05. September 2017 · Kommentare deaktiviert für „Die Lage der Flüchtlinge in Libyen: Misshandlung und Gewalt“ · Kategorien: Europa, Libyen · Tags: , ,

NZZ | 05.09.2017

Wenn Europa Flüchtende daran hindert, das Mittelmeer zu überqueren, ohne sich über deren Verbleib in Libyen zu kümmern, lädt es Schuld auf sich. Es muss Wege finden, die menschliche Not zu lindern.

Gastkommentar von Bruno Jochum

Am 11. August hat Médecins sans Frontières / Ärzte ohne Grenzen (MSF) beschlossen, einige der Rettungsaktionen im Mittelmeer einzustellen, nachdem die libysche Küstenwache erklärt hatte, dass sie private Seenotretter in ihrem erweiterten Sektor nicht länger dulden werde. Abgesehen von den jüngsten Entwicklungen der Lage haben wir es hier mit den konkreten Auswirkungen einer politischen Strategie zu tun, welche die EU-Mitgliedsstaaten verfolgen, um den Flüchtlingsstrom über das Mittelmeer aufzuhalten: der Auslagerung der Grenzsicherung an Drittstaaten. In einer Übereinkunft mit den libyschen Behörden wurden diese dazu verpflichtet, Boote am Auslaufen zu hindern und im Meer aufgegriffene Passagiere in libysche Internierungszentren zu bringen. Viele werden sich nun fragen, wo das Problem liegt, wenn auf diese Weise dem Sterben im Mittelmeer ein Ende gesetzt wird.

Die medizinischen Teams von MSF sind vor Ort in libyschen Internierungszentren und versuchen, die dort festgehaltenen Männer, Frauen und Kinder zu versorgen, so gut es geht. Diese Zentren befinden sich unter der Zuständigkeit verschiedener Gruppierungen, unter anderem bewaffneter Milizen und krimineller Banden, die keinen Gedanken daran verschwenden, ob die Grundrechte der Festgehaltenen gewahrt werden. Männer und Frauen sind Opfer von Gewalt, sexuellem Missbrauch und Folter, von Erpressung, Zwangsarbeit und Versklavung. Flüchtlinge und Migranten sind in Libyen systematischen Misshandlungen ausgesetzt, und Europa hat beschlossen, das zu billigen, indem es Menschen dorthin zurückschickt.

Die Aufgabe von MSF als medizinisch-humanitärer Organisation ist es nicht, über die legitime Zuständigkeit der Staaten für Grenzsicherung und Flüchtlingspolitik aufgrund demokratischer Entscheidungsprozesse zu urteilen. Es ist aber sehr wohl unsere Aufgabe, das Recht von Menschen auf eine würdige Behandlung, auf medizinische Versorgung und auf Schutz einzufordern. Wir verurteilen die zynische Entscheidung, einerseits Rettungseinsätze zu behindern und so de facto das Sterben im Meer hinzunehmen und andererseits menschenunwürdige Aufnahmebedingungen zu tolerieren oder gar zu fördern, um Menschen von der Fahrt über das Mittelmeer abzuhalten.

Europäische Staaten haben eine historische Verantwortung gegenüber den Flüchtenden. Erstens, weil ihre politische und militärische Involvierung in vielen Konfliktzonen ihnen eine moralische Verpflichtung gegenüber der Zivilbevölkerung überträgt, die zwischen die Fronten gerät und fliehen muss. Zweitens, weil sich die Staaten Europas als Verfechter der Flüchtlingskonvention seit Jahrzehnten für eine würdige Behandlung von Konfliktopfern einsetzen. Wenn es heute um vom Krieg zerrüttete Nachbarländer Europas geht, setzen ebendiese Verfechter ihre Glaubwürdigkeit aufs Spiel, indem sie Staaten unterstützen, welche die Rechte von Flüchtenden mit Füssen treten. Die Migrationsströme werden wohl weiter zunehmen, eine Antwort auf die Krise ist daher zentral. Eine politische Linie der Angstmacherei und die Errichtung von Mauern, mit denen das Problem auf den Nachbarn abgewälzt wird, vergrössern den Anteil von illegalen Outsidern und von Bürgern zweiter Klasse, die Gängeleien und Übergriffen krimineller Banden schutzlos ausgeliefert sind.

Einfache Lösungen gibt es nicht. MSF ruft daher die europäischen Staaten dazu auf, den humanitären Grundsätzen gerecht zu werden und den Menschen Schutz zu gewähren, die vor Gewalt und Ausbeutung fliehen und allenthalben auf Ablehnung stossen – mit Verweis auf die Sorge um die eigene Stabilität und Sicherheit. Wenn Europa Flüchtende daran hindert, das Mittelmeer zu überqueren, ohne sich über deren Verbleib in Libyen zu kümmern, macht es sich der Mittäterschaft schuldig und überlässt es den humanitären Organisationen, die grausamen Folgen dieser sträflichen Vernachlässigung zu behandeln – und das in einem Kontext, in dem deren Handlungsspielraum stark eingeschränkt ist.

Bruno Jochum ist Generaldirektor von Médecins sans Frontières / Ärzte ohne Grenzen (MSF) Schweiz.

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