Telepolis | 09.05.2017
Ein italienischer Staatsanwalt ermittelt gegen die freiwilligen Seenotretter unter dem Verdacht, dass sie heimlich mit Schleusern zusammenarbeiten würden. Die NGOs wehren sich gegen eine Hetzkampagne, die ihre Arbeit kriminalisiert
Es gibt für das, was vor den Küsten Libyens passiert, bisher keinen Ansatz einer Lösung, die politisch oder praktisch durchsetzbar wäre. Berichtet wird von fortlaufenden Härten, von noch mehr Tragödien, weiter antreibenden Hoffnungen der Migranten auf ein besseres Leben in Europa, von skrupellosen Schleusern, die daraus ein profitables Geschäftsmodell gemacht haben – und einem Streit über Vorwürfe gegen die NGOs, die sich in der Seenotrettung engagieren, in den sich italienische Politiker immer stärker einschalten.
Ein paar Zahlen zur Situation: Am Sonntag berichtete der Hohe Flüchtlingskommissar der UN, Filippo Grandi, von 6.000 Migranten, die am Wochenende über das Mittelmeer die italienische Küste erreicht haben. Damit erhöht sich laut UNHCR die Zahl der in Italien angekommenen Mittelmeer-Migranten im laufenden Jahr auf 46.000. Im vergangenen Jahr erreichten laut UN-Behörde 181.436 Migranten Italien und damit die EU auf diesem Weg.
„Lebensrettung hat allererste Priorität“
In den letzten vier Tagen seien 75 Migranten beim Versuch der Mittelmeerüberquerung ums Leben gekommen, so Filippo Grandi am vergangenen Sonntag. Insgesamt seien im laufenden Jahr 1.150 Migranten bei der Überfahrt verschwunden oder gestorben. Statistisch bedeute dies, dass jeder 35te Migrant auf dem Weg von Libyen nach Italien umkomme. Im letzten Jahr starben je nach Schätzung zwischen 4.600 und 5.000 Migranten auf der Mittelmeerroute nach Italien.
Die Lebensrettung habe allererste Priorität, sagte Grandi. Die Bemühungen dazu vonseiten der italienischen Küstenwache, von Frontex, der europäischen Grenz-und Küstenwache und die NGOs seien beachtlich, so Grandi, bemüht um einen versöhnlichen Ton, mit dem er an den „grundsätzlichsten Sinn für Humanität“ appellieren will. Scharfe Kritik richtete er an die Schleuser.
Skrupellose Schleuser und die NGOs im Kalkül
Er sei geschockt von deren Brutalität und deren Methode, immer mehr Personen auf untauglichen Booten zusammenzupferchen. Es wären immer häufiger Schlauchboote, die mittlerweile mit 100 bis 150 Menschen beladen würden, mit steigendem Risiko eines Schiffbruchs.
Genau an diesem Punkt setzen Vorwürfe an, die gegen die NGOs im Mittelmeer erhoben werden und die nicht nur in Italien für einigen Wirbel sorgen. Dabei geht es längst nicht mehr nur darum, dass die Schleuser die Wahrscheinlichkeit einer Rettung in ihr Geschäftskalkül einbauen und die NGOS damit den Pull-Faktor für Migranten erhöhen, weil sie das Risiko vermindern. Die Vorwürfe gehen weiter: Den NGOS wird eine Zusammenarbeit mit den Schleusern unterstellt.
Vorwürfe einer „heimlichen Verständigung“
Den Auftakt bildete ein Artikel der Financial Times, der Mitte Dezember 2016 erschien. Dort wurde, gestützt auf vertrauliche Frontex-Berichte, der Vorwurf erhoben, dass die kriminellen Schleusernetzwerke Migranten direkt auf ein NGO-Schiff bringen würden, dass Schleusern oder Migranten genaue Richtungsangaben vor der Abfahrt gegeben wurden, damit sie NGO-Schiffe erreichen.
Die Vorwürfe waren pauschal und nicht verlässlich begründet. Konkrete Namen von NGOs wurden nicht genannt, stichhaltige Beweise auch nicht. Die Financial Times musste ihren Bericht korrigieren und die Wortwahl ändern: Die Zeitung berichtigte, der Inhalt der vertraulichen Frontex-Mitteilungen sei übertrieben dargestellt worden, es sei darin von mehreren Besorgnissen der Grenzschutzagentur die Rede, aber „nicht von direkten Anklagen einer heimlichen Verständigung“.
Frontex-Chef Leggeri legt nach
Aber die Anklagen waren in der Welt, vor allem in der italienischen Öffentlichkeit. Im Februar kritisierte Frontex-Chef Fabrice Leggeri die Präsenz der NGOs vor der libyschen Küste. Man müsse das aktuelle Konzept der Rettungsmaßnahmen vor Libyen „auf den Prüfstand stellen“.
Wir müssen verhindern, dass wir die Geschäfte der kriminellen Netzwerke und Schlepper in Libyen nicht noch dadurch unterstützen, dass die Migranten immer näher an der libyschen Küste von europäischen Schiffen aufgenommen werden. Das führt dazu, dass die Schleuser noch mehr Migranten als in den Jahren zuvor auf die seeuntüchtigen Boote zwingen, ohne genug Wasser und Treibstoff.
Dem fügte er den Vorwurf hinzu, dass die NGOs nicht genügend mit Frontex kooperieren:
Zuletzt wurden 40 Prozent aller Aktionen durch Nichtregierungsorganisationen durchgeführt. Das führt auch dazu, dass es für die europäischen Sicherheitsbehörden schwerer wird, über Interviews der Migranten mehr über die Schleusernetzwerke herauszufinden und polizeiliche Ermittlungen zu starten. Das funktioniert aber schlecht, wenn Hilfsorganisationen nicht gut mit den Sicherheitsbehörden zusammenarbeiten. .
Die NGO Sea-Watch reagierte empört, solche Aussagen würden dazu beitragen, die lebensrettende Arbeit zu kriminalisieren.
Anstatt unsere Energie ausschließlich dafür einzusetzen, dass das Sterben im Mittelmeer ein Ende nimmt, müssen wir uns mit dem Bild herumschlagen, das Sie durch haltlose Anschuldigungen in der Öffentlichkeit konstruieren. Lassen Sie uns in diesem Zusammenhang klarstellen: Wir sind vor Ort aktiv, weil die EU nicht in der Lage ist, eigene umfassende Seenotrettungsprogramme zu stellen. Ca. 30.000 offiziell gezählte Tote seit dem Jahr 2000 sprechen eine klare Sprache für das Versagen eines ganzen Staatenbundes.
Man lade Fabrice Leggeri gerne zu einem Gespräch ein, um genauer zu klären, was er mit der schlechten Zusammenarbeit mit Hilfsorganisationen konkret meine.
Die politischen „Arbeitshypothesen“ des Staatsanwalts Zuccaro
Indessen hatten die Vorwürfe gegen die NGOs in Italien bereits eine andere Dimension angenommen. Sie liefen darauf hinaus, dass NGOs im Mittelmeer als „Taxis für Flüchtlinge“ bezeichnet wurden. Der sizilianische Staatsanwalt Carmelo Zuccaro wird mit der Behauptung zitiert , dass es Beweise „für direkte Kontakte zwischen NGOs und Schleppern in Libyen“ gebe. Vorlegt hat er sie noch nicht, die „Arbeitshypothesen“ würden noch ermittelt. Er forderte eine Überwachung von Satellitentelefonverbindungen und von NGO-Schiffen durch die italienische Marine.
Zu den „Arbeitshypothesen“ Zuccaros gehört auch, „dass manche Hilfsorganisationen Migranten nach Italien bringen wollen, um die Wirtschaft zu schwächen“. Das sind allesamt politisch brisante Vorwürfe, Wasser auf den Mühlen der Lega Nord und die Fünf-Sterne-Bewegung. Die Hilfsorganisationen, insgesamt sind es zehn, darunter Ärzte ohne Grenzen (MSF), SOS Méditerranée, Moas, Jugend Rettet, Sea Watch, Sea-Eye, LifeBoat und Mission Lifeline, beklagen eine Hetzkampagne.
Sea Watch bezeichnete die Vorwürfe als „Phantasievorwürfe gegen humanitäre Organisationen“. Man prüfe die Rechtslage in Italien bezüglich einer Anzeige wegen übler Nachrede.
Der italienische Außenminister Angelino Alfano teilte mit, dass er „zu 100 Prozent“ mit den von Zuccaro eingeleiteten Untersuchungen einverstanden sei.
Grauzonen
Premierminister Gentiloni sagte, dass die Regierung darauf warte, dass die Ermittler glaubhafte Informationen vorlegen. Tage zuvor hatte er betont, dass er den Freiwilligen dafür danke, „dass sie jeden Tag Leben retten“. Der Staatsanwalt Francesco Paolo Giordano teilte dem italienischen Senat mit, dass sein Büro keine Hinweise auf mögliche Verstrickungen zwischen NGOs und Schleppern finden konnte. Als Quelle seine Aussage wird die Befragungen „hunderter Menschen“ zitiert.
In einem Artikel derUS-PublikationThe Intercept, der sich mit den Frontex-Berichten befasst und versucht, den Kontext zu erhellen, wird ein schwieriger Graubereich sichtbar.
Sowohl die italienische Küstenwache wie die NGOs würden regelmäßig Anrufe, höchstwahrscheinlich von Schleusern bekommen, die das Ablegen eines Bootes mit Migranten ankündigen. Solche Informationen würden laut Intercept in die Rettungsaktionen miteinbezogen – ebenso wie Infos von Fischern und anderen Einheimischen.