27. Oktober 2017 · Kommentare deaktiviert für Flüchtlinge auf Lesbos: „Willkommen in der Hölle“ · Kategorien: Griechenland · Tags:

ARD Tagesschau | 27.10.2017

Ein Hochsicherheitstrakt – so sieht das Flüchtlingslager „Moria“ auf der griechischen Insel Lesbos aus. Drinnen gibt es unbeheizte Zelte und verschmutzte Toiletten. Doch wer hier nicht rein kommt, hat noch nicht einmal das.

Von Michael Lehmann, ARD-Studio Athen, zzt. Lesbos

Hohe Mauern, tonnenweise schwerer Stacheldraht, ein Wachturm mit viel Polizei und Security – „Moria“ sieht im Oktober 2017 noch genauso aus wie im April 2016, als der Papst es besucht und anschließend mit einem Konzentrationslager verglichen hatte.

Es sind wieder deutlich mehr neue Migranten angekommen: Etwa 5000 Neuankömmlinge registrierte das UNHCR allein im September – im Oktober waren es bisher knapp 4000 neue Flüchtlinge, die mit Booten von der Türkei über die kurze Ägäis-Route kamen. Die meisten davon nach Lesbos.

Kein fließend Wasser, keine Toilette

Nicht alle werden in den Hochsicherheitstrakt gepackt. Alaa Aldin Masriya aus Syrien steht vor seinem Zelt im Olivenfeld und blickt von außen auf die Stacheldraht-Mauern. Er versucht zu erklären, wie etwa 600 meist junge Männer in diesen Wochen ganz alleine klar kommen müssen: „Sie haben uns gesagt, ihr seid alleinreisende Männer, ihr könnt machen, was ihr wollt, aber ihr bleibt hier draußen. Drinnen im Lager leben jetzt Familien und die harten Jungs, die Streit angezettelt haben, die werden bewacht. Die netten Jungs bleiben draußen.“

Draußen leben heißt im Moment ohne Strom, mit extrem bescheidenen Essen: Zum Frühstück gibt es etwas Honig mit Brot und Wasser. Und ohne Toiletten und Duschen: Sich waschen müssen die Bewohner irgendwo in der Natur oder im Meer, nach drei Kilometern Fußmarsch. Noch ist das Wasser 22 Grad warm. „Wir brauchen eine saubere Toilette. Es ist grässlich, wenn man morgens aufwacht und nicht weiß, wo man aufs Klo kann und wo man sich waschen kann. Wir leben hier ohne das Allernötigste“, erzählt Alaa.

Das Leid hört in Europa nicht auf

Nebenan im bewachten Lager „Moria“ haben Journalisten bis auf wenige ausgewählte Einzelfälle keinen Zutritt. Das Wachpersonal im Innern sei teilweise extrem ruppig, hört man. Auch im Lager gebe es nur verschmutzte Toiletten und keine Privatsphäre für Frauen mit Kindern. Auch Schwangere müssen mangels anderer Alternativen wieder in Moria leben. Nur wer Glück hat, findet schnelle Hilfe – wie im kleinen Frauenhaus der Flüchtlingshilfe Bashira in der Altstadt von Mytilini. Und ein Badezimmer für sich alleine für 20 Minuten.

„Ich habe keine Ahnung, wie die Menschen so lange durchhalten“, sagt Sonja Andreu Barradas, die Bashira-Leiterin. „Gleich nach dem Aufwachen jeden Tag gibt es nur jede Menge Sorgen um das Nötigste.“ Gerade viele Frauen hätten schon auf der Flucht extrem gelitten. „Sie hatten große Hoffnung auf Europa – und das erfüllt sich auf Lesbos nicht. ‚Welcome in Europa‘ heißt für viele ‚willkommen in der Hölle‘.“

Extreme Notsituation auf Lesbos

Über Selbstmordversuche und häufige psychische Erkrankungen hatte die Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ Mitte des Monats berichtet. Boris Cheschirkow ist beim UN-Flüchtlingshilfswerk für die Hilfe auf den griechischen Inseln verantwortlich. „Viele in Europa und ganz besonders die griechische Regierung müssten jetzt schnell verstehen, dass das in Moria nicht einen neuen Winter lang so weitergehen kann“, sagt er.

Familien mit Kindern, darunter auch Neugeborene, müssten in Zelten schlafen, in unbeheizten Notbehausungen. Hilfe hätten sie kaum. „Das ist wirklich eine extreme Notsituation, weil Moria auf Lesbos dermaßen überfüllt ist.“

Etwas Würde – auch im Tode

Und auch das gehört zum Flüchtlingsalltag auf Lesbos: Frauen, als Asylbeweberinnen anerkannt, reisen für einen Tag vom Festland auf die Insel. Sie sind Überlebende des Bootsunglücks vom April dieses Jahres – 16 Flüchtlinge waren dabei in der Ägäis gestorben. Für die so schnell im Meer verschwundenen Toten wurde in dieser Woche ein Kreuz auf Lesbos errichtet. Ein Gedenken im Stillen, ohne Presse. Flüchtlingshelfer organisierten es gemeinsam mit den Frauen, die das Unglück überlebt hatten, weil sie sich im Wasser irgendwie an ihre Handtaschen geklammert hatten und nicht untergingen.

Wichtig sind solche Momente, auch wenn sie für alle Beteiligten traurig sind, sagt Klaus Stramm, Seenotretter bei der Hilfsorganisation „Seawatch“: „Man muss Zeichen setzen. Man kann die Toten nicht nur in Zahlen verwandeln. Das geht nicht. Jeder einzelne Mensch hat das Recht, hier würdig behandelt zu werden – auch im Tode.“

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