08. März 2018 · Kommentare deaktiviert für „Türkische Flüchtlinge in Griechenland: Zuflucht beim Erzrivalen“ · Kategorien: Griechenland, Türkei

Spiegel Online | 08.03.2018

Die Türkei und Griechenland verbindet eine historische Rivalität. Nun aber suchen Tausende Türken in dem Nachbarland Schutz vor Präsident Erdogan. Was bedeutet das für das Verhältnis der beiden Staaten?

Aus Thessaloniki berichten Giorgos Christides und Maximilian Popp

Für Cangül Suner* waren Griechen die Anderen, Feinde, die mit den Osmanen brachen und die Türkei bekämpften. „Als Kindern wurde uns in der Türkei beigebracht, Griechen nicht zu trauen“, erzählt sie. „Ich kannte keine Griechen, ich war nie in Griechenland und trotzdem hatte ich ein schreckliches Bild von dem Land.“

Nun sitzt Suner gemeinsam mit ihrem Mann und zwei ihrer vier Kinder in einer Altbauwohnung in Thessaloniki, im Norden Griechenlands. Sie trägt Kopftuch, ein langes Gewand. Sie blickt aus dem Fenster, schüttelt den Kopf und sagt: „Ich lag falsch. Die Griechen haben mir und meiner Familie das Leben gerettet.“

Suner, Ärztin, 45 Jahre alt, floh vergangenen November gemeinsam mit ihrem Mann und ihren zwei minderjährigen Kindern aus der Türkei. Dort war sie als Anhängerin des Islamisten-Predigers Fethullah Gülen, einem Erzfeind von Präsident Recep Tayyip Erdogan, ins Visier der Behörden geraten. Die beiden erwachsenen Kinder blieben in der Türkei zurück. Nach zwei Tagen auf einer griechischen Polizeistation durfte die Familie Asyl beantragen und eine Wohnung beziehen. Weil Suner auch im Ausland Übergriffe von Erdogan-Anhängern fürchtet, will sie nicht, dass ihr echter Name in dem Artikel genannt wird. „Wir werden von den Griechen besser behandelt als von unseren eigenen Leuten“, sagt sie. „Für mich ist das noch immer ein Schock.“

Neues Zuhause beim alten Feind

Die Türkei und Griechenland sind Rivalen, seit sich die Griechen vom Osmanischen Reich losgesagt haben. Noch in den Neunzigerjahren standen beide Länder im Streit um eine Ägäis-Insel kurz vor einem Krieg. Anfang des Jahres ist der Konflikt neu entflammt, als ein türkisches Schiff in der Ägäis mit einem Boot der griechischen Küstenwache kollidierte.

Erdogan drohte Griechenland indirekt mit einer Militärintervention. Griechenlands Premier Alexis Tsipras beklagte sich auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos über den „aggressiven Nachbarn“. Doch während beide Politiker übereinander herziehen, ist Griechenland zu einem Zufluchtsort für Türken geworden. Fast 2000 Türken haben 2017 in Griechenland Asyl beantragt, etwa zehn Mal so viele wie im Jahr zuvor. Hinzu kommen Tausende türkische Migranten, die heimlich im Land leben oder Immobilien gekauft und deshalb eine Aufenthaltsgenehmigung erhalten haben.

Es sind vor allem Akademiker – Journalisten, Richter, Ärzte -, die die Türkei verlassen. Menschen wie Cangül Suner und ihr Mann.

Suner hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie mit Fethullah Gülen sympathisiert. Sie hat in einem Krankenhaus der Gülen-Gemeinde im Westen der Türkei gearbeitet und ein Konto bei einer Gülen-Bank unterhalten. Lange Zeit war das in der Türkei ein Grund, befördert, nicht verfolgt zu werden.

Hexenjagd statt Ermittlungen

Fethullah Gülen, der in den USA im Exil lebt, und Präsident Erdogan waren Verbündete im Kampf gegen das säkulare Establishment, zerstritten sich jedoch über Machtfragen. Es spricht vieles dafür, dass Gülen-Anhänger hinter dem gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli 2016 stecken, wie von der Regierung behauptet. Erdogan aber hat die Ermittlungen gegen mutmaßliche Verschwörer in eine Hexenjagd verwandelt. Er geht nicht nur gegen Menschen vor, bei denen ernsthafter Verdacht auf eine Beteiligung an dem Staatsstreich besteht, sondern gegen fast jeden, der in irgendeiner Weise in Verbindung zur Gülen-Sekte steht.

Die Suners wurden, wie so viele Gülen-Anhänger, über Nacht zu Terroristen. Ihr Vermieter warf sie aus der Wohnung. Der Bruder von Suners Mann, der im Bildungsministerium arbeitete, wurde verhaftet. Die Suners versteckten sich einige Monate lang bei Verwandten, bis sie sich im Herbst 2017 entschieden, zu fliehen. In den vergangenen Jahren haben sich Hunderttausende Menschen über die Türkei und Griechenland auf den Weg nach Europa gemacht. Die meisten von ihnen waren Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien oder dem Irak. Nun nützen erstmals Türken die Routen.

Cangül Suner hatte Angst, als sie aus der Türkei aufbrach. Sie wusste, wie streng die Grenze inzwischen bewacht und wie gefährlich der Weg ist. Erst vergangenen Herbst ertrank eine türkische Familie mit drei kleinen Kindern bei dem Versuch, die Ägäis zu überqueren.

Ein Schmuggler fuhr die Suners mit dem Auto von Istanbul nach Edirne, eine Stadt an der türkisch-griechischen Grenze. Gemeinsam mit zehn weiteren Flüchtlingen überquerten sie nachts in einem Schlauchboot den Grenzfluss Evros. Sie irrten durch einen Wald und über Felder. Sie waren nass, sie froren, als sie schließlich von griechischen Polizisten aufgelesen und auf die Wache in der Grenzstadt Orestiada gebracht wurden.

Exodus sorgt für Spannungen

Die Suners zogen weiter nach Thessaloniki, wo sich vor ihnen schon andere Flüchtlinge aus der Türkei niedergelassen hatten. Hilfe bekommen sie vor Ort von der NGO „Solidarity Now“, die unter anderem Sprachkurse organisiert.

Doch auch Glaubensbrüder aus der Gülen-Gemeinde halfen der Familie vor Ort, zum Beispiel bei der Suche nach einer Wohnung. Die Gülen-Bewegung hat ihre Aktivitäten weitgehend ins Ausland verlagert, nach Europa und in die USA, seit Erdogan ihre Anhänger in der Türkei als Terroristen verfolgt. „Time to Help“, eine Gülen-nahe Organisation, die früher Güter an Erdbebenopfer und Kinder in Krisengebieten lieferte, hilft nun Türken im Exil. In Thessaloniki verteilt die Gemeinde in einem Warenhaus Möbel, Klamotten und Spielzeug an ihre Mitglieder. Ein Großteil der Spenden kommt aus Deutschland.

Durch die Migration von Türken nach Griechenland brechen Klischees auf. Etliche Türken sehen in dem Nachbarland nicht länger nur einen Rivalen, sondern einen Staat, der Menschen in Not Schutz bietet. Umgekehrt sympathisieren viele Griechen mit dem Kampf der Türken gegen eine autoritäre Regierung.

Der Exodus sorgt jedoch auch für Spannungen. Griechenland hat in den vergangenen Jahren bereits Hunderttausende Menschen aus Syrien, Irak, Afghanistan beherbergt. Der Staat sieht sich nicht dazu in der Lage, nun auch noch eine hohe Zahl an türkischen Flüchtlingen aufzunehmen.

Zugleich drängt Erdogan darauf, Athen möge mutmaßliche Putschisten an die Türkei ausliefern. Vergangene Woche wurden zwei griechische Soldaten in der Türkei verhaftet. Die Behörden werfen ihnen illegalen Grenzübertritt vor. Die Soldaten beteuern, sie hätten sich bei schlechtem Wetter verlaufen. Griechische Politiker fürchten, dass die Soldaten als Faustpfand für einen Tauschhandel dienen sollen.

„Wir können nirgends völlig angstfrei leben“, sagt Cangül Suner. Die Familie hat einen Großteil ihrer Ersparnisse aufgebraucht. Cangül Suner belegt einen Online-Kurs in Physiotherapie. Sie hofft, irgendwann in Griechenland arbeiten zu können. Ihre Kinder gehen in Thessaloniki zur Schule, lernen Griechisch. Suner vermisst manchmal ihre Heimat, die Sprache, das Essen. Doch sie stellt sich auf eine Zukunft in Griechenland ein. „Solange Erdogan an der Macht ist“, sagt sie, „können wir nicht in die Türkei zurück.“

* Name geändert

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