18. April 2018 · Kommentare deaktiviert für „Route geschlossen?“ · Kategorien: Balkanroute, Europa, Lesetipps, Türkei · Tags:

Netzwerk Flüchtlingsforschung | 16.03.2018

Zu den Auswirkungen der EU-Türkei-Erklärung auf die Fluchtbewegungen nach Europa

by Marcus Engler

Die Zahl der Flüchtlinge und Migranten, die über das östliche Mittelmeer nach Europa gelangt ist, ist 2015 stark angestiegen und anschließend genauso rapide wieder gesunken. Vertreter von Politik und Medien führen diesen Rückgang häufig ausschließlich auf politische Maßnahmen der Migrationskontrolle zurück. Dabei werden aber die Komplexität der Faktoren, die Fluchtbewegungen beeinflussen, und die Unsicherheiten bei der Datenlage ausgeblendet. Ziel dieses Beitrags ist es am Beispiel des EU-Türkei-Abkommen zu zeigen, dass restriktive Maßnahmen der Migrationskontrolle nicht nur normativ zu kritisieren sind, sondern dass auch die kausalen Wirkungszusammenhänge einer kritischen Analyse unterzogen werden müssen.

Trotz erheblicher menschenrechtlicher Kritik und großen Zweifeln bezüglich seiner politischen Haltbarkeitsdauer hat die EU-Türkei-Erklärung, die am 18. März 2016 verabschiedet wurde, nun zwei Jahre Bestand. Sie hat sogar den Putschversuch in der Türkei im Juli 2016 und die dadurch ausgelösten erheblichen Erschütterungen der EU-Türkei-Beziehungen inklusive eines de facto Aussetzens des Beitrittsprozesses und der Nicht-Umsetzung der für die Erdoğan-Regierung zentralen Visaliberalisierung überstanden. Vertreter der türkischen Regierung hatten sogar mehrfach mit einer Aufkündigung des Flüchtlingspaktes gedroht.

Aus Sicht von Bundesregierung und EU war es das vorrangige Ziel der Kooperation mit der Türkei, die spontanen Zuzüge von Flüchtlingen und Migranten über die Ägäis zu stoppen. Zudem sollte das Sterben im Mittelmeer beendet, legale Wege nach Europa eingerichtet und die Lebensbedingungen für Flüchtlinge in der Türkei verbessert werden. Hierzu wurde am 29. November 2015 zunächst ein gemeinsamer Aktionsplan angenommen. Darin sicherte die Türkei u.a. strengere Kontrollen ihrer See- und Landgrenzen, die Umsetzung von Rücknahmeabkommen mit Griechenland und Bulgarien und die Verschärfung ihrer Visumpolitik zu. Im Gegenzug versprach die EU, dass sie die Türkei mit umfangreichen finanzielle Hilfen für Flüchtlinge (3 Mrd. Euro) unterstützen würde, um deren Lebensbedingungen zu verbessern. Die Kooperation in der Flüchtlingspolitik wurde zudem mit der Wiederaufnahme der EU-Beitrittsverhandlungen und die geplante Aufhebung der Visapflicht für türkische Staatsbürger verknüpft. Diese Maßnahmen erschienen den europäischen Regierungen jedoch nicht ausreichend. So kam es am 18. März 2016 zur Türkei-EU-Erklärung. Darin erklärte sich die Türkei bereit, alle ab dem 21. März 2016 über ihr Territorium irregulär in die EU eingereisten Migranten zurückzunehmen. Im Gegenzug wurde ein sogenannter 1:1 – Mechanismus vereinbart, demzufolge die EU für jeden von der Türkei zurückgenommenen Syrer einen anderen Syrer aufnimmt. Diese Regelung wurde auf 72.000 Plätze gedeckelt. Darüber hinaus hat die EU zugesichert, dass die Mitgliedstaaten eine größere Zahl von Flüchtlingen aus der Türkei aufnehmen werden, sobald die irregulären Grenzüberschreitungen nachhaltig zurückgehen. Schließlich wurden der Türkei weitere drei Milliarden Euro für die Unterstützung der Flüchtlinge zugesagt.

Streit über die Ursachen des Rückgangs

Obwohl der Krieg in Syrien und Konflikte im Irak und Afghanistan anhalten und die Flüchtlingszahlen in der europäischen Peripherie hoch bleiben, liegt die Zahl der Einreisenden über die östliche Mittelmeerroute seit Inkrafttreten des Flüchtlingspakts auf relativ niedrigen Niveau (siehe Abbildung). Vertreter von Europäischen Kommission und nationalen Regierungen, darunter auch die Bundesregierung, führen dies häufig ausschließlich auf die EU-Türkei-Vereinbarung zurück, zum Teil in Kombination mit dem „Schließen“ der Balkanroute. Diese Erklärung wird auch von Vertretern von Presse, Wissenschaft, Think Tanks und Nichtregierungsorganisationen unkritisch übernommen.

Die Europäische Kommission spricht von einem Rückgang um 97 Prozent der irregulären Ankünfte infolge der Vereinbarung. Dabei werden allerdings vorherige und übergreifende Trends ausgeblendet. Während im Laufe des Jahres 2015 die Zahl von Einreisenden aus der Türkei über die Ägäis auf den griechischen Inseln anstieg und im Oktober 2015 ein Höchstwert mit 211.663 auf den griechischen Inseln registrierten Personen erreicht wurde, sanken die Zahlen anschließend kontinuierlich. Das EU-Türkei-Abkommen trat jedoch erst am 21. März 2016 in Kraft. Danach sind die Zahlen weiter gesunken und liegen seit April 2016 wieder auf dem Niveau von Anfang 2015.

Vor diesem Hintergrund kommt Thomas Spijkerboer zu der Schlussfolgerung, dass es überhaupt keinen Zusammenhang zwischen der EU-Türkei-Vereinbarung und dem Rückgang der Überquerungen gebe. Eine alternative Erklärung für den Rückgang liefert er allerdings nicht. Auch Murat Erdoğan hält die Wirkung des Abkommens für „sehr begrenzt“. Er argumentiert, dass der Rückgang vor allem an der russischen Intervention in Syrien gelegen habe, die Ende September 2015 begonnen hat, und durch die die Fluchtwege in die Türkei abgeschnitten worden seien.

Wissenschaftliche Befunde: Komplexe Kausalitäten und begrenzter Einfluss politischer Entscheidungen

Die Determinanten von Fluchtbewegungen, d.h. ihre Entstehung und Veränderung in Quantität und Qualität werden in der Forschung mit unterschiedlichen theoretischen Modellen erklärt, aber durchweg als äußerst komplex beschrieben. Diese Vielfältigkeit von Einflussfaktoren betonen auch empirische Forschungen zu den jüngsten Fluchtbewegungen nach Europa (z.B. Crawley et al; Squire et al.; Brücker et al.; Kuschminder). Der Sicherung der EU-Außengrenzen und die Reduktion von „illegaler Migration“, die von politischen Akteuren häufig als Bedrohung für Sicherheit, kulturelle Homogenität und soziale Ordnung gerahmt wird, ist seit langem ein politisches Ziel der EU und der europäischen Nationalstaaten. Der Katalog hierzu ergriffener Maßnahmen ist weitreichend beschrieben und umfasst u.a. materielle Grenzsicherungsmaßnahmen, eine restriktive Visumpolitik, Carrier Sanctions und die Kooperation mit Transitstaaten.

Über die Wirksamkeit von Migrationspolitik im Allgemeinen und migrationsabwehrender Politiken im Besonderen wird in der Forschung seit langem intensiv diskutiert. Einige Forschende argumentieren, dass die Grenzsicherungspolitiken unwirksam sind, wenn es darum geht, irreguläre Einreisen zu verhindern. Dabei wird betont, dass derartige Maßnahmen lediglich kurzfristig zu einer Verschiebung der Routen, hinzu immer gefährlicheren und teureren Wegen führt. Andere Forschende sehen dagegen eine Wirkung von Grenzsicherungspolitiken, wobei eine zentrale Variable in der Kooperationsbereitschaft von Transitstaaten liegt. So galt die Kooperation mit Staaten wie Marokko, Mauretanien und Senegal als Ursache dafür, dass schon seit Jahren relativ wenige Migranten über die westliche Mittelmeeroute nach Spanien kommen. Umgekehrt galt der Zusammenbruch der staatlichen Ordnungen und Kontrollapparate in Tunesien 2011 und Libyen 2014 als Hauptursache für den Anstieg der Überquerungen über die zentrale Mittelmeeroute. Vor diesen Hintergrund kommt der türkischen Regierung eine zentrale Rolle bei der Migrationskontrolle im östlichen Mittelmeer zu.

Limitierte und unsichere Datenlage

Im Gegensatz zur Komplexität von potenziellen Einflussfaktoren ist die Datenlage sehr beschränkt. Analysen, die sich ausschließlich auf Daten der Mittelmeerüberquerungen stützen, wie es etwa die EU-Kommission tun, blenden zahlreiche Faktoren aus. Zunächst wird suggeriert, dass die Daten der Überquerungen – von IOM, UNHCR oder nationalen Behörden produziert – zuverlässig sind und man das Phänomen der klandestinen Migration vollständig transparent machen kann. Darüber hinaus vernachlässigt der alleinige Fokus auf die quantitativen Überquerungszahlen, dass es sich um einen äußert vielfältigen Personenkreis mit diversen Motivkonstellationen handelt. Es wird z.B. häufig unterstellt, dass sich politische Maßnahmen wie der EU-Türkei-Deal in gleicher Weise auf sehr unterschiedliche Personengruppen auswirken.

Allein ein Blick auf die Nationalität und den Aufenthaltsort der Flüchtenden, die über diese Route nach Europa kamen und kommen, macht dies jedoch unwahrscheinlich. Darunter sind u.a. Syrier aus Syrien und jenen, die schon einige Zeit in der Türkei verbracht haben; Afghanen aus Afghanistan und jenen, die schon seit Jahren im Iran oder Pakistan gelebt haben, etc. Unterschiede bestehen auch bezüglich vorhandener sozialer Netzwerke oder Familienkonstellationen. Zudem haben wissenschaftliche Untersuchungen gezeigt, dass nur ein geringer Teil aller Flüchtlinge weltweit nach Europa wandern möchte und dies auch kann. Auch vor dem EU-Türkei-Abkommen stellte die Überquerung der Ägäis, die nur eine Etappe der gesamten Flucht bildet, für viele Flüchtlinge aufgrund des Risikos und der Kosten eine unüberwindbare Barriere. In Verkennung dieser unterschiedlichen Präferenzen, Bedürfnisse und Mobilitätsfähigkeiten basieren Maßnahmen wie das EU-Türkei-Abkommen auf der Annahme, dass sich eine gleichbleibende anonyme und homogene ‚Masse‘ von Personen auf den Weg nach Europa machen würde.

Vor dem Hintergrund komplexer Kausalbeziehungen und begrenzter Datenquellen sind umfassende weitergehende empirische Analysen dringend erforderlich. Diese müssten sich auf eine Triangulation mehrerer Quellen stützen und etwa Daten über die Wanderungsabsichten und -möglichkeiten einer repräsentativen Zahl von Flüchtlingen vor und nach Entscheidungen wie des EU-Türkei-Abkommens berücksichtigen. Dabei sollte differenziert nach Gruppen (z.B. Nationalitäten, Aufenthaltsort, sozio-demografische Merkmale, soziale Netzwerke) vorgegangen werden und Informationen über versuchte Überquerungen/Aufgriffe durch die türkischen Behörden sowohl an den türkischen Außengrenzen im Osten und Süden als auch in der Ägäis-Region erlangt werden. Auch wären Daten über die Lebenslage von Flüchtlingen in der Türkei und anderen Ländern sowie deren Veränderung erforderlich. Ferner sollten diese Untersuchungen in einen größeren zeitlichen und geographischen Kontext eingebettet werden und z.B. die Migrationsbewegungen über unterschiedliche Routen betrachten.

Elemente einer komplexeren Erklärung

Obwohl der Bedarf für weiterführende Forschung verdeutlicht wurde, können an dieser Stelle Faktoren benannt werden, die den Rückgang der Überquerungen beeinflusst haben können. Meine vorsichtige Formulierung basiert darauf, dass vielfältige Forschungslücken bestehen und die Einflussstärke einzelner Faktoren nicht quantifiziert werden kann. Zudem wird nicht bestritten, dass die politischen Maßnahmen entlang der sogenannten Balkanroute sowie die Kooperation mit der Türkei das Passieren der östlichen Mittelmeerroute deutlich erschwert hat und Flüchtlinge ihr Migrationsvorhaben daraufhin zurückgestellt oder aufgegeben haben. Denn infolge dieser Maßnahmen müssen Flüchtlinge befürchten, entweder in die Türkei zurückgeführt zu werden und/oder für längere Zeit in den desolaten Hotspots auf den griechischen Inseln festzusitzen. Es wird hier lediglich bestritten, dass die politischen Entscheidungen die wichtigsten oder allein ausschlaggebenden Faktoren für den Rückgang der Zahlen waren.

Da der Rückgang der Überquerungen bereits im November 2015 eingesetzt hat, ist es wahrscheinlich, dass hier ein saisonaler Effekt gewirkt hat. Auch 2014, 2016 und 2017 finden sich ähnliche Verlaufsmuster. In den Wintermonaten gibt es aufgrund schlechterer Wetterbedingungen und damit einhergehender größerer Risiken weniger Überquerungen.

Eine zweite Erklärung liegt in der Erschöpfung des Potentials der Personen in der Türkei, die nach Europa weiterwandern wollten und hierzu auch in der Lage waren. Ein Indiz hierfür sind Umfragen unter syrischen Flüchtlingen in der Türkei, denen zufolge eine Mehrheit solange in der Türkei bleiben möchte, bis eine Rückkehr nach Syrien möglich wird und keineswegs eine Weiterwanderung nach Europa anstrebt. Der Rückgang würde somit dadurch erklärt werden, dass ein großer Teil der Personen, die nach Europa wollten und auch die Möglichkeiten dazu hatten, dies bereits bis März 2016 getan hat. Die Erschöpfung dieses Potentials ist dabei auch eine Folge der veränderten Politik der Türkei. Diese hatte ihre ursprüngliche Politik der offenen Grenzen infolge hoher Flüchtlingszahlen und von Terroranschlägen seit dem Frühjahr 2015 aufgegeben und eine rigorose Abschottungspolitik implementiert. So wurden Grenzübergänge geschlossen, die Vergabe von Visa erschwert und mit dem Bau von Mauern entlang der türkisch-syrischen und türkisch-iranischen Grenze begonnen. Es gibt Berichte darüber, dass Flüchtende von Grenzsoldaten erschossen wurden. Somit wurde es deutlich schwieriger für Geflüchtete, in die Türkei zu gelangen. Während über die Legalität des EU-Türkei-Abkommens zumindest noch gestritten werden kann, sind diese Politiken klar völkerrechtswidrig, werden jedoch von den europäischen Regierungen schweigend toleriert.

Denkbar ist auch, dass die Rückmeldung über die Lebensumstände in Europa von Geflüchteten, die bereits in Europa waren, zumindest bei einem Teil potenzieller Flüchtlinge dazu geführt hat, ihr Migrationsvorhaben aufzugeben. Der hohe Zuzug von Schutzsuchenden nach Europa im Jahr 2015 ging auch einher mit zum Teil äußert unrealistischen Erwartungen über das Leben in Europa, die durch missdeutete politischen Botschaften und Willkommensbildern erzeugt wurden. Angesichts von persönlichen Erfahrungen, die auch von monatelangen Wartezeiten auf Termine, der Unterbringung in Turnhallen und ablehnenden Reaktionen der Aufnahmebevölkerungen geprägt waren, haben sich diese Erwartungen zum Teil relativiert. Bei einigen Flüchtlingen hat dies zu einer Rückkehr oder einem Rückkehrwunsch geführt. Inwiefern sich das tatsächlich auf die Migrationsabsichten von Flüchtlingen ausgewirkt hat, muss Gegenstand weiterer Forschungen sein.

Für die These der Erschöpfung des Migrationspotentials spricht auch, dass es bisher keine signifikante „Verschiebung von Routen“ gegeben hat, wie es von zahlreichen Beobachtern erwartet worden war. Zwar sind die Zahlen der registrierten Überquerungen auf der zentralen Mittelmeerroute 2016 insgesamt leicht angestiegen (2015: 153.842; 2016: 181.436; 2017: 119.369), bevor sie seit Mitte 2017 deutlich gesunken sind. Jedoch haben kaum Syrer, Afghanen oder Iraker diese Route passiert, da es für sie schwierig ist, überhaupt nach Libyen zu gelangen. Einige Flüchtlinge wählen trotz EU-Türkei-Abkommen weiterhin den Weg über die Ägäis. Zudem wurde ein leichter Anstieg der Überquerungen der griechisch-türkischen Landgrenze registriert. Die Überquerungen auf der sogenannten Schwarzmeer-Route sowie die Schleusungen aus der Türkei nach Italien sind bisher begrenzt. Letztlich reisen Flüchtlinge weiterhin über verdeckte Schleusungen oder mit falschen Papieren ein. Allein im Jahr 2017 wurden in der EU28+Norwegen und Schweiz knapp 200.000 Asylerstanträge von Syrern, Afghanen und Irakern gestellt. Die Verlautbarungen politischer Akteure, denen zufolge die östliche Mittelmeerroute/Balkanroute seit April 2016 geschlossen ist, muss also relativiert werden. Dennoch ist diese Zahl angesichts von allein mehr als 5,6 Millionen syrischen Flüchtlingen in den Nachbarstaaten gering.

Schlussfolgerungen

Erklärungen, die den Rückgang der Zuzüge über die östliche Mittelmeeroute allein auf den EU-Türkei-Flüchtlingspakt zurückführen, müssen kritisch gesehen werden. Aufgrund der beschränkten Datenlage und der Komplexität von Einflussfaktoren und Wirkungszusammenhängen ist eine solche eindeutige Zurechnung empirisch nicht möglich. Bei derartigen Äußerungen von politisch Verantwortlichen handelt es sich auch nicht im eine akribische Ursachenanalyse, sondern um eine politische Erzählung. Das Narrativ des aktiven und erfolgreichen Schließens von Migrationsrouten hat dabei zwei Funktionen: Innenpolitisch geht es darum, angesichts von Wahlerfolgen rechtsextremer Parteien, politische Handlungsfähigkeit gegenüber verunsicherten Bevölkerungsschichten zu demonstrieren. Zugleich geht es darum, ein Signal an potentielle Migranten und Flüchtlinge in Erstzufluchts- und Herkunftsländern zu senden. In Verbindung mit Abschreckungskampagnen sowie restriktiven Asyl- und Abschiebepolitiken lautet die Botschaft, dass es sich nicht lohnt, die gefährliche und mühsame Reise nach Europa auf sich zu nehmen. Dieses Narrativ verknüpft dabei eine kausale Wirkung mit einem Anspruch auf Legalität oder zumindest Legitimität der getroffenen politischen Maßnahmen. Es suggeriert, dass politische Maßnahmen, wie eine andere Entwicklungs- und Handelspolitik, aber auch legale Aufnahmeprogramme in größerem Umfang nicht unbedingt nötig sind, da Migrationskontrolle ja zu funktionieren scheint.

Die Überbewertung der Wirkung der EU-Türkei-Vereinbarung in politischen Kreisen birgt auch das Risiko, das Regierungen mit einer äußert bedenklichen menschenrechtlichen Bilanz in eine Position der Stärke gebracht werden. Die türkische Regierung ist zwar ein Schlüsselakteure für die europäische Migrationskontrolle, sie kann jedoch nicht ohne Weiteres hunderttausende Flüchtlinge ohne Migrationsabsicht nach Europa schicken, auch wenn sie aus strategischen Gründen damit droht.

Das EU-Türkei-Abkommen und erst recht die Kooperation mit libyschen Milizen wurde vielfach zurecht aus menschenrechtlicher Sicht kritisiert. Politische Konzepte, die den Fokus auf die kurzfristige Reduktion von Zuwanderung legen, übersehen, dass die negativen mittel- und längerfristigen Folgen einer solchen Politik für das Globale Flüchtlingsregime dramatisch sein könnten. Wenn Staaten wie Australien, die USA oder die Europäische Union Menschenrechte verletzen oder ihr Engagement in der Flüchtlingspolitik deutlich zurückfahren, besteht kaum ein Anreiz für die Staaten des Südens, in denen die allermeisten Flüchtlinge leben, Flüchtlings- und Menschenrechte ernster zunehmen als bisher.

Im Hinblick auf die weitere Umsetzung des EU-Türkei-Abkommens wäre es wünschenswert, dass das darin enthaltende humanitäre Aufnahmeprogramm endlich aktiviert wird. In der Praxis ist man längst von dem vereinbarten 1:1 Mechanismus abgewichen. Bis Mitte März 2018 wurden rund 12.500 syrische Flüchtlinge aus der Türkei in EU-Staaten umgesiedelt, bei rund 2.150 Rückführungen. Angesicht von rund 3,5 Millionen syrischen Flüchtlingen in der Türkei, kann man diese Zahl vernachlässigen. Es ist schon beschämend, wenn die Europäische Kommission hier von Solidarität mit syrischen Flüchtlinge spricht und zudem ausrechnet, wie viele Leben durch den Flüchtlingspakt angeblich gerettet wurden. Trotz der finanziellen Unterstützung durch die EU leben viele Flüchtlinge in der Türkei weiterhin in äußert schwierigen Umständen. Nur ein Indiz hierfür sind zunehmende und zum Teil gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Aufnahmegemeinden und Flüchtlingen, bei denen allein im vergangen Jahr 35 Personen gestorben sein sollen. Die Einrichtung größerer Kontingente wäre ein wirksamer Steuerungshebel und könnte Fluchtbewegungen in stärker geordnete Bahnen lenken. Auf diese Weise könnten die EU-Staaten tatsächlich ihre Solidarität unter Beweis stellen.

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