11. Oktober 2017 · Kommentare deaktiviert für „Zurück auf der Geheimroute“ · Kategorien: Italien, Tunesien · Tags:

Süddeutsche Zeitung | 10.10.2017

Seit einiger Zeit kommen wieder zunehmend Migranten aus Tunesien übers Mittelmeer. Die Route galt eigentlich längst als unwichtig. Aber nun sieht es so aus, als hätten die tunesischen Schleuser italienische Komplizen.

Von Oliver Meiler, Rom

Ein Bootsunglück rückt eine alte Fluchtroute über das Mittelmeer mit neuer Dringlichkeit ins Zentrum der italienischen Aufmerksamkeit. Zugetragen hat es sich vor den Kerkennah-Inseln, einem tunesischen Archipel. In der Nacht auf Montag kollidierten dort ein Fischerboot mit ungefähr 70 Passagieren, das in Sfax abgelegt hatte, und ein Schiff der tunesischen Marine. Wie das passieren konnte, ist noch unklar. Wahrscheinlich lief eine Kontrolle schief. Das Boot ging sofort unter. 38 Menschen konnten gerettet werden, acht wurden tot geborgen, zwanzig gelten als vermisst. Die Reise hätte sie nach Lampedusa oder Sizilien bringen sollen.

Seit einigen Wochen häufen sich Überfahrten auf dieser Strecke, von der man dachte, sie sei nachhaltig stillgelegt worden. In den vergangenen Jahren flüchteten fast keine Migranten mehr von Tunesien nach Italien. Es wäre verlockend, die Reaktivierung der Route in einen direkten Zusammenhang mit der jüngsten Entwicklung in Libyen zu bringen. Von dort kommen plötzlich viel weniger Flüchtlinge. Warum, ist noch immer schleierhaft. Die libysche Küstenwache trägt dazu bei, die neuerdings viele Migranten aus Westafrika an der Fahrt nach Italien hindert. Ihre Beamten wurden von italienischen Kollegen ausgebildet. Italien lieferte auch Schnellboote und Apparaturen an Libyen. Zudem sollen berüchtigte Milizen im Westen von Tripolis überzeugt worden sein, ihr Schleusergeschäft aufzugeben und die Küste zu sichern. Warum sie einwilligten, ist weiter mysteriös. Offen auch, ob sie sich dauerhaft daran halten.

Tatsache aber ist, dass im Juli, August und September die Überfahrten aus Libyen um mehr als die Hälfte zurückgingen im Vergleich zu Sommer 2016. Ein kleiner Teil der Migranten, ist man in Italien überzeugt, versucht sein Glück auf der Alternativroute. Sie reisen dafür von Libyen nach Zarzis an Tunesiens Südküste, um dort nach Italien überzusetzen. Der Großteil der Flüchtlinge, die in Tunesien ablegen, sind aber junge Tunesier. Auch auf dem Unglücksboot aus Sfax reisten nur Tunesier.

Am teuersten sind die kürzesten Fahrten in sicheren Booten für höchstens 20 Passagiere: Von Cap Bon, der nördlichsten Landspitze, an die Küste zwischen dem sizilianischen Agrigent und Porto Empedocle – 2500 Euro. Italienische Medien nennen sie „Barche fantasma“, Geisterboote, weil sie allen Kontrollen entgehen. Kaum erreichen die Flüchtlinge Sizilien, meist nachts, ziehen sie frische Kleider über, die an den Stränden bereitliegen, und mischen sich unter die Bevölkerung. Offenbar arbeiten kleine tunesische Schlepperbanden mit italienischen Komplizen zusammen.

In Italien ist man verärgert, dass Tunesien nicht mehr unternimmt, um die „geheime Route“ besser zu kontrollieren. Auch die tunesische Küstenwache haben die Italiener ausgebildet und ausgerüstet. Die Länder haben ein Abkommen unterzeichnet, darin steht, dass die Italiener pro Woche 60 Tunesier zurückbringen können, die illegal eingereist sind. Aber erst müssen sie sie finden.

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Welt | 10.10.2017

Der Libyen-Deal hat die Einwanderung aus Nordafrika stark reduziert. Doch nun verdichten sich die Anzeichen, dass Tunesien gerade das neue Tor für illegale Einwanderung wird.

Von Beat Stauffer

„Die Gruppenflucht der Söhne und Töchter Tunesiens auf Schiffen nach Italien geht weiter“, heißt es bei „Mahdia News“, einer lokalen Nachrichtenseite im Internet. „Sie emigrieren, weil sie in Tunesien ignoriert werden und wegen der hohen Arbeitslosigkeit. Möge ihnen Gott das Gute bringen.“

Auch auf der Webseite von Ben Guerdane TV, die als zuverlässig gilt, geht es um das Thema. Sie meldet, 17 Schiffe mit illegal ausreisenden Migranten, sogenannten Harragas, hätten zwischen dem 24. und dem 30. September die italienische Küste erreicht. Die jungen Männer, die auf den Bildern zu erkennen sind, sind zumeist kräftig gebaut, tragen schwarze Lederjacken und Baseballmützen oder Kapuzenpullover.

Die kleinen, lokalen News-Portale sowie Videos und Kommentare in den sozialen Netzwerken vermitteln einen guten Einblick in das Thema Emigration aus Tunesien und vor allem in die Mentalität der jungen Harragas. In den größeren tunesischen Medien und vor allem im staatlichen Fernsehen wurde das Thema bis vor Kurzem nur am Rande behandelt. Erst als tunesische Migranten zu Hunderten in Lampedusa und Sizilien ankamen und in Italien darüber berichtet wurde, nahmen auch tunesische Medien das Thema auf.

Mindestens 60 Boote mit 30 bis 50 Passagieren

In Tunesien ist es in den vergangenen fünf, sechs Wochen offenbar zu einem starken Flüchtlingsanstieg gekommen. Nach Einschätzungen von Beobachtern ist sie zurzeit so hoch wie zuletzt im Frühjahr 2011, als nach dem Sturz des Ben-Ali-Regimes innerhalb weniger Wochen rund 40.000 Tunesier das Land verließen. Allerdings gibt es immer noch wenige offizielle Informationen, denn die Regierung möchte ihre Beziehungen zu Europa nicht belasten.

Doch wie viele Migranten sind in den vergangenen Wochen tatsächlich illegal aus Tunesien ausgereist? Dazu gibt es nur grobe Schätzungen. Von den tunesischen Behörden ist einzig die Zahl der Harragas zu erfahren, die beim Versuch der Ausreise im September festgenommen wurden. Danach soll es sich um 554 Personen handeln.

In einem unveröffentlichten Bericht einer tunesischen Nichtregierungsorganisation ist allerdings die Rede von mindestens 60 Booten zu je 30 bis 50 Passagieren. Das wären zusammengerechnet zwischen 1800 und 3000 Menschen.

Ersatz für die Libyen-Route

Diese Zahl deckt sich weitgehend mit den Angaben der Behörden in Italien, die von rund 2700 Migranten aus Tunesien sprechen, die in den vergangenen Wochen angekommen sein sollen. Experten gehen allerdings von einer hohen Dunkelziffer aus, da es vielen Migranten gelingen dürfte, sich in Italien der behördlichen Registrierung zu entziehen.

Der Hauptgrund für die starke Zunahme der illegalen Ausreisen aus Tunesien ist nach Ansicht von Experten die weitgehende Schließung der Migrationsroute über Libyen. Tunesier, aber auch viele Algerier und Marokkaner, die nach Europa ausreisen wollen, wählen heute den Weg über die tunesische Küste.

Dazu kommen Flüchtlinge, die Libyen verlassen konnten, aber auch solche aus verschiedenen afrikanischen Ländern, die ohne Visum nach Tunesien eingereist sind. Ein weiterer wichtiger Grund für den Anstieg ist die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage im tunesischen Hinterland.

Attentäter von Marseille soll über Tunesien gereist sein

Die Kritik an der tunesischen Küstenwache nimmt zu, auch wenn die Entschlossenheit vieler junger Männer, das Land zu verlassen, außerordentlich hoch und eine Kontrolle ihrer Ausreise sehr schwierig ist. Aber es mehren sich auch die Vorwürfe, Grenzwächter und andere Sicherheitskräfte ließen sich zunehmend von Schleppern bestechen.

Und die tunesische Regierung soll angesichts der starken sozialen Spannungen in vielen Regionen ein Interesse daran haben, frustrierte, arbeitslose junge Männer nach Europa ziehen zu lassen. Und schließlich halten es manche Beobachter auch für denkbar, dass Tunesien die illegale Auswanderung als Druckmittel gegenüber der EU einsetzt, um zusätzliche Finanzhilfen zu erhalten.

Sollte dies tatsächlich zutreffen, wäre dies eine überaus riskante Strategie. Denn die Indizien verdichten sich, dass sich unter den Harragas aus Tunesien auch abgelehnte und abgeschobene Asylbewerber befinden, die erneut nach Europa zurückkehren wollen, und möglicherweise sogar gewaltbereite Islamisten.

So soll Ahmed Hanachi, der Attentäter von Marseille, laut der tunesischen Zeitung „Business News“ von der nordtunesischen Stadt Bizerta aus in der letzten Septemberwoche als illegaler Migrant nach Italien gelangt sein. Er war zuvor von den deutschen Behörden nach Tunesien abgeschoben worden wegen des Verdachts, mit dem Attentäter vom Berliner Weihnachtsmarkt in Verbindung gestanden zu haben.

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La Stampa | 10.10.2017

Tunisia, quei ragazzi delusi dalla Primavera araba: “Qui non c’è lavoro, tentiamo la via del mare”

A settembre ne sono arrivati 1400: salpano al buio per sfuggire ai controlli

Niccolò Zancan

Lo stipendio di un insegnante con 34 anni di anzianità è il corrispettivo di 380 euro. Quello di un meccanico apprendista non supera 130 euro. Agricoltura povera. La vecchia ferrovia che trasporta fosfati. Se si esclude il turismo messo in crisi da tre diversi attentati terroristici fra il 2015 e il 2016, non c’è molto altro per vivere nel Sud della Tunisia. Il dinaro è ai minimi storici. Anche i pescatori lamentano guadagni insufficienti, nella perenne contesa con i colleghi italiani di Mazara del Vallo. È da qui che scappano i ragazzi tunisini. Da Sfax, da queste coste. Di nuovo migranti. Di nuovo per mare. Consapevoli di rischiare la morte, come sono morti molti dei loro fratelli maggiori. Ma senza neanche la Primavera Araba a sospingerli verso l’Europa.

Era iniziato tutto nella città sperduta di Sidi Bouzid, a 100 chilometri da Sfax, il 17 dicembre 2010. Un venditore abusivo di frutta e verdura di nome Mohamed Bouazizi si era dato fuoco davanti all’ufficio del governo. Un vigile gli aveva sequestrato ancora una volta il carretto e le poche patate che stava cercando di vendere. Il gesto disperato e pubblico di Mohamed Bouazizi, che morì in ospedale dopo 18 giorni di agonia, divenne simbolico. Mesi di rivolte, il presidente Ben Ali costretto alla fuga. Fu l’inizio dei grandi sommovimenti nel Nord Africa, la prima ondata migratoria. Nel 2011 a Lampedusa arrivarono in 51 mila: più di due terzi erano tunisini.

Oggi, se vai a Sfax, ti raccontano tutti di come la Primavera Araba sia stata una grande illusione. «Non c’è lavoro, nessun futuro», dicono i ragazzi che stanno per tentare l’attraversata. Scappano dalla miseria. Dalla poca libertà. Anche da storie come questa: il 29 settembre una coppia è stata condannata a 4 mesi e mezzo di carcere per un bacio in spiaggia giudicato «oltraggio al pudore». Scappano perché pensano di trovare in Europa tutto quello che manca nelle loro vite. Affrontano un viaggio molto rischioso, complicato anche dalla Guardia costiera tunisina, che riceve soldi dal governo italiano con il preciso compito di bloccarli prima che passino le acque internazionali. Ecco perché il posto delle partenze è diventata una spiaggia sull’estremità settentrionale dell’isola di Kerkennah, a un’ora di traghetto da Sfax. Un porto remoto. Proprio davanti alle coste siciliane, fra Agrigento e Porto Empedocle.

Eravamo lì due settimane fa. È ripreso il contrabbando di sigarette e il traffico di esseri umani. Il solo parlare di «migranti» creava molti fastidi fra i poliziotti di guardia al porto. Per ogni ragazzo che tenta la via del Mediterraneo e passa, l’accordo con il governo italiano potrebbe subire un contraccolpo. L’ordine era quello di sminuire il fenomeno. Ma è un fatto che solo a settembre 1400 tunisini siano stati intercettati in Italia, mentre nei 7 mesi precedenti erano stati in tutto 1350. Qualcosa deve essere cambiato. Nulla che c’entri con la chiusura della rotta libica. Perché da Kerkennah, davanti a Sfax, partono soltanto tunisini. La televisione ripropone spesso l’intervista a un migrante «pentito» di nome Hichem Manouba che ha provato due volte, ha rischiato di morire e adesso consiglia a tutti di restare in Tunisia. Ma non serve. Si imbarcano quasi ogni giorno, sempre di più. I dati reali delle partenze sono sottostimati, perché non tengono conto di tutti quelli che effettivamente riescono a sbarcare e dileguarsi. È proprio questo che chiedono i ragazzi: arrivare sulle coste siciliane di notte, mettersi a correre e sparire come fantasmi. Tutti sanno che dentro quel mare si può morire. Ma pensano anche che sia l’unica speranza per vivere.

Il viaggio fino a Kerkennah si fa in traghetto. Le navi della compagnia Sonotrak vanno avanti e indietro, ogni due ore, dal porto di Sfax. L’attraversata per l’Italia costa poco, ma non così poco da non essere comunque un affare per i trafficanti: da 300 a 500 euro a passaggio. Piccole barche da pesca si mettono in viaggio puntando le stelle. Devono sfuggire ai radar. Salpano con il buio, a luci spente. E con il buio devono arrivare. Quando incontri uno di questi ragazzi e gli domandi se sappia nuotare, spesso risponde così: «No. Ma arriverò lo stesso. Se Allah vorrà».

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