19. März 2018 · Kommentare deaktiviert für Population Target: Youth Bulge · Kategorien: Afrika, FFM-Texte, Hintergrund

Ausgangspunkt dieser Bemerkungen ist eine Broschüre, die im Februar 2018 im Auftrag der DSW (Deutsche Stiftung Weltbevölkerung) vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung herausgegeben wurde. Sie trägt den Titel „Youth Can! Warum sich Deutschland für eine aufgeklärte und gesunde Jugend in Afrika engagieren sollte“. Allerdings werden wir bald sehen, dass die zentralen Argumente der Broschüre sich um zwei große Projektionen drehen, die mit Aufklärung und Gesundheit der Jugend nur indirekt zu tun haben: es geht im Kern nämlich um einen „Demografischen Bonus“ und um eine „Bevölkerungsdividende“.

Die DSW ist eine private Stiftung, die allen Jugendlichen auf der Welt zur Verhütung verhelfen und auf diese Weise 74 Millionen Geburten pro Jahr verhindern möchte. Die Stiftung wurde 1991 von zwei Unternehmern aus Hannover gegründet, um „einen Beitrag zur Umsetzung des Menschenrechts auf Familienplanung und zur Verlangsamung des Bevölkerungswachstums zu leisten“. Auf ihrer Homepage erscheint als erstes ein tickender Zähler, der derzeit bei gut 7,6 Milliarden steht. Das Berlin-Institut wurde 2001 als gemeinnützige Stiftung in Berlin gegründet und hat sich zur Aufgabe gesetzt, „das Bewusstsein für den demografischen Wandel zu schärfen, nachhaltige Entwicklung zu fördern, neue Ideen in die Politik einzubringen und Konzepte zur Lösung demografischer und entwicklungspolitischer Probleme zu erarbeiten“. Allein schon die Unterstellung „demografischer Probleme“ macht die prinzipiell neomalthusianische Einstellung der beiden Stiftungen deutlich: Eine angebliche Überzahl von Menschen wird als „Problem“ definiert.

Die „Bevölkerungsdividende“

Die Broschüre argumentiert nicht mit Massensterilisierungen. Die Beispiele Puerto Rico, China oder Indien sind aus der Erinnerung getilgt. Zum Ausgangspunkt werden die 17 „Sustainable Development Goals“ der Vereinten Nationen von 2015 genommen, die bis 2030 eine nachhaltige Entwicklung des globalen Südens proklamieren. Aus diesen 17 Zielen greifen sich die Stiftungen 2 Ziele heraus: Gesundheit und Gleichstellung der Geschlechter, und daraus nur diesen einen Ausschnitt: „universeller Zugang zu sexueller und reproduktiver Gesundheit und Rechten (SRGR) und zu umfassender Sexualaufklärung“. Junge Mädchen sind das Population Target Nummer 1: „Jährlich kommen mehr als zehn Millionen Kinder in Afrika südlich der Sahara zur Welt, deren Mütter jünger als 20 Jahre sind. Die jungen Mütter haben oft kaum Perspektiven“ und „Während Wertevorstellungen und Sexualverhalten von 15- bis 24-Jährigen weltweit recht gut dokumentiert sind, ist über die Bedürfnisse und das Sexualleben der Zehn- bis 14-Jährigen nur wenig bekannt. Dies ist fatal. Denn in diese Lebensphase fällt bei nahezu allen Jugendlichen der Beginn der Pubertät. Für Mädchen kann das bereits die erste Schwangerschaft bedeuten. In der Hälfte der 36 Länder in Afrika südlich der Sahara, für welche zwischen 2007 und 2017 Daten vorliegen, gibt mehr als jedes zehnte Mädchen an, bereits vor dem 15. Geburtstag den ersten Geschlechtsverkehr gehabt zu haben“.

Warum haben junge Mütter „oft kaum Perspektiven“? Produktionsweise, Ökonomie? – Fehlanzeige. Probleme wie patriarchale Gewalt, Frühverheiratung und sexueller Zwang werden angesprochen. Aber hinter der Fürsorge für die Mädchen und die jungen Frauen in Afrika steht für die Autor*innen der Studie das so genannte „Demografische Problem“ des subsaharischen Afrika. „Bis ins Jahr 2050 dürfte sich die Bevölkerung in Afrika südlich der Sahara verdoppeln – von heute etwas mehr als einer Milliarde auf knapp 2,2 Milliarden Menschen. Etwa ein Drittel der Einwohnerschaft des Kontinents ist derzeit zwischen zehn und 24 Jahre alt. … Knapp 639 Millionen Menschen, etwa zwei Drittel der Bevölkerung, sind unter 25 Jahre alt. Ob es den Ländern südlich der Sahara gelingt, Armut, Kriege und Hungersnöte langfristig hinter sich zu lassen, entscheidet sich an dieser Generation.“ Und: „Die wirtschaftlichen Folgekosten früher Schwangerschaften sind enorm. In manchen Ländern Afrikas südlich der Sahara werden sie auf bis zu 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts geschätzt“. Eile sei also geboten.

Es geht in der Studie nicht (nur) um Fürsorge und sexuelle Selbstbestimmung, denn die entscheidenden Stichworte heißen „Bevölkerungsbonus“ und „Bevölkerungsdividende“. Der „Bonus“ ist das Angebot an jungen Menschen – aber dieser Bonus müsse gehoben werden, wenn er zur Dividende werden solle. Die breite Pyramide der Bevölkerungsentwicklung müsse an der Basis gekappt werden, eine Eindämmung der Fruchtbarkeit sei erforderlich, wenn Afrika dem Beispiel der südostasiatischen „Tigerstaaten“ nachfolgen solle. Bildung ohne Geburtenbeschränkung führe zum Aufstand, wie man in Nordafrika gesehen habe. Also Bildung nur in Verbindung mit Geburtenkontrolle. Und natürlich müssten die jungen Frauen in die kapitalistischen Wertschöpfungsketten integriert werden, um die Dividende zu heben: „Nach Berechnungen ließe sich das Bruttoinlandsprodukt der Region um ein Drittel steigern, respektive um jährlich 500 Milliarden US-Dollar über mindestens 30 Jahre“.

Das Beispiel der sogenannten „Tigerstaaten“ ist indes nicht glücklich gewählt. Die extrem niedrige Reproduktionsrate führt dort nämlich längst zu Unsustainable Societies mit überalterten Bevölkerungen. Emiko Ochiai beschreibt für SO Asien den stillen Widerstand gegen den „familialism“ als wesentliche Ursache des Geburtenrückgangs, und das lässt sich auf afrikanische Gesellschaften genauso wenig übertragen wie die besonderen Bedingungen des Nachkriegsbooms in den „Tigerstaaten“.

Das Population Control Estabishment

Die in der Broschüre verbreiteten Einsichten stammen nicht aus Berlin. Beim Blick auf die Quellen treffen wir auf alte Bekannte aus dem Population Control Establishment. Insbesondere wird ein Aufsatz aus dem GHSP-Journal zitiert, in dem gleich alle 17 Sustainable Developemt Goals auf die Familienplanung quasi reduziert werden – die Zukunft des Planeten und ja, auch die Klimaerwärmung werden auf ein Zuviel an Menschen bezogen. Diese Argumentation würde nur gelten, wenn der ökologische Fußstapfen der Menschen in Afrika eben so groß wäre wie der der Menschen im globalen Norden. Das ist aber, wie Geroge Mobiot geschrieben hat, nicht der Fall: „Between 1980 and 2005, for example, Sub-Saharan Africa produced 18.5% of the world’s population growth and just 2.4% of the growth in CO2. North America turned out 4% of the extra people, but 14% of the extra emissions. Sixty-three per cent of the world’s population growth happened in places with very low emissions“. Und: „Around one sixth of the world’s population is so poor that it produces no significant emissions at all.“

Das Klimaargument setzt also voraus, dass die Menschen in Afrika den gleichen klima- und ressourcenzerstörenden Entwicklungsweg einschlagen werden wie in den klassischen Industriestaaten. Diese Vorstellung ist für das Population Control Establishment typisch. Es geht nicht um Ökonomie für die Menschen, sondern um die Optimierung der Bevölkerung für eine kapitalistische Entwicklung. Die feministische Kritik der 1990er Jahre hat immerhin bewirkt, dass Zwangssterilisierungen heute diskreditiert sind. Seit der Weltbevölkerungskonferenz von Kairo, 1994, sind reproduktive Gesundheit und reproduktive Rechte an deren Stelle getreten. Aber es handelte sich in Kairo doch nur um ein „Reframing“ der bekannten Inhalte; der biopolitische Ansatz wurde modernisiert und es wurde versucht, die Frauen als Verbündete zu gewinnen.

Wenn ein junges Mädchen vor einer unerwünschten Schwangerschaft bewahrt wird, gibt es dagegen keine guten Argumente. Indes verbirgt die Agenda des Population Control Establishments auch nach Kairo ein Geheimnis. Es gibt nicht nur eine Autonomie der Migrationen, sondern auch eine Autonomie der Reproduktion. Biopolitik geht nicht auf die Schnelle. Bevor die Europäischen Bevölkerungen in eine kapitalistische Reproduktion eingebunden werden konnten, gingen dem 150 Jahre Biopolitik, mehrere Kriege, Genocide und große Migrationsbewegungen voraus. In SO Asien spielten die Umstände einer „Compressed Modernity“ und ein spezifisches „Paradox of Marriage“ eine Rolle – und somit Umstände, die auf afrikanische Verhältnisse nicht übertragen werden können.

Wenn in einer Ökonomie der Warlords, der starken Männer, der großen Konzerne, des Raubbaus und des Land Grabbing auch noch die Migrationswege und damit auch die Remittenden blockiert werden, gibt es für reproduktive Ökonomien der Frauen und somit für die Mehrheit der Menschen in Afrika keine Zukunft. Eine klassische Industrialisierung ist im postindustriellen Zeitalter nicht mehr denkbar. Die Inwertsetzung von Diamanten, Rohstoffen und Ländereien ist zugleich eine relative Entwertung der Bevölkerungen. Anders als in den „Tigerstaaten“ geht die afrikanische Bevölkerung nicht als produktive Chance, sondern als Störpotential in die Kosten-Nutzen-Analyse des globalen Kapitals ein. Die jüngste Militarisierung des Sahel deutet in Richtung auf eine Entwicklung à la Afghanistan.

Nicht Militarisierung, nicht Bevölkerungspolitik, nicht Entwicklungshilfe, sondern Waffenembargos, Stärkung von feministischen Basisbewegungen, Stärkung der Kleinbauern und offene Migrationswege wären sicherlich ein Weg, der vielleicht keine Dividende verspricht, der aber das Überleben für alle sichern würde.

Der „Kriegsindex“

Seit der Arabischen Revolution ist „Youth Bulge“ zu einem stehenden Begriff geworden. Zu viel Jugend ohne Perspektive. In diesem Begriff impliziert ist die Auffassung, dass sich ein „demografisches Gleichgewicht“ durch Kriege wiederherstellen würde. Die CIA veröffentliche im Jahre 2015 folgende Karte:

Eine ähnliche Karte findet sich in der oben erwähnten Broschüre. Eine Darstellung der tatsächlichen Bevölkerungsdichte sähe ganz anders aus, aber hier geht es um Propaganda. Rote oder gar lila Zonen sind als Brennpunkte ausgewiesen. Hohe Geburtenraten entsprechen den Kriegszonen, Afghanistan inklusive. Bevölkerungspolitik wird hier nicht mehr mit reproduktiven Rechten assoziiert, sondern Youth Bulge steht für Männerüberschuss und Krieg.

In Deutschland hat sich Gunnar Heinsohn, und mit ihm die WELT, die ihm gern Raum zur Selbstdarstellung gibt, in diesem Zusammenhang profiliert. Heinsohn hat sich Ende der 70er Jahre mit schrillen Thesen zum Zusammenhang von Bevölkerungspolitik und Hexenverfolgung bekannt gemacht (die Lektüre zum Merkantilismus unbenommen), und er hat 20 Jahre später ähnlich schrill seinen Kriegsindex publiziert: „Für den Befund, dass es bei einem starken Ungleichgewicht zwischen karrieresuchenden jungen Männern und verfügbaren gesellschaftlichen Positionen zu Konflikten komme, ermittelte Heinsohn für den dafür erforderlichen Youth Bulge (Jugendüberschuss) einen Anteil von mindestens 30% der 15- bis 29-jährigen an der männlichen Gesamtbevölkerung. Vor allem für den arabischen Raum einschließlich der Palästinensergebiete umriss er 2003 die ab 2011 im „arabischen Frühling“ zum Ausbruch kommenden Potentiale.“ – so heißt es in Heinsohns Wikipedia-Eintrag, der eigentlich nur von ihm selbst geschrieben worden sein kann.

Der Krieg komme zur Ruhe, wenn eine genügend große Zahl an Männern getötet worden sei. Für die Gewalt gegen Frauen in diesen Kriegen bräuchte es wohl einen anderen Index. Das Reaktionäre an Heinsohns Ansatz ist aber nicht nur der implizite Chauvinismus, sondern darüber hinaus, dass er seinen Index als quasi ontologische Konstante beschreibt, jenseits aller historischen Entwicklungen. Das hat schon Marx besser gewusst in seiner Kritik an Malthus. Aber egal, ob es um den Kriegsindex geht oder um die Bevölkerungspolitik auch nach Kairo – das Gemeinsame beider Ansätze liegt darin, dass die Potentialität einer Ökonomie jenseits des Kapitalismus und die Potentialität der Migration ausgeschlossen werden.

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