01. September 2017 · Kommentare deaktiviert für „Die Jahrhundertaufgabe“ · Kategorien: Afrika, Deutschland, Europa · Tags:

Der Freitag | 35/2017

Flucht und Tod Europa muss seine Wirtschaftspolitik mit Afrika auf eine faire Basis stellen und den Menschen dort eine Perspektive gebe

Albrecht von Lucke

Der Flüchtlingsgipfel in Paris hat eines deutlich gemacht: Die einstige deutsche Willkommenspolitik gehört der Vergangenheit an. Sie hat einer rigiden Abschottungspolitik Platz gemacht. Das erklärte Ziel: Illegale Migration nach Europa soll künftig erschwert und am besten unmöglich gemacht werden. Dafür wollen Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien mit afrikanischen Durchgangsländern wie Niger und Tschad, aber auch mit dem gescheiterten Staat Libyen intensiv zusammenarbeiten.

Dass gleichzeitig Schutzbedürftigen aus Afrika ein legaler Weg nach Europa ermöglicht werden soll, ist bisher nicht mehr als ein Placebo, ein bloßes Versprechen ohne Garantie – und zudem rechtlich höchst problematisch. Denn in Zukunft soll bereits auf dem afrikanischen Kontinent entschieden werden, ob die Flüchtenden einen Anspruch auf Asyl in Europa haben. Völlig ungeklärt bleibt dabei die Frage, wie ein derartiges Verfahren rechtsstaatlichen Ansprüchen genügen kann. Was damit dagegen in Kauf genommen zu werden droht, ist die Errichtung rechtsfreier Räume in riesigen Flüchtlingszentren.

Wer allerdings die Verantwortung für diese Entwicklung nur bei Angela Merkel ablädt, macht es sich zu einfach. Offensichtlich herrscht in der gesamten deutschen (wie der europäischen) Bevölkerung eine große Bereitschaft, dieser Abschottungslogik zu folgen. Zugespitzt formuliert: Aus dem einstigen Schandbegriff der „Festung Europa“ ist eine Verheißungsvokabel geworden. Und der Erfolg der AfD ist dabei nur die Spitze des Eisbergs.

Zur Erinnerung: Schon vor 13 Jahren schlug der damalige Bundesinnenminister Otto Schily vor, sogenannte Hotspots in Afrika einzurichten, um Migranten aufzuhalten und ihren Asylanspruch in „Clearingstellen“ zu prüfen. Laut Umfragen unterstützte schon damals fast die Hälfte der Deutschen diesen Plan – darunter überproportional stark junge Männer, also genau die einschlägige rechtspopulistische Kernklientel. Seit Beginn der großen Flucht infolge des Syrienkrieges ist die Bereitschaft zur Abschottung und Rückabschiebung noch weitaus größer geworden. Einerseits aus moralischer Gleichgültigkeit und zunehmender Abstumpfung, andererseits aufgrund eines fatalen Dilemmas.

Denn tatsächlich ist auch die bisherige Lage keine humanitäre Lösung. Bis heute können kriminelle Schlepperbanden Menschen auf völlig seeuntüchtige Boote setzen und lediglich außerhalb der Zwölf-Meilen-Zone verfrachten – immer in dem Wissen, dass die europäischen Staaten sie dann nach Europa bringen müssen. Auch dadurch kamen und kommen unzählige Menschen ums Leben. Gleichzeitig wächst der Anreiz, sich auf den hochgefährlichen Weg durch die Sahara zu begeben. Bis heute kann niemand genau sagen, wie viele Menschen im Mittelmeer ertrunken sind, aber ebenso wenig, wie viele bereits auf dem Weg durch Afrika ihre Leben verlieren.

Bei aller berechtigten Kritik an Merkels neu-alter Abschottungspolitik müssen sich daher auch ihre Kritiker ehrlich machen. Tatsächlich sind Flucht und Migration eine, wenn nicht die Jahrhundertaufgabe. Und auch die durchaus zu Recht geforderte Einführung eines Einwanderungsgesetzes wird so lange nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein, solange nicht die Ursachen der Flucht entschieden bekämpft werden.

Dabei war Fluchtursachenbekämpfung jahrzehntelang ein Mogelwort. Denn der Westen und speziell Deutschland machte Politik nach der Devise: „Aus den Augen, aus dem Sinn.“ Durch das Schengen-Abkommen und Deutschlands Mittellage in Europa, ohne eigene Außengrenze, wurde diese Politik der Abschiebung – der Flüchtlinge wie des Problems – fortgesetzt. Bis man die Augen nicht länger verschließen konnte: Erst die syrische Fluchttragödie 2015 brachte das Thema unübersehbar auf die Tagesordnung. Und so zynisch es klingen mag: Nur wenn die Flüchtlinge weiter vor Europas Urlauberküsten landen, wird ihr Elend nicht wieder verdrängt werden.

Nun aber muss sich an der wohl größten humanen Krise der Gegenwart die humanitäre Qualität der EU beweisen: Verstehen wir uns doch noch als eine offene Gesellschaft – oder tatsächlich als eine der brutalen Abschottung? Denn eines steht fest: Bürgerkriege und Staatszerfall, soziales Elend und die Zerstörung der Umwelt werden auch weiterhin die Menschen in Bewegung setzen. Millionen Verzweifelte warten nur darauf, endlich ihr altes Leben hinter sich zu lassen und ein besseres im gelobten Westen zu finden.

Die Politik der Abschottung geht diesem Problem nicht an die Wurzel. Die Lösung müsste bei einer gerechten Verteilung der Flüchtlinge in Europa beginnen – gegen den Egoismus der Nationalstaaten. Doch letztlich geht es um etwas Grundsätzlicheres, nämlich das westlich-kapitalistische Wohlstandsmodell. Das Geschäft der Schlepper mit der Not funktioniert nur aufgrund des immensen Wohlstandsgefälles zwischen Norden und Süden. Deshalb muss die EU endlich ihre Wirtschafts- und Handelspolitik mit Afrika auf eine gerechte Basis stellen und den Menschen eine lebenswerte Perspektive in ihrer Heimat ermöglichen. Dass dies auch im ureigenen Interesse Europas liegt, ist dabei vielleicht der größte Hoffnungsschimmer für Afrika. Denn solange das radikale Wohlstandsgefälle weiter existiert, wird die millionenfache Flucht nach Europa kein Ende finden.

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