10. Dezember 2017 · Kommentare deaktiviert für „Wie die ‚Aquarius‘ Flüchtlinge rettet“ · Kategorien: Italien, Libyen, Mittelmeer · Tags: ,

ntv | 09.12.2017

„Die Angst riecht nach Körpern“

Auf dem Meer vor Libyen werden Bilder verzweifelter Flüchtlinge plötzlich Wirklichkeit. Die Angst vor dem Ertrinken bleibt auch in der Nase hängen. Eindrücke vom Rettungsschiff „Aquarius“ im Mittelmeer.

„In gewisser Weise steigen wir nie von diesem Rettungsschiff.“ Es ist die Nachricht eines italienischen Kollegen, die mich Monate nach meinem Aufenthalt als dpa-Reporterin auf der „Aquarius“ erreicht. Er will damit sagen: Das, was wir auf dem Mittelmeer erlebt haben, wo Bilder verzweifelter Flüchtlinge plötzlich Wirklichkeit werden, wird uns nie wieder loslassen. Unser Aufenthalt fiel in eine Woche im Juni, in der binnen 36 Stunden 12.500 gerettete Migranten an den Häfen Italiens ihren Fuß auf europäischen Boden setzten. Und die Politiker später als Wendepunkt in der Flüchtlingskrise bezeichnen werden.

Wenige Monate vorher, ich höre die Oster-Predigt von Papst Franziskus im Petersdom, ploppt eine WhatsApp von der Hilfsorganisation „Jugend Rettet“ auf meinem Handy auf. „Es sind aktuell 3000 Personen auf dem Wasser und werden von Moas, Sea-Eye und uns stabilisiert. Die Situation ist hoch ungewöhnlich und die Todeszahlen sind noch nicht absehbar.“

Im April werden 13.000 Menschen gerettet. Im Mai sind es annähernd 23.000. 753 sterben. Wir schreiben nicht nur darüber, dass die Seenotretter Menschen in Sicherheit bringen. Wir berichten auch über die Probleme der Migration – und über die Kritik an den Helfern. Der Vorwurf: Die Rettungsaktionen spielen Schleppern in die Hände.

Im dpa-Büro in Rom sind wir uns einig: Die Lage im Mittelmeer mag nicht erst seit gestern dramatisch sein. Doch es verändert sich etwas. Es gibt viele Unsicherheiten und Fragen, als wir entscheiden, dass ich mit „Ärzte ohne Grenzen“ und „SOS Méditerranée“ auf Rettungsmission gehen soll. Wird der Einsatz wenige Tage oder drei Wochen dauern? Was, wenn es keine Rettung gibt? Und wie bereite ich mich überhaupt auf das vor, was ich vor der libyschen Küste sehen werde? Der Rucksack ist vorsorglich gepackt, in der Apotheke überzeugt man mich von einem Akupressur-Armband gegen Seekrankheit. Tag für Tag warte ich auf einen Anruf der Hilfsorganisationen. Als ich an einem Samstagabend im Juni mit Freundinnen aus Deutschland bei Pizza und Wein zusammensitze, kommt die SMS: „Liebe Lena, Montagmorgen müsstest Du spätestens in Pozzallo sein. Noch besser wäre morgen.“

„Kein Grund, ihn ersaufen zu lassen“

24 Stunden später sitze ich in der sizilianischen Küstenstadt mit erschöpften Rettern und Journalisten zusammen, die bei einem Bier von den vergangenen zehn Tagen im Mittelmeer erzählen. Eine Journalistin sagt zu mir: „Hoffentlich seid ihr bei einer Rettung dabei.“ Sie hat nicht die Bilder bekommen, die sie wollte. Sie ist enttäuscht. Als wir gegen Mitternacht zur Anlegestelle laufen, ist es am Hafen dunkel und menschenleer. Einer aus dem Rettungsteam sagt, er wolle sicher nicht jeden, den er da aus dem Wasser ziehe, als Nachbarn haben. „Aber auch wenn es ein Neonazi wäre. Es wäre kein Grund, ihn ersaufen zu lassen.“ Ich schlafe unruhig in der Zweibettkabine, die ich mir mit einer Kollegin vom britischen „Guardian“ teile. Da liegt die „Aquarius“ noch im Hafen.

Je näher wir Libyen kommen, desto mehr Spannung liegt in der Luft. Einen Tag hat die rund 30-köpfige Crew das Schiff für sich, bevor es die Gewässer vor der libyschen Seegrenze erreicht und jederzeit ein Boot mit Flüchtlingen am Horizont auftauchen könnte. Das blaue Wasser, die Mondsichel und der rosagefärbte Himmel wären auch eine gute Kulisse für einen Segeltörn. Ich bin aufgeregt. Weil andere Schiffe mit Geretteten bereits aus der Rettungszone abgezogen sind, rechnen alle damit, dass es früh losgeht.

Der Notruf kommt um 5.00 Uhr. In den darauffolgenden Stunden werden mehr als 730 Kinder, Frauen und Männer mit zwei Booten von einem riesigen Offshore-Versorgungsschiff auf die „Aquarius“ gebracht. Wo eigentlich Container lagern, harren die Migranten seit ihrer Rettung aus. Wenn ich nicht gerade Fotos oder Notizen mache, reiche ich Rettungswesten weiter. Blicke in Hunderte verzweifelte, verweinte, leere Gesichter. Als wir weiterfahren, gehe ich hoch auf die Kommandobrücke. Ich will mit dem Kapitän sprechen. Schon von der Treppe aus ist Stimmengewirr, das Rauschen des Funks zu hören. Der zweite Offizier drückt mir sein Fernglas in die Hand. „Guck mal, ob du es siehst.“ Ein überfülltes Schlauchboot auf dem offenen Meer. Menschen ohne Schwimmwesten mit angsterfüllten Gesichtern.

Die Liste der Bedürfnisse ist lang

Schon von weitem höre ich die Angst in ihren Schreien. Sie bleibt auch in der Nase hängen, als die Geretteten die „Aquarius“ betreten. Die Angst riecht nach Körpern, sauer, nach Meerwasser, gemischt mit Urin, Schweiß und im schlimmsten Fall auch Benzin.

Es wird ein langer Tag. Gegen 14.45 Uhr müssen die Retter noch mal mit Schnellbooten ausrücken, zu einem blauen Boot. Sein Gummi ist so dünn wie eine Bleistiftmine. An Bord sind etwa 150 Menschen, alle überleben. Wer nicht schon vorher krank war, ist spätestens nach 16 Stunden in der prallen Sonne erschöpft, dehydriert, hat schwerste Brandverletzungen und Verätzungen durch Benzin und Meerwasser.

Ein Helfer drückt mir unvermittelt ein dreijähriges Mädchen in die Arme. Die kleine Nahsat sagt kein Wort, klammert sich einfach an mir fest. Die Reise an den Ort, wo nach Ansicht des Papstes die größte Tragödie nach dem Zweiten Weltkrieg stattfindet, ist eine schmale Gratwanderung: Als Journalistin darf ich mich weder mit den Flüchtlingen noch mit den Helfern gemein machen. Später schicke ich meiner Schwester ein Bild von einem Baby und schreibe dazu: „Eine Woche alt, wäre heute fast ertrunken.“

Ich hatte keine Vorstellung davon, dass es an Deck, unter freiem Himmel, während ein Schiff volle Geschwindigkeit fährt, zu wenig Luft zum Atmen geben kann. Auf rund 20 Helfer kommen 1032 Menschen. Im stickigen Gewusel will ich mit den Menschen ins Gespräch kommen – fast unmöglich. „Ich habe Hunger“, „Wann gibt es etwas zu essen?“, „Mein ganzer Körper tut weh“, „Gibt es auch Betten?“, „Wann sind wir in Italien?“ Die Liste der Bedürfnisse ist lang. Wasser, Notfallrationen, frisches T-Shirt, Trainingshose, Decke, Handtuch. Das muss reichen für die nächsten 36 Stunden, es muss reichen, bis das Schiff in Italien anlegt.

Ich flüchte mich zwischendurch in die Kabine, kühle mich in der klimatisierten Luft ab, atme durch, schreibe. Das leckere Abendessen in der Schiffskantine löst Unbehagen in uns aus. Die Unterschiede fangen schon hier an.

Ein paar Stunden Würde

Und dennoch: Das Rettungsschiff ist der einzig sichere Ort auf einer langen Reise. Vorher: Armut, Hunger, Ausbeutung, Gewalt. Nachher: Ungewissheit, die zunächst noch Hoffnung ist. Auf dem Schiff bekommen die Zahlen aus den Nachrichten Gesichter und Namen. Charles Asamoa aus Ghana erzählt mir, er habe gewusst, dass Menschen auf dem Weg über das Mittelmeer sterben. „Aber es gab keinen anderen Ausweg.“ Aus Libyen, wo er in Lagern gefangen gehalten, ausgebeutet und misshandelt worden sei, erzählt der 45-Jährige. Es ist nicht nur seine Geschichte. „Ihr habt ein komfortables Leben“, sagt die 23-jährige Blessy, die aus Nigeria kommt. Die Nigerianerin Remi wünscht sich, dass ihre Kinder in Europa endlich zur Schule gehen können.

„Was du in den Augen der Menschen lesen kannst oder was sie während der Rettung fühlen, ist etwas komplett anderes, als wenn wir sie an Bord haben“, sagt der französische Seemann Stephane. „Hier werden sie wieder zu Menschen mit Würde, und dann, wenn wir Europa erreichen, verändern sich die Gesichter wieder.“ Die Migrationskrise dauert schon so lange, dass längst klar ist, wie viele Träume in Italien, Deutschland, Großbritannien zerplatzt sind. Nicht alle Migranten können sofort in dem kleinen Hafen in Süditalien von Bord gehen, als wir anlegen. Die Unterkünfte in der Region Kalabrien sind voll. Während die Helfer mit rund 500 von ihnen 24 Stunden auf dem Schiff warten müssen, ist unsere Reise nach nur vier Tagen zu Ende. Mit zwei italienischen Journalisten fahren wir im Taxi zum Flughafen, trinken Kaffee. Der eine Kollege klappt seinen Laptop auf, zeigt seine Videos. Der Anblick der zusammengepferchten Menschen auf den Booten erschüttert mich. Ich habe sie in Wirklichkeit gesehen. Plötzlich bin ich wieder Beobachterin von außen.

Die „Aquarius“ kreuzt noch immer unweit der libyschen Küste. Doch es kommen nicht mehr so viele Boote wie in dieser einen Woche im Juni. Von den europäischen Partnern im Stich gelassen, greift die Regierung in Rom selbst durch, hat die Rettungseinsätze unter neue Regeln gestellt, unterstützt die libysche Küstenwache dabei, die Menschen an ihrer Abfahrt nach Europa zu hindern. In dieser Todeszone besteht das Mittelmeer nach wie vor aus Wasser, Wellen und Gischt. Aber nach dem Sommer 2017 ist die unsichtbare Seegrenze spürbarer denn je.

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