26. April 2018 · Kommentare deaktiviert für „Griechenland: Das Comeback des Flüchtlingsthemas“ · Kategorien: Griechenland · Tags: , , ,

Telepolis | 25.04.2018

Die griechischen Behörden registrieren, dass der Landweg über den Evros Fluss gegenüber dem Seeweg über die griechischen Inseln an Attraktivität gewinnt

Wassilis Aswestopoulos

Allein am Montag kamen 153 Flüchtlinge über die Landgrenze der Türkei nach Griechenland. Die Abgeordneten der oppositionellen Nea Dimokratia haben derweil eine parlamentarische Anfrage gestellt, in der von 300 täglichen Grenzübertritten über den Landweg die Rede ist.

Die Nachrichten im Land überschlagen sich. Ein Aufsehen erregendes Urteil des griechischen Staatsrats hebelte kurzfristig eine der Bestimmungen des EU-Türkei-Flüchtlingsdeals aus. Künftig, hieß es in der vergangenen Woche, genießen Asylbewerber in Griechenland wieder eine absolute Bewegungsfreiheit.

Wenige Tage später war das Bild bereits anders. Die Bewegungsfreiheit wurde durch eine neue Bestimmung der Asylbehörde erneut eingeschränkt. Am Wochenende fand schließlich eine Art Pogrom auf der Insel Lesbos statt. Die Polizei nahm die Opfer der Angriffe fest.

Der Staatsrat, Griechenlands höchstes Verwaltungsgericht, urteilte, dass es illegal und verfassungswidrig sei, registrierte Asylbewerber auf den Inseln festzuhalten, bis die Asylbehörden über das Verfahren entschieden hätten. In der Praxis hebt dies einen der Grundpfeiler des EU-Türkei-Pakts aus. Denn diesem gemäß sollten Asylbewerber bis zum Entscheid in den Lagern auf den Inseln bleiben, auf denen sie bei ihrer Flucht angekommen waren.

So sollten Abschiebungen leichter vonstatten gehen. Die Internierung der Neuankömmlinge in kargen Lagern wirkte abschreckend. Teilweise müssen die Insassen dort mehr als ein Jahr verbringen, bevor sie aufs Festland dürfen. Die vollkommen überfüllten Lager haben sich jedoch für die betreffenden Inseln zum Dauerproblem entwickelt. Die ansässige Bevölkerung, noch im Sommer 2015 mit einer beispielhaften Willkommenskultur ausgezeichnet, entwickelte aufgrund der Dauerbelastung fremdenfeindliche Reflexe.

Der Entscheid des Staatsrats Nr. 805/2018 hebelt die Bestimmung der Asylbehörde 10464/31.5.2016 für all jene aus, die nach dem Gerichtsentscheid auf den Inseln ankommen. Diejenigen, die früher und nach dem 20. März 2016 als Stichtag des EU-Türkei-Deals dort ankamen, müssen der Urteilsbegründung gemäß weiter in den Lagern verharren.

Dies wiederum führte auf Lesbos dazu, dass die „alteingesessenen“ Asylbewerber sich benachteiligt fühlen und aus Protest den zentralen Platz der Inselhauptstadt besetzt halten. Sie protestieren darüber hinaus gegen die Zustände im Lager Moria auf Lesbos. Auch sie verlangen nun freie Reisemöglichkeiten innerhalb Griechenlands.

Dieses Recht trat erst nach der Amtsübernahme des ersten Kabinetts von Alexis Tsipras im Januar 2015 in Kraft. Bis dahin waren alle Asylbewerber, die nicht regulär über die Grenze eingereist waren, mit dem Vorwurf des illegalen Grenzübertritts konfrontiert. Dies erlaubte den griechischen Behörden die Mobilität der Flüchtlinge und Immigranten einzuschränken.

In Griechenland wird die damals gewährte Bewegungsfreiheit eng mit dem Ausbruch der großen Flüchtlingskrise 2015 in Verbindung gebracht. Beobachter fürchten, dass das Urteil des Staatsrats wie eine Einladung für die in der Türkei ausharrenden Syrer, Afghanen, Iraker und Iraner wirken könnte. Droht eine neue Flüchtlingskrise? Dies ist eine Frage, welche griechische Medien thematisieren.

Die Regierung reagierte prompt. Mit dem im Staatsanzeiger veröffentlichten Erlass FEK 1366/20-4-2018 stellte der frische Chef der Asylbehörde mit einer seiner ersten Amtshandlungen den vorherigen Status Quo wieder her. Er war erst einen Tag vor dem neuen Erlass ins Amt berufen worden. Seine Ernennung wurde am gleichen Tag des Erlasses in einer weiteren Ausgabe des Staatsanzeigers verkündet.

Der neue Erlass beruft sich ausdrücklich auf den EU-Türkei Pakt als Grundlage für die Mobilitätsbeschränkung. Das Amt reagiert damit auf den Passus der Urteilsbegründung für den Entscheid 805/2018, der im vorherigen Erlass keine „übergeordnete Grundlage von staatlichem Interesse“ für die Einschränkung der Rechte der Asylbewerber sehen konnte.

Eine Novelle über das Asylverfahren soll noch in der laufenden Woche im Parlament verabschiedet werden. Es geht darum, dass eine amtliche Ablehnung der Asylgewährung in zweiter Instanz zur sofortigen Abschiebung führen soll. Den Asylbewerbern wird damit – entgegen internationalem Flüchtlingsrecht – der Zugang zur Justiz verwehrt. Wenn sie gegen eine Ablehnung klagen möchten, dann können sie es künftig von ihren Heimatländern aus tun, meint die Regierung.

In der vergangenen Woche hatte eine Gruppe von Insassen des berühmt-berüchtigten Lagers Moria auf Lesbos den zentralen Platz der Inselhauptstadt Mytilene besetzt. Die Asylbewerber campierten nicht auf dem Platz, sie hielten sich jedoch samt Frauen und Kindern ständig dort auf.

Dies wiederum goutierte die Stadtverwaltung nicht. Auch einigen Bürgern der Insel missfiel dieser Zustand. Zudem fanden sich auch im übrigen Griechenland zahlreiche Bürger, denen eine solche Besetzung aus vielerlei fremdenfeindlichen und islamkritischen Gründen ein Dorn im Auge ist.

Der Bürgermeister der Insel, Spyros Galinos, der im kommenden Jahr seine Wiederwahl anstrebt, versuchte, den zentralen Platz wieder frei zu bekommen. Dafür wandte er sich an die Polizei. Diese gab sich machtlos, da die Besetzer durch ihren bloßen Aufenthalt auf einem öffentlichen Platz gegen kein Gesetz verstießen. Sie hatten es vermieden, Zelte aufzustellen oder in Schlafsäcken zu übernachten. Sie waren auch nicht sonderlich laut und störten somit auch die öffentliche Ruhe nicht.

Es gab somit keine Grundlage für einen Platzverweis. Die Gemeinde versuchte daraufhin auf hygienische Gründe für eine kurzfristige Räumung unter dem Vorwand der Platzreinigung. Daraufhin reinigten die Asylbewerber teilweise mit ihren T-Shirts den Platz. Sie ließen auch die städtischen Reinigungskräfte ihre Arbeit machen. Hinterher war der Platz erneut besetzt.

Dies wiederum wurde von den Asylbewerbern kritisch gegenüber stehenden Bürgern als Affront wahrgenommen. Konservative Medien ließen sich genüsslich über die Ohnmacht des Staats gegenüber den Asylbewerbern aus. Kurz, das Klima wurde immer weiter hochgeschaukelt. Der kommende Eklat war für jeden Beobachter absehbar.

„Besorgte“ und „patriotische“ Bürger riefen tagelang über soziale Netzwerke zur Selbstjustiz auf. Als Zeitpunkt wurde der Sonntag zur Stunde des feierlichen Einholens der Flagge am Abend terminiert. Trotz dieser offenen Ankündigung sah die Staatsgewalt keinen Anlass, einzugreifen. Auch der Bürgermeister konnte sich aus wahltaktischen Gründen nicht zu einer im Vorfeld notwendigen, die Lage beruhigenden Stellungnahme durchringen.

Schließlich reisten per Flieger bekannte Vertreter rechtsnationaler und fremdenfeindlicher Strömungen auf die Insel. Ein Staatsanwalt wählte als Beobachtungsort eine dem Sappho Platz nahe gelegenes Kaffee. Die Demonstration der Bürger und ihrer mit Mitgliedern der Goldenen Morgenröte verstärkten, angereisten Unterstützer startete zunächst friedlich, allerdings kippte die Stimmung schnell um.

Die auf dem Platz befindlichen Asylbewerber wurden umkreist, beschimpft und mit Gegenständen beworfen. Aus Seiten der Demonstranten flogen Leuchtstoffraketen in die Menge der Asylbewerber. Der Ruf „verbrennt sie!“ wurde skandiert. Ohne anwesende Polizeikräfte versuchte die Menge ihr Anliegen durch Selbstjustiz zu erreichen.

Erst später traf die Polizei ein. Sie griff in den frühen Morgenstunden ein. Zunächst reagierte die Polizei mit Tränengas gegen die Demonstranten, schlug aber rasch auf beide Seiten ein. Innerhalb weniger Minuten nach dem entschiedenen Eingreifen der Polizei, welches gegen 5:20 h war der Platz geräumt. Es gab auf Seiten der Asylbewerber zahlreiche Verletzte.

Unerklärlicher als die passive Haltung von Polizei, aber auch der Regierung sind die Vorgänge nach der Krawallnacht. Innerhalb kürzester Zeit hatte die Polizei 120 Asylbewerber festgenommen, während sie immer noch nach den Gewalttätern der Gegenseite fahndet.

Diese hielten ihr Tun auch auf Video fest und verbreiteten die Aufnahmen in sozialen Netzwerken. Aktuell soll die Fahndung damit beschäftigt sein, die Videos der sozialen Netzwerke aber auch die Aufnahmen von Überwachungskameras der Geschäfte vor Ort auszuwerten.

Die für die Lage vor Ort und im Land verantwortliche Regierungspartei Syriza verurteilte die Gewaltakte von Bürgern und Polizei. Syriza-Mitglieder auf Lesbos kontaktieren mit den Asylbewerbern solidarische Helfer vor Ort, um so an Videoaufnahmen vom Geschehen zu kommen. Die Regierungspartei gibt in der Affäre ein derart schizophrenes Bild ab, dass ihr Handeln selbst dystopischen Visionen von Franz Kafka in den Schatten stellen könnte.

Die Polizei in Griechenland ist den Befehlen von Bürgerschutzminister Nikos Toskas unterstellt. Die Hierarchie der Gesetzeshüter untersteht einer zentralen Verwaltung, welche den einzelnen Beamten kaum Handlungsspielraum gewährt. Es wäre daher unfair, allein der Polizei die Schuld an den Auswüchsen auf Lesbos zuzuschreiben.

Ebenso wie auf Lesbos lässt Toskas auch in anderen Fällen einen Eingriff erst dann zu, wenn – im wahrsten Sinn des Wortes – alles brennt. Was der frühere Generalstabsoffizier damit bezweckt, ist mit Logik kaum erklärbar. Unverständlich ist jedoch, dass die übrige Regierung tatenlos zusieht.

Es wäre zu einfach, die Geschehnisse allein Rechtsextremen und Rassisten zuzuschreiben. Bewohner der Insel berichten, dass sich unter Demonstranten, die gegen die große Präsenz der auf der Insel festgehaltenen Asylbewerber demonstrieren, auch Mitglieder linker Parteien sind. Bürgermeister Galinos gab sich nach der Krawallnacht erschüttert und meinte, er hätte diesen Ausgang nicht absehen können.

Der Regierung warf er Verantwortungslosigkeit vor. Sie habe auf einer Insel in einer Stadt mit 27.000 Einwohnern 10.000 Asylbewerber positioniert und damit die Ängste geschürt, welche in die Konflikte münden würden, meinte Galinos.

Knapp einen Monat nachdem das gute Wetter die Passage über die Landgrenze aus der Türkei wieder attraktiver gemacht hat, schlug am Dienstag der neue Immigrationsminister Dimitris Vitsas Alarm. Vitsas erklärte, dass seit dem Gipfel der EU mit der Türkei im bulgarischen Varna am 26. März 2018 ein starker Anstieg der Grenzübertritte registriert wird.

Während im gesamten Jahr 2017 durchschnittlich 54 Personen pro Tag aus der Türkei nach Griechenland kamen, um Asyl zu beantragen, wurden im April bislang 2.168 Neuankömmlinge auf den Inseln registriert. Vitsas erklärte, dass am Dienstag allein auf Lesbos 207 Asylbewerber angekommen seien.

Demgegenüber wurden im gleichen Zeitraum 2.700 illegale Grenzübertritte an der Landgrenze am Evros Fluss registriert. Für den Dienstag gab Vitsas die Zahl der Neuankömmlinge über Land mit 340 Personen an. Vitsas drückte seine Besorgnis aus.

Tatsächlich ist das Land nicht auf solche Zahlen vorbereitet. Im Zuge des EU-Türkei Pakts galt das gesamte Interesse des Immigrationsministeriums den Inseln – und selbst dort zeugen die übervölkerten Lager vom Scheitern der teuer mit EU-Zuschüssen subventionierten Strategie.

In Thessaloniki kommt es zu surrealen Situationen. Mehrere Dutzend Flüchtlinge sammeln sich regelmäßig vor Polizeistationen und bitten um ihre Festnahme. Nur so können sie in ein Lager und damit an eine einfache Gelegenheit für einen Asylantrag gelangen.

Die überforderten Beamten vertrösten die potentiellen Asylbewerber. Es ist absehbar, dass sich bei einem weiteren Anstieg der Zahlen schnell Zustände wie vor dem EU-Türkei Pakt mit wilden Lagern entwickeln können. Dann wäre eine Pogromnacht wie in Mytilene überall im Land möglich.

Regierung und Justiz reagieren mit Aktionen, welche Panik als Motiv vermuten lassen. Rund um die Landgrenze am Evros-Fluss wurden achtzehn Rechtsanwälte vorgeladen. Sie müssen erklären, wieso sie Asylbewerber gegenüber dem Staat vertreten haben. Unter den Vorgeladenen befinden sich auch zwei Juristen, welche illegale „Push-Back-Aktionen“ der Polizei angeprangert haben.

Für die Asylbewerber, die sich mit ihrem Schicksal abgefunden haben und die in Griechenland bleiben, sind die Aussichten alles andere als rosig. Es gibt Orte der sexuellen Ausbeutung auch Minderjähriger, wie auf dem Omonia-Platz in Athen. Auf der untersten Stufe des staatlichen Schutzes vor Verfolgung stehen diejenigen, deren sexuelle Orientierung in einigen islamischen Ländern mit der Todesstrafe geahndet wird, homosexuelle und transsexuelle Asylanten.

Sie gehören auch in Griechenland zu denjenigen, die nicht nur wegen ihrer Herkunft auf offene Aggression stoßen. Transsexuelle Schicksale in Griechenland enden regelmäßig in einem mit käuflichem Sex verbundenen Leben als absolute Außenseiter.

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