05. Mai 2017 · Kommentare deaktiviert für „Bis Libyen und nicht weiter“ · Kategorien: Libyen

ARD Tagesschau | 05.05.2017

Im Süden Libyens sitzen Hunderttausende Menschen in sogenannten Gefangenenzentren fest – unter menschenunwürdigen Bedingungen. Eine Lösung ist nicht in Sicht, das Land selbst braucht Hilfe.

Von Björn Blaschke, ARD-Studio Kairo

Der Schließer schiebt den Metallriegel beiseite und zieht die schwere Stahltür auf. Der Geruch nimmt einem den Atem: Ausdünstungen von ungewaschenen Menschen und muffiger Kleidung. Die Luft in dem hohen Raum kann nicht zirkulieren. Die vergitterten Lichtschächte in den nackten Betonwänden sind zu schmal. Auf dem unverputzten Boden, eng auf eng: Schaumgummimatratzen. Mit billigen Kunstfaserdecken.

Der Raum: groß wie eine Turnhalle; Platz für vielleicht 100 bis 150 Menschen. Eine Großraumzelle für Frauen. Unter libyscher Leitung. Die Vereinten Nationen nennen es DC: Detention Center. Zu deutsch Gefangenenzentrum. Manche Frauen schlafen, andere starren an die Decke. Wer hier eingesperrt ist, hat die finale Etappe der großen Reise nicht mehr geschafft. Die, die aus einem der vielen südlicheren afrikanischen Länder aufgebrochen waren, um über Libyen und das Mittelmeer nach Europa zu gelangen.

Wer in einem DC wie diesem in der libyschen Hauptstadt Tripolis einsitzt, wurde von Libyern im Land aufgegriffen oder aus der See gefischt. Der Traum von einem besseren Leben: geplatzt. Illegal eingereist, ohne Visum. Letzte Station Gefangenenzentrum.

Rejoyce saß schon im Boot nach Italien

Eine der Insassen in der Großraumzelle ist Rejoyce: freundliches, rundes Gesicht, große Augen. Den Kopf hat sie bedeckt mit der Kapuze ihres blauen Pullis. Die 22-Jährige war bereits in einem Schlauchboot auf dem Weg nach Italien.

Sie erzählt: „Plötzlich fiel der Motor aus. Das Boot war leck. Wir haben um Hilfe geschrien. Dann kam ein libysches Rettungsteam und hat uns geholfen. Wir wurden eingesperrt. In einem DC. Mehr als einen Monat lang waren wir da, bevor sie uns dann in dieses DC brachten.“

Die Geschichte der jungen Frau ähnelt der vieler Menschen, die vor dem Elend flüchten. Rejoyce stammt aus Nigeria, dem bevölkerungsreichsten Land Afrikas, das gezeichnet ist von wirtschaftlichem Niedergang, Korruption und im Norden auch von islamistischem Terrorismus.

Wer vom Lkw fiel, blieb zurück

Sie erzählt weiter: „Ich habe Nigeria im August vergangenen Jahres verlassen, wegen der Krise dort. Wir haben die Wüste durchquert. In einem Lkw. Einige Leute sind vom Lkw gefallen. Die Reise ist sehr, sehr gefährlich. Viele von uns sind jetzt tot. Wer auf dem Weg runterfiel, blieb zurück.“

Die Menschenschmuggler transportierten Rejoyce bis über die Grenze nach Libyen. Einheimische Schlepper übernahmen sie hier und brachten sie in eines der vielen Häuser in den Süden des riesigen Landes. Die UN nennen diese Unterkünfte „Menschenfarmen“. Rejoyce wurde versklavt.

„Sie haben uns zu einer Tomatenplantage gebracht. Da waren wir einen Monat lang. Da gab es Vergewaltigung und Mord. Dann sind wir auf ein Boot gekommen – und dann fanden wir uns hier wieder“, erzählt sie.

Frauen verhüten aus Angst vor Vergewaltigung

Im vergangenen August verließ Rejoyce Nigeria. Heute wünschte sie, sie hätte sich nie auf den Weg gemacht. Sie habe ja nicht gewusst, was auf sie zukommen würde. Andere – auch Mitinsassen von Rejoyce – wissen es: Frauen lassen sich so genannte Drei-Monats-Spritzen setzen, ein Verhütungsmittel.

Sie wissen, dass ihnen auf dem Weg ans Mittelmeer Vergewaltiger auflauern, dass sie vielleicht zur Prostitution gezwungen werden. Dass sie einen Teil ihrer Reise nach Europa nicht als Sklavin auf einer Tomatenplantage abarbeiten müssen, sondern mit erzwungenem Sex. Die Internationale Organisation für Migration, die eng mit den Vereinten Nationen zusammenarbeitet, hat erst kürzlich von Sklavenmärkten in Libyen berichtet.

Auf denen verkaufen Schlepper Flüchtlinge für 200 bis 500 Dollar. Die Käufer zwängen die Flüchtlinge zu Arbeit oder Sex. Und – so heißt es aus einer verlässlichen Quelle bei den UN – auch in den DCs komme es zu Vergewaltigungen.

UN kritisieren Bedingungen scharf

Saleem Ghaleeb ist der Generalinspekteur der DCs in West-Libyen. Im Auftrag der international anerkannten Regierung soll er für Ordnung in insgesamt 17 DCs sorgen. Die Lebensbedingungen in all diesen Lagern haben UN und Menschenrechtsorganisationen wiederholt scharf kritisiert.

Ghaleeb sagt: „Ehrlich gesagt, sind die Verhältnisse in wenigen Zentren angemessen. In anderen schlecht, da sie keine Sanitäranlagen und keine Toiletten haben. Oder nicht genug. Manche DCs sind überfüllt. Mit 1000 Leuten, 1500 oder noch mehr. Statt der 700, die vielleicht hineinpassen. Und manche Gebäude sind baufällig.“

Ghaleeb glaubt, dass noch mehr Menschen in die DCs kommen werden, wenn sich noch mehr auf den Weg nach Europa machen. Aber auch, dass mehr auf dem Weg dahin abgefangen werden – in Libyen oder in libyschen Hoheitsgewässern.

Sogar aus Bangladesch kommen Flüchtlinge

Es sind Hunderttausende, wahrscheinlich sogar noch mehr als eine Million, die im Süden Libyens darauf warten, in den Norden zu kommen und dann weiter nach Europa. Wir haben keine Möglichkeiten, sie aufzunehmen. Bei uns herrscht Krieg, und es gibt viele Gebiete außer jeder Kontrolle. Diese Gebiete gelten als sichere Fluchtwege. Sogar aus Marokko kommen sie zu uns und aus Bangladesch, Leute mit Staatsangehörigkeiten, die nicht afrikanisch sind.“

Schon jetzt sei es schwer, die Menschen in den DCs zu versorgen, so der Generalinspekteur. Libyen sei zwar reich an Öl. Aber: Wegen der ständigen Kämpfe komme das Land heute nur knapp auf die Hälfte der Fördermenge, die vor dem Sturz von Diktator Muammar al-Gaddafi erreicht worden ist. Der Ölpreisverfall wirkesich doppelt aus. „Libyen brauche dringend Hilfe.“

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