10. Mai 2017 · Kommentare deaktiviert für „Festung Europa: Unterlassene Hilfeleistung“ · Kategorien: Italien, Malta · Tags: ,

Junge Welt | 10.05.2017

Audiomitschnitt belegt, dass Italiens Küstenwache Flüchtlinge 2013 in Seenot im Stich ließ

Von Carmela Negrete

Am Montag veröffentlichte die italienische Wochenzeitung L’Espresso unter dem Titel »Der Schiffbruch der Kinder« den Text einer Audioaufnahme. Laut L’Espresso waren rund 480 Menschen an Bord eines Schiffes, das sich bereits am 11. Oktober 2013 im Seenot befand. Damals starben 268 Menschen, darunter 60 Kinder.

An jenem Tag geht in Rom bei der Zentrale der Küstenwache um 12.39 Uhr ein erster Anruf ein. Der Mann am Telefon nennt sich Mohammed Dschammo. Er sagt, er sei Arzt, erzählt, das Schiff sei havariert, sie befänden sich in Not. Die Mitarbeiterin am Telefon nimmt alle Daten auf: An Bord befänden sich überwiegend Kriegsflüchtlinge aus Syrien, die sich von der Stadt Suwara in Libyen aus auf den Weg nach Europa gemacht haben. Zum zweiten Mal fliehen sie aus einem Land, in dem Krieg herrscht.

»Bitte beeilen Sie sich. Wir sinken«, ruft Dschammo verzweifelt. Die Kälte seiner Gesprächspartnerin lässt vermuten, dass sie ein Profi sei und Ruhe bewahren kann. »Wie ist ihre Position?« – »Norden 34 20 18, Osten 12 42 05«, antwortet Dschammo im Glauben, dass die Küstenwache helfen wird. »Danke«, sagt er erleichtert, »Danke ebenfalls« das Gegenüber. Nach dem zweiten Anruf, um 13.17 Uhr, versteht man den Grund für die Kälte. Denn der Mann auf dem Schiff fragt, ob schon Hilfe unterwegs sei. Diesmal antwortet eine männliche Stimme: »Herr, ich werde Ihnen die Nummer von Malta geben, die sind bei Ihnen in der Nähe. Verstehen Sie? Rufen Sie dort an.«

Um 13.48 Uhr geht nochmals die Frau ans Telefon. Dschammo sagt: »Ich habe Malta angerufen.« Man habe ihm mitgeteilt, dass sich der Position nach ihr Schiff näher an Lampedusa als an Malta befinde. Tatsächlich, das verunglückte Schiff war 61 Meilen von Lampedusa entfernt, die Entfernung nach Malta war viel größer: 118 Meilen. Am nächsten befand sich die Korvette »Libra« der italienischen Marine, zwischen zehn und 19 Meilen. »Wir sterben, bitte helfen Sie uns!« Am anderen Ende der Leitung sagt die Frau dem verzweifelten Mann: »Rufen Sie Malta an, rufen Sie Malta an!«

Vier Stunden nach dem Hilferuf, um 16.44 Uhr, ruft die italienische Küstenwache ihre Kollegen in Malta an. Während Menschen ertrinken, unterhalten sich Vertreter beider Streitkräfte über die Position des italienischen Kriegsschiffes. Die Bilder aus dem Video vom Unglück, das zusammen mit den Audioaufzeichnungen veröffentlicht wurde, sind haarsträubend: schreiende Menschen im Wasser neben leblosen Körpern.

Um 17.07 Uhr geben die Malteser an, von einem ihrer Flugzeug aus sei gesehen worden, dass alle Menschen nun im Wasser sind. Fünf Stunden nachdem der erste Anruf eingegangen war, senden die Italiener dann doch das nahe Kriegsschiff. Auch die Malteser kommen mit einem eigenen Rettungsschiff. Laut L’Espresso wurden der Arzt Mohammed Dschammo, seine Frau und seine fünfjährige Tochter am Ende noch gerettet. Zwei andere Kinder des Ehepaares, sechs und neun Jahre alt, sollen ertrunken sein.

Obgleich Dschammo später Anzeige erstattete, gab es bislang keine Verurteilung. Laut der britischen Zeitung The Independent erzählten einige der syrischen Flüchtlinge zudem, dass die libysche Küstenwache auf sie gefeuert habe.

Falls die veröffentlichten Aufnahmen echt sind, würde es sich um einen Fall von unterlassener Hilfeleistung handeln. Wie oft es zu solchen oder ähnlichen Vorfällen kommt, ist unbekannt. Bekannt ist aber, dass die Zahl der ertrunkenen Flüchtlinge seit 2013 weiter gestiegen ist. Allein am vergangenen Wochenende sollen erneut über 200 Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken sein.

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