08. Oktober 2017 · Kommentare deaktiviert für „Abschiebung: An der Grenze des Rechts“ · Kategorien: Deutschland, Italien, Schengen Migration · Tags: , ,

Zeit Online | 08.10.2017

918 Asylbewerber hat Deutschland im ersten Halbjahr 2017 zurück nach Italien geschickt. Einer davon ist Jonathan Odukoya. Jetzt lebt er in Sizilien auf der Straße.

Von Veronika Völlinger, Syrakus

Weil der deutsche Rechtsstaat gleichzeitig funktioniert und nicht funktioniert hat, lebt Jonathan Odukoya* auf acht Granitstufen vor einer Bauruine in Syrakus auf Sizilien. Auf dem Absatz vor der verbarrikadierten Tür hat er in den vergangenen drei Monaten oft übernachtet. Rechts um die Ecke ist der Bahnhof von Syrakus, links um die Ecke der Busbahnhof, wo täglich Hunderte Touristen in der antiken Küstenstadt ankommen.

Der junge Mann aus Nigeria ist einer von 918 Migranten, die Deutschland in den ersten sechs Monaten dieses Jahres zurück nach Italien abgeschoben hat. Denn gemäß den Dublin-Regeln der EU sind die deutschen Behörden nicht für seinen Asylantrag zuständig. Sondern Italien, wo er 2013 zuerst europäischen Boden betreten hat.

Dass Dublin-Rückkehrer wie Odukoya in Italien obdachlos werden, davor hatten deutsche Gerichte gewarnt. Als in den vergangenen Jahren Hunderttausende Menschen in Italien ankamen und das Asylsystem völlig überforderten, setzten deutsche Gerichte die Abschiebungen in das Land an der EU-Außengrenze in vielen Fällen aus. Zu schlecht seien die Lebensbedingungen für die Dublin-Rückkehrer, befanden die Behörden. Noch im September 2016 sah das Verwaltungsgericht München im Fall eines anderen Nigerianers die erhebliche Gefahr, „dass der Asylbewerber in Italien keine Unterkunft findet oder in überbelegten Einrichtungen auf engstem Raum oder sogar in gesundheitsschädlichen oder gewalttätigen Verhältnissen untergebracht wird“. Das verstieße gegen die Europäische Menschenrechtskonvention.

„In Deutschland war meine Zukunft“

Für Jonathan Odukoya ist es trotzdem genau so gekommen. Er deutet auf die staubigen Stufen neben ihm. „Vor Kurzem wurde mir hier im Schlaf mein Handy geklaut“, sagt er. Das Gleiche ist ihm mit seiner Tasche mit all seinen Besitztümern in Catania passiert, der chaotischen 300.000-Einwohner-Stadt am Fuß des Ätna 70 Kilometer nördlich von Syrakus. Eigentlich sind die Behörden in Catania für ihn zuständig. Weil er dort bestohlen wurde und nicht zurecht kam, fuhr er nach Syrakus. Nur in Catania könnte er sich um neue Aufenthaltspapiere bemühen. Odukoya glaubt trotzdem, dass es in Syrakus einfacher ginge. „In Catania sind zu viele Flüchtlinge und Catania ist zu groß“, sagt er.

Oft hat er starke Bauchschmerzen. Nierensteine hatten die deutschen Ärzte festgestellt, sagt Odukoya, im Juni hätte er in Deutschland einen Termin zur Magen- und Darmspiegelung gehabt. Aber da war er schon wieder in Italien, und ohne Papiere hat er hier keine Möglichkeit, zum Arzt zu gehen. Gegen die Schmerzen raucht er Marihuana, sagt er, und er isst fast nichts. Odukoya zieht sein rotes T-Shirt und die Ketten um seinen Hals hoch, eine silbern, eine golden. Er ist schmal. „Früher sah ich anders aus“, sagt er und zuckt mit den Schultern.

Der junge Nigerianer holt seine abgelaufene Aufenthaltsgestattung aus Deutschland aus dem Geldbeutel und faltet das abgegriffene Papier auseinander. „Alles war gut“, sagt Odukoya. „In Deutschland war meine Zukunft.“ Er hatte sich aus Nigeria nach Europa aufgemacht, weil dort immer wieder Gewalt herrscht und weil er nicht von seiner Arbeit leben konnte. Deutschland sollte es werden, weil er in der nigerianischen Hauptstadt Abuja für den deutschen Baukonzern Julius Berger eine Zeit lang als Lkw-Fahrer gearbeitet hat.

Gestrandet in Deutschland

Im September 2013 erreichte er über das Mittelmeer Italien und beantragte Asyl. Sein Antrag wurde abgelehnt, er erhielt aber einen Aufenthalt aus humanitären Gründen. Trotzdem blieb Odukoya eineinhalb Jahre im berüchtigten, riesigen Lager in Mineo auf Sizilien, das eigentlich nur eine Erstaufnahmeunterkunft ist. Irgendwann reiste er weiter, überquerte Grenzen, und keiner merkte es.

Odukoya kam 2015 in Baden-Württemberg an, die Polizei schickte ihn zur Landeserstaufnahmeeinrichtung in Karlsruhe. Dann lebte er mehr als zwei Jahre lang in der süddeutschen Idylle im Landkreis Esslingen. Er lernte Deutsch, machte in einem Restaurant ein berufsvorbereitendes Praktikum und konnte regelmäßig zum Arzt gehen. Denn Deutschland brauchte viel länger als die erlaubten sechs Monate, um zu prüfen, ob es gemäß der Dublin-Regeln überhaupt zuständig für sein Asylverfahren war. „Sie hätten mich direkt wieder nach Italien zurückschicken sollen“, sagt Odukoya jetzt. „Die Zeit war verschwendet, ich habe nichts mehr.“

In einer Nacht im April dieses Jahres weckten ihn zwei Polizisten im Hochbett seiner Containerunterkunft. „Bist du Jonathan?“, fragten die Beamten. „Dein Aufenthalt in Deutschland ist zu Ende.“ Odukoya protestierte: „Ich muss morgen arbeiten.“ Die Polizisten brachten den schlaksigen Nigerianer zum Streifenwagen. Jonathan Odukoya saß kurz allein im Auto, er wartete, dann öffnete er die Tür und rannte davon. Zwei Wochen lang tauchte er in einer Kirche unter.

Es lief so, wie es die Gesetze vorsahen

„Jonathan, komm zurück, ich versuche, was ich kann“, sagte sein Betreuer aus seiner alten Unterkunft am Telefon. Der junge Nigerianer vertraute ihm und kam. Als er in einem Laden in der Nähe des Restaurants, in dem er für neun Euro pro Stunde arbeitete, neues Guthaben für sein Handy kaufen wollte, sprachen ihn zwei Männer an: „Bist du Jonathan?“ Dieses Mal klickten die Handschellen. Zivilbeamte hatten ihn aufgespürt, er landete im Abschiebegefängnis in Pforzheim.

Es lief so, wie es die Gesetze vorsahen: Deutschland war gemäß der Dublin-Regeln der EU nicht zuständig für einen Asylbewerber aus Italien, er hatte sich seiner Abschiebeanordnung widersetzt, kam deshalb in Gewahrsam. Einen Eilantrag gegen seine Abschiebung lehnte ein Gericht ab. Nach 30 Tagen, es war Mitte Mai, stieg Jonathan Odukoya mit zwei Polizisten in ein Flugzeug. Es flog mit ihm und Sitzreihen voller Touristen Richtung Italien. Die Polizisten waren freundlich, erinnert sich Odukoya. „Das ist nicht das Ende der Welt“, sagte einer.

Was er in den vergangenen vier Jahren in Italien und Deutschland erlebt hat, erzählt viel darüber, was in den Asylsystemen Europas schiefläuft. Einerseits schreibt das Bundesinnenministerium als Antwort auf eine aktuelle Bundestagsanfrage: „Die Bundesregierung ist der Auffassung, dass Italien über ein im Wesentlichen ordnungsgemäßes, richtlinienkonformes Asyl- und Aufnahmeverfahren verfügt.“

Andererseits lassen aktuell das Bundesverwaltungsgericht und der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg beim Europäischen Gerichtshof klären, ob Dublin-Abschiebungen unzulässig sind, wenn den Asylbewerbern dort Menschenrechtsverletzungen und Obdachlosigkeit drohen.

Gerichte uneins über Abschiebungen nach Italien

„Viele Flüchtlinge wissen nicht, was ihnen passieren kann, wenn sie Grenzen überqueren, sie wissen nichts über das Dublin-System“, sagt Lucia Borghi von Borderline Sicilia. Die Organisation arbeitet mit dem deutschen Verein Borderline Europe zusammen, der für seine Flüchtlingsarbeit den Aachener Friedenspreis erhielt. In den italienischen Asylzentren werde Flüchtlingen nichts über ihre Perspektiven erklärt. „Nach ein bis zwei Jahren ziehen sie dann weiter“, sagt Borghi. Wenn sie dann zurück müssten, landeten viele auf der Straße. „Das italienische System erzeugt viele Illegale.“

„Ich wusste nicht, dass Europa so ist, ich bereue es, gekommen zu sein“, sagt Odukoya. Nach Nigeria will er trotzdem nicht zurück. „Ich kann nicht zurück mit leeren Händen“, sagt er. Odukoya steht von der Treppe auf und läuft mit federndem Gang los in die Nachmittagssonne. Er hat jetzt ein Treffen mit Simona Cascio, die für den Kulturverein Arci in Syrakus Asylbewerber und Migranten ohne Papiere berät. Er will wissen, ob er länger als eine Woche in einem Obdachlosenheim der Caritas bleiben kann, und wann er wieder Papiere bekommt. Bei der Caritas schläft er seit ein paar Tagen: Er kann um 18 Uhr kommen, bekommt ein Essen, das er nicht isst, eine Dusche, ein Bett und muss am Morgen um acht Uhr nach einer Tasse Kaffee wieder gehen.

Der Weg zur Beratung führt durch den kleinen Park vor dem Pantheon. Auf den Bänken unter Palmen sitzen junge Afrikaner, viele sehen noch jünger aus als Odukoya. Er geht rüber, sie schütteln die Hände. Weil es nichts zu tun gibt, sitzen er und die anderen hier tagsüber oft herum. Manchmal schläft er auch hier, und irgendwer kann ihm immer Gras gegen die Schmerzen besorgen. „Das ist nicht so wie in Deutschland, wo man die Sprache lernen kann und arbeitet, hier kann man nur rauchen und trinken“, sagt Odukoya.

Dublin-Rückkehrer müssen sich neu um Aufenthalt bemühen

Simona Cascio hat ihr Büro in einer fensterlosen Kammer im Hinteren des Sozialtreffs. Auf dem Drucker steht eine blaue Plastikwanne mit Papierstapeln, ein mächtiger Stahlschrank mit Akten lässt gerade noch Platz für den Schreibtischstuhl der Italienerin. Sie telefoniert lange mit dem Mann, der die Obdachlosenunterkunft führt. Dann sieht sie Jonathan Odukoya an: „Bis der Anwalt Neuigkeiten hat, kannst du weiter bei der Caritas übernachten, aber nicht für Monate“, sagt sie.

Bald ist der Asylanwalt wieder aus dem Urlaub zurück. Odukoya hofft, dass er ihm dann eine Aufenthaltsgenehmigung besorgen kann, um die sich Dublin-Rückkehrer neu bemühen müssen. Er ist nach wie vor überzeugt, dass er irgendwann einen richtigen Ausweis bekommt, mit dem er sich in ganz Europa bewegen kann. Cascio sagt, dass sie viele Fälle wie ihn hier in der Beratung hat. „Die meisten bekommen, wenn überhaupt, nur eine Aufenthaltsgenehmigung aus humanitären Gründen“, sagt sie. Diese gilt für ein Jahr.

Jonathan Odukoya steht auf und umfasst mit beiden Händen Simona Cascios Rechte: „Danke“, sagt er. „Bis nächste Woche“, sagt sie. Odukoya geht hinaus, für wenige Tage oder maximal Wochen weiß er jetzt, wo er übernachten kann. Die Tage wird er wieder am Bahnhof oder im Park rumhängen.

*Name geändert

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