nötig, weil die Not so groß ist – und die Behörden sich um die vielen Migranten im Land kaum angemessen kümmern können.

Der 68-jährige Rentner Roberto Marini hockt in einem Klassenzimmer im ersten Obergeschoss hinterm Lehrerpult. Der Italienischunterricht ist gerade vorbei, es lief eher schlecht. „Wir haben die Verben ’sein‘ und ‚haben‘ besprochen“, sagt Marini, „mehr nicht“. Ob ihn das frustriere? „Im Gegenteil!“

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