09. April 2018 · Kommentare deaktiviert für „Griechenlands neue Flüchtlinge kommen aus der Türkei“ · Kategorien: Griechenland, Türkei

Zeit Online | 09.04.1982

Ausgerechnet beim ungeliebten Nachbarn suchen Tausende Türken seit dem Putschversuch Asyl. Die Beziehungen zwischen den Ländern verschlechtern sich zusehends.

Von Zia Weise, Thessaloniki

Nuri beschloss die Türkei zu verlassen, als sein Name in einem Zeitungsartikel auftauchte. Es war die Woche nach dem Putschversuch 2016; der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hatte seinen einstigen Verbündeten Fethullah Gülen für schuldig erklärt, und Gülen-Anhänger wie Nuri wurden massenweise verhaftet. Der Zeitungsartikel, der ihn als Sympathisanten der identifizierte, machte Nuri nervös. Die Universität, an der er seit Jahren lehrte, war Tage zuvor per Notstandsdekret geschlossen worden. Er entschied sich zu fliehen, bevor es zu spät war: einige Gülen-nahe Akademiker saßen bereits hinter Gittern.

Seine Flucht führte ihn über die USA, Kosovo und Albanien, aber mittlerweile leben Nuri und seine Familie in Thessaloniki — nur wenige Stunden Fahrt von der türkischen Grenze. Sie gehören zu den etwa 2.000 türkischen Staatsbürgern, die seit dem Putschversuch in Griechenland Asyl beantragt haben.

Im vergangenen Jahr verzeichneten die Mitgliedsländer der Europäischen Union laut Eurostat 14.640 türkische Asylbewerber, 44 Prozent mehr als in 2016. Deutschland war das beliebteste Zielland, mit 8.025 Anträgen. Griechenland kam auf Platz zwei, mit 1.820 türkischen Asylbewerbern — zehnmal so viele wie im Jahr zuvor.

Die Beziehungen sind so schlecht wie seit Jahrzehnten nicht

Die Türkei betrachtet alle Gülen-Anhänger — Soldaten wie Zivilisten — als Mitglieder einer Terrororganisation und fordert, dass ihre europäischen Verbündeten diese ausliefern. Doch der Verfall der Rechtsstaatlichkeit in der Türkei und insbesondere Berichte von Folter bedeuten, dass immer mehr Asylanträge genehmigt werden.

Für Griechenland sind die steigenden Asylzahlen besonders brisant, denn sie verstärken die ohnehin wachsenden Spannungen zwischen den beiden Nachbarländern. Athen und Ankara streiten schon lange um Grenzverläufe und Zypern. Aber die Beziehungen sind so schlecht wie schon seit Jahrzehnten nicht mehr, sagt Thanos Dokos, Vorsitzender des griechischen Außenpolitik-Rechercheinstituts ELIAMEP.

„Probleme gibt es schon seit langem. Aber anders ist, dass in den vergangen Monaten von der türkischen Seite viel mehr Aggression kam“, sagt Dokos. Das habe einerseits mit Erdogans nationalistischer Rhetorik zu tun, andererseits gäbe es auch immer mehr Streitpunkte — beispielsweise die Asylanträge türkischer Soldaten.

Seit am Morgen nach dem Putschversuch ein Helikopter mit acht Soldaten in Griechenland landete, wirft die Türkei der griechischen Regierung vor, Terroristen zu schützen. Erdoğan behauptet, dass der griechische Premier Alexis Tsipras ihm versprochen hätte, die Soldaten auszuliefern — einen Vorwurf, den Athen nicht zurückgewiesen hat. Doch griechische Gerichte lehnten eine Ausweisung der Soldaten ab.

„Sie werden uns nicht zurückschicken“

Im März verhaftete die Türkei zwei griechische Soldaten, die bei schlechten Wetter über die Grenze irrten. Viele in Athen sahen die Verhaftung als Vergeltungsmaßnahme. Erdoğan selbst verglich die beiden Fälle letzte Woche: EU-Politiker hätten ihn gebeten, die griechischen Soldaten zurückzuschicken, sagte er in einer Rede. Aber, fügte er hinzu, Brüssel hätte andersherum nicht mit Tsipras über die „Terroristen“ in Griechenland gesprochen.

Der Analyst Dokos sagt, die Türkei würde nicht verstehen, dass griechische Politiker an Gerichtsentscheidungen nichts ändern könnten. Doch Athen ist nicht vollkommen tatenlos geblieben, was Gülen-Anhänger in Griechenland betrifft: Laut der griechischen Zeitung Kathimerini verhinderten die griechischen Sicherheitsdienste im März die Einreise drei amerikanisch-türkischer Gülenisten.

Die drei US-Staatsbürger wollten angeblich Unterkünfte für türkische Gülen-Anhänger in Athen organisieren. Ein Gülen-Netzwerk in Griechenland würde in Zeiten wachsender Spannungen zwischen Griechenland und der Türkei eine Bedrohung für die nationale Sicherheit sein, zitierte Kathimerini griechische Regierungsbeamte.

Trotzdem fühlen sich Gülen-Anhänger weitgehend sicher in Griechenland, und einige haben bereits Asyl erhalten. Nuri und seine Familie entschieden sich für Thessaloniki, weil sie dem griechischen Rechtsstaat vertrauten: „Sie werden uns nicht zurückschicken,“ sagt er.

Aber Griechenland war nicht seine erste Wahl. Zwei Wochen nach dem Putschversuch reiste er in die USA; er hatte noch ein gültiges Visum von einem vorherigen Besuch. Für seine Familie konnte er jedoch keine Visa bekommen, und so traf er sich mit seiner Frau und ihren drei Kindern in Pristina, der Hauptstadt Kosovos.

Türkische Staatsbürger benötigen kein Visum für Kosovo, und Nuri mietete eine Wohnung dort. Aber sie fühlten sich nicht sicher: die Türkei ist ein wichtiger Investor dort und besitzt somit einiges an Einfluss in Pristina. Vergangene Woche schickten kosovarische Offizielle sechs Gülenisten zurück in die Türkei, unter unklaren Umständen: Der kosovarische Premier will von der Auslieferung nichts gewusst haben.

„Du kannst dir nie vorstellen, dass du eines Tages zum Flüchtling wirst“

Nuri und seine Familie reisten nach Albanien, und von dort an die griechische Grenze. Sie überquerten den Grenzfluss und liefen durch einen Wald, bis sie auf ein orthodoxes Kloster stießen. „Der Priester dort gab uns Klamotten und half uns,“ sagt Nuri.

Im nächstgelegenen Dorf wurde die Polizei auf sie aufmerksam und schickte sie in ein Flüchtlingslager. Ein paar Wochen später zog die Familie nach Thessaloniki; Nuris Kinder besuchen mittlerweile eine griechische Schule. Sie warten auf die Entscheidung der Asylbehörde.

Viele türkische Asylbewerber sehen eine gewisse Ironie in ihrer Situation: Schließlich gilt ihr eigenes Land als eine sichere Zuflucht für Millionen von Flüchtlingen aus Syrien und anderen Ländern der Region.

Bülent, ein freier Journalist, fand sogar einen Schmuggler auf Empfehlung eines syrischen Bekannten. Er konnte nicht legal ausreisen: die türkischen Behörden hatten seinen Pass annulliert. Im August 2016 setzte er mit einer kleinen Urlaubsyacht auf die griechische Insel Kos über, 6.000 Euro kostete das Einwegticket.

Am folgenden Tag hörte er von seiner Frau, dass die türkische Polizei seine Wohnung gestürmt hatte. „Sie durchsuchten mein Haus, verhörten meine Frau, beschlagnahmten meinen Computer und sämtliche Notizbücher,“ sagte Bülent. „Und ich bin kein berühmter Journalist.“

Viele Gülenisten suchen Asyl in Griechenland, aber auch andere Oppositionelle — Journalisten, Akademiker, Aktivisten — sind aus der Türkei geflohen. Bülent sagt, er gehöre nicht der Gülen-Bewegung an, aber er habe für journalistische Zwecke das Nachrichten-App ByLock benutzt. Die türkische Justiz betrachtet ByLock als ein Zeichen für Mitgliedschaft in der Bewegung.

Bülent und Nuri wollten in den Medien nur mit einem Pseudonym identifiziert werden, aus Sorge um ihre Familien in der Türkei. Bülent wohnt mittlerweile in Athen, aber reist oft nach Thessaloniki, um Bekannte — ebenfalls türkische Asylbewerber — zu besuchen.

Seine Frau und seine kleinen Söhne leben noch immer in der Türkei. Bülent befürchtet, dass die Polizei seine Frau festnehmen könnte als eine Art Geisel, um ihn zurück in die Türkei zu locken. Aber er möchte auch nicht, dass seine Familie den gefährlichen Weg über die Ägäis wagt. Er kennt die Risiken nur zu gut: als Journalist berichtete er oft über die syrische Flüchtlingskrise. Trotzdem, sagt er, war er nicht vorbereitet auf das Leben als Asylsuchender.

„Du kannst dir nie vorstellen, dass du eines Tages zum Flüchtling wirst“, sagt Bülent. „Ich dachte, ich würde Flüchtlinge verstehen, als ich über sie schrieb. Aber jetzt sehe ich, dass es unmöglich zu verstehen ist, ohne selbst Flüchtling zu sein.“

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