02. September 2017 · Kommentare deaktiviert für „Kampf gegen Bootsflüchtlinge: Viele «schmutzige Deals» in Libyen“ · Kategorien: Italien, Libyen · Tags: ,

NZZ | 02.09.2917

Europa ist es gelungen, den Migrantenstrom aus Libyen markant zu drosseln. Ganz verschwinden wird der Menschenschmuggel aber kaum. Die libyschen Milizen benutzen ihn genauso als politisches Faustpfand wie es Ghadhafi tat.

von Christian Weisflog

Wenn du einen Feind nicht besiegen kannst, dann mache ihn dir zum Freund. Mit dieser Volksweisheit im Kopf ist es Italien offenbar gelungen, den Migrantenstrom von der libyschen Küste aus massiv zu drosseln. Mitte Juli brach die Zahl der Ankömmlinge an Italiens Küste abrupt ein. Erreichten zuvor bis zu 5000 Bootsflüchtlinge pro Tag europäischen Boden, waren es danach nur noch wenige hundert. Glaubt man den Berichten ausländischer Reporter in Libyen, dann hat Italien das Schlepperwesen mit dessen ureigenen, korrupten Methoden ausgehebelt. Rom bezahlte den lokalen Milizen ganz einfach einen höheren Preis als die Menschenschmuggler.

Fünf Millionen Euro für einen Monat

Im Grunde erhält die libysche Einheitsregierung in Tripolis bereits viele Millionen von der EU, um die illegale Migration zu bekämpfen. Wie jedoch zwei Sicherheitsbeamte in Sabrata der Nachrichtenagentur AP berichteten, flossen die italienischen Zahlungen direkt an lokale Milizen des einflussreichen Dabashi-Clans. Italienische Geheimdienstmitarbeiter hätten das Abkommen ohne Regierungsbeteiligung ausgehandelt. «Die Schlepper von gestern sind die Bekämpfer des Menschenschmuggels von heute.»

Diese Erzählungen decken sich mit dem Bericht der Journalistin Francesca Mannocchi für «Middle East Eye». Demnach sollen die Milizen fünf Millionen Euro erhalten haben, um die Migranten für mindestens einen Monat nicht in die Boote steigen zu lassen. Ein Sprecher der Dabashi-Miliz bezeichnete das Abkommen gegenüber AP unumwunden als «Waffenstillstand». Wenn seine Brigade aus Europa keine Unterstützung mehr erhalte, werde auch der Menschenschmuggel zurück sein.

«Ein Mafia-System»

Die Dabashis gelten als einer der einflussreichsten Clans westlich von Tripolis. Sie sollen nicht nur in den Menschen-, sondern auch in den Erdölschmuggel verwickelt sein. Da trifft es sich natürlich gut, dass ihre Milizionäre auch die Mellitah-Raffinerie zwischen Sabrata und Zuwara bewachen, eine Tochtergesellschaft des italienischen Energiekonzerns Eni. Der Bock ist somit der Gärtner. Und wie ein aktueller Bericht der Uno zeigt, handelt es sich bei dem Fall nicht um eine Ausnahme, sondern um die Regel in Libyen. Demnach ist etwa auch der Chef der sogenannten «Wächter der Erdölinfrastruktur» in Zawiya am Schmuggel mit dem schwarzen Gold beteiligt. Einer seiner Geschäftspartner ist dabei auch der Kommandant der lokalen Küstenwache, Abd al-Rahman Milad. Dieser entscheidet darüber, welche Schiffe in See stechen können, und nützt seine Machtstellung gnadenlos aus, um abzukassieren. Egal ob die Boote mit Erdöl oder Menschen gefüllt sind.

Von Libyen aus gelangt das Erdöl nach Malta, Griechenland, in die Türkei oder auch nach Italien. Die libyschen Milizen sollen ihr dunkles Geschäft dabei auch mithilfe der sizilianischen Mafia abwickeln. Kritiker warnen deshalb davor, diese Milizen für den Kampf gegen die Migration einzuspannen und sie durch grosszügige Geldzahlungen noch zu stärken. «Kurzfristig liefert das gute Resultate, langfristig führt es aber in ein noch grösseres Chaos. Es ist ein Mafia-System», sagt die investigative Journalistin Nancy Porsia, die lange von Tripolis aus berichtet hat, im Gespräch. Nun wartet sie in Tunis auf ein Einreisevisum. Ob sie es erhält, sei unsicher. Die libyschen Behörden mögen es offensichtlich nicht, wenn jemand zu gut hinter ihre Fassade sieht.

Fehlende Alternativen

Riskant ist die Strategie auch deshalb, weil die Milizen und ihr Schmuggelgeschäft in der gewöhnlichen Bevölkerung offenbar nicht sonderlich populär sind. Als im August 2015 in den Gewässern von Zuwara über 600 Flüchtlinge ertranken, formierte sich der öffentliche Widerstand gegen die Schlepper. Diese wurden aus der Stadt vertrieben. Vielleicht auch deshalb verfolgt Italien durchaus einen breiteren Ansatz. Weil es keine funktionierende Zentralregierung gibt, verhandelt Rom mit über einem Dutzend Bürgermeistern, deren Städte entweder an der Küste oder im Süden Libyens liegen. Die italienische Regierung verspricht ihnen wirtschaftliche und humanitäre Hilfe, wenn sie den Schmugglern das Handwerk legen. So hat etwa das Universitätsspital in Sabrata bereits elf Tonnen medizinisches Material erhalten.

Wer Italien und die EU in ihrem Vorgehen kritisiert, muss indes auch die Frage nach den Alternativen stellen. Nach dem Sturz des Diktators Muammar al-Ghadhafi 2011 versuchten Europa und die USA mit grosser Geduld, die oft islamistischen Milizen im Westen Libyens in einen neuen Staat zu integrieren. Und dies auch nachdem die Milizen das neu gewählte Parlament 2014 in den Osten des Landes vertrieben hatten und so zur Spaltung des Landes beitrugen. Man klammerte sich an die Hoffnung, dass das neue Libyen von unten und nicht durch ein Diktat von oben entstehen sollte. Als Gegenthese dazu bauten Russland, Ägypten und die Vereinigten Arabischen Emirate im Osten Libyens den Feldmarschall Khalifa Haftar auf, der die zerstrittenen Clans und Stämme wieder mit harter Hand vereinen will. Nach der Bildung der Einheitsregierung von Fayez al-Sarraj keimte 2015 neue Hoffnung. Doch auch sie konnte weder den Graben zwischen Ost und West überwinden noch die Milizen in und um Tripolis unter ihre Kontrolle bringen. In diesem Machtvakuum bleibt kaum eine andere Wahl, als mit den mächtigen Milizen zu kooperieren, um den grassierenden Menschenschmuggel schnell zu bekämpfen. Die einzige Alternative wäre wohl eine militärische Intervention gewesen mit all ihren Risiken.

Die Schlepper – Ghadhafis Kettenhunde

Die Schleppernetzwerke erreichten nach Ghadhafis Sturz – vor allem getrieben durch die Vielzahl von zahlungskräftigen syrischen Flüchtlingen – enorme Ausmasse. Doch sie existierten bereits zu Zeiten des libyschen Diktators. Nur wurden sie nicht von unzähligen Warlords, sondern von Ghadhafis Regime kontrolliert. Wie die Milizen heute nutzte auch Ghadhafi die Migranten als politisches Druckmittel. Er sei der Einzige, der Europa davor bewahren könne, schwarz zu werden, polterte der Diktator immer wieder. Im Jahr 2009 schloss er mit der italienischen Regierung von Silvio Berlusconi ein ähnliches Abkommen, wie es heute etwa auch mit der Türkei oder Marokko besteht. Rom versprach, jährlich 200 Millionen Dollar in libysche Infrastrukturprojekte zu investieren. Zudem lieferten die Italiener neue Schiffe an Ghadhafis Küstenwache. Dafür wurden im Gegenzug auf dem Mittelmeer entdeckte Bootsflüchtlinge nach Libyen zurückgebracht. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch sprach damals von einem «schmutzigen Deal» und prangerte die Misshandlung von Migranten in den libyschen Gefängnissen an.

Im Grunde also scheint sich die Geschichte zu wiederholen. Nur kauft Europa in Libyen nicht die Gunst eines grossen Diktators, sondern vieler kleiner Clans, Stämme und Warlords.


Lokale Machthaber als Partner

awy. ⋅ Die Bürgermeister der libyschen Hafenstädte sollen dafür sorgen, dass keine Migrantenboote mehr von Libyen in Richtung Italien losfahren. Sie sind die zentralen Partner der italienischen Strategie zur Verhinderung unerwünschter Zuwanderung. Dies erläuterte der italienische Innenminister Marco Minniti diese Woche an einer öffentlichen Veranstaltung in Pesaro an der adriatischen Küste.

Bei der Zusammenarbeit mit den libyschen Bürgermeistern gehe es nicht nur um die polizeiliche Verfolgung der Menschenhändler, sondern auch um den wirtschaftlichen Wiederaufbau. In Städten wie Sabrata sei der Menschenhandel heute der wichtigste Wirtschaftszweig. Es brauche alternative Verdienstmöglichkeiten für die Bevölkerung. 14 libysche Bürgermeister hätten bereits Masterpläne für die wirtschaftliche Erneuerung ihrer Städte vorgelegt, sie seien auf ihre Aufgabe vorbereitet.

Die Abmachung mit den Bürgermeistern ist laut dem Innenminister ganz einfach: «Ich sage ihnen, wenn sie uns helfen bei der Bekämpfung des Menschenhandels und bei der Bewältigung der Migrationsströme aus dem mittleren Afrika, dann unterstützen wir sie beim Aufbau einer neuen Wirtschaft in ihren Gebieten.» Am Migrationsgipfel am Montag in Paris sei der italienische Ansatz begrüsst worden. Minniti hat auch schon einen groben Kostenvoranschlag für die Europäische Union: Sechs Milliarden Euro soll die Abschottung gegen Migranten auf der zentralen Mittelmeerroute kosten, gleich viel wie auf der Balkanroute.

Minnitis Abschottungsstrategie ist originell und innovativ. Der Zentralstaat funktioniert in Libyen offensichtlich nicht, also wendet er sich an die lokalen Machthaber in den Küstenstädten, die ihr Territorium einigermassen im Griff haben.

Hier greift der Italiener auf die historische Erfahrung seines eigenen Landes zurück. Stadtrepubliken prägten jahrhundertelang die Geschichte. Erst im 19. Jahrhundert entstand der italienische Nationalstaat als politische und territoriale Einheit. Aber die Macht der Städte ist im italienischen Denken bis heute verankert.

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