15. Februar 2017 · Kommentare deaktiviert für „Grenze zu Mexiko : Am Zaun des Todes“ · Kategorien: Nicht zugeordnet · Tags: ,

Zeit Online | 14.02.2017

In der Grenzwüste zu Mexiko sterben fast täglich Migranten, selbst Trump-Wähler sind gegen die Mauer. Viele Bewohner ziehen weg, einige helfen den Menschen aus dem Süden.

Von Christina Felschen, Arizona

Wer Jim und Sue Chilten auf ihrer Ranch besucht, blickt zuerst in die Augen eines Berglöwen. Ein elegantes Tier, die Beine ausgestreckt wie im Sprung. Doch der Puma springt nicht mehr, er dekoriert das Foyer seiner Jäger. „Er hat uns Vieh im Wert von 20.000 Dollar gestohlen“, sagt Sue und lacht: „Das war sein Todesurteil.“

Jim und Sue Chilten wohnen in Arivaca, Arizona, zehn Meilen von der mexikanischen Grenze entfernt. Hier gilt das Recht des Stärkeren, und die Stärkeren sind im Zweifelsfall die beiden Rancher. Auf einem Hügel inmitten ihrer 20.000-Hektar-Farm haben sie sich ein Imperium errichtet. An den Wänden des Flurs bewahren sie Trophäen und Familienfotos auf, antike Indianerwerkzeuge, die sie bei Bauarbeiten gefunden haben. Von einer Rundhalle aus lässt sich die Wüste von Sonora überblicken – vom Baboquivari, dem heiligen Berg der Tohono O’odham, bis zur mexikanischen Grenze. Dorthin blicken die Chiltens mit besonderer Wachsamkeit.

Denn der Tucson-Sektor mit Arivaca ist eine der abgelegensten Gegenden im US-Grenzland, das sich über 2.000 Meilen vom Pazifik bis zum Golf von Mexiko erstreckt – daher verlaufen hier die Hauptrouten für Migranten und Drogenkuriere. Donald Trumps Plan, eine Mauer zu bauen und 5.000 weitere Grenzschutzbeamte zu stationieren, ist hier nichts Neues: Nach 9/11 ließ George W. Bush bereits Zaunabschnitte errichten und einen 100-Meilen-Streifen ins Land hinein zur Hochsicherheitszone ausbauen. Schon jetzt fliegen und fahren 21.000 Grenzschutzbeamte die Zone nicht nur ab, sondern wohnen auch darin; ihr Jahresbudget liegt nach eigenen Angaben bei 3,8 Milliarden US-Dollar.

„Als die Grenzschützer in unser Dorf kamen, war das wie ein Alptraum“, sagt Carlota Wray, die seit Jahrzehnten in Arivaca lebt. Sie zieht die schwere Tür des Arivaca Aid Office hinter sich zu – der kleine Raum mit vergitterten Fenstern ist ein Zufluchtsort für Migranten, die dort Wasser und einfache medizinische Hilfe bekommen können. Schilder fordern die Border Patrol auf, vor der Tür zu bleiben – bisher halten sich die Beamten daran. Hier kann Carlota ungestört reden, während die Grenzer auf der Dorfstraße auf und ab fahren.

„Wenn ich höre, wie ihr Helikopter tief über die Wüste fliegt, kann ich nicht mehr einschlafen. Ich habe mein Pferd vor Angst durchgehen sehen und stelle mir vor, wie die Migranten sich auf den Boden pressen, bis sie eingesperrt und abgeschoben werden.“ Die Aufrüstung der Grenze habe ihr Leben verändert, sagt Carlota. Wer aus Arivaca heraus will, muss sich an einem Checkpoint ausweisen, ein Wachturm mit 360-Grad-Bewegungsmelder und Wärmebildkamera überragt das Dorf. Ihr hispanisch aussehender Enkel kann kaum noch zur Schule fahren, ohne vom Grenzschutz gefilzt zu werden.

Arivaca wird zur Geisterstadt: Viele langjährige Bewohner seien nach dem Bau des Zauns weggezogen, weil die Grenzschutzbeamten die Preise nach oben treiben; ihre Gehälter sind doppelt so hoch wie der lokale Durchschnitt. Und, weil sie sich beobachtet fühlen. Trumps Wahl habe die Fronten noch verhärtet, sagt Carlota Wray.

Alle fürchten alle

Carlota Wray gehört zu den wenigen Anwohnern, die sich offen gegen die Aufrüstung der Grenze aussprechen. Ihre Freundin denkt ähnlich, doch darauf angesprochen blickt sie sich hastig auf der Dorfstraße um, lehnt flüsternd ab, darüber zu sprechen. Kritik an Trumps Mauerplänen ist schlecht fürs Geschäft, für den Ruf, für die Sicherheit.

Carlota erinnert sich an Zeiten, in denen Mexikaner über einen Viehzaun sprangen, um auf eine Party in den USA zu gehen – und andersherum. Diese Erinnerung hält sie davon ab, die Angst aller vor allen, die Milliarden Dollar und Tausende Leben kostet, für selbstverständlich zu halten: Die Angst der US-Amerikaner vor den Mexikanern, die Furcht der Rancher vor dem Fremden unterm Fenster, das Misstrauen der Anwohner untereinander, und die Angst der Migranten vor allen anderen.

„Die Abschreckung wirkt nicht“

Während halb Arivaca übers Wegziehen nachdenkt, feiern Jim und Sue Chilten auf der Ranch den neuen Präsidenten. Ihnen ist die bisherige Grenzüberwachung zu lasch. Denn ausgerechnet dort, wo ihre Ranch an Mexiko grenzt, steht nur ein Stacheldrahtzaun. „Da können alle möglichen Leute reinkommen.“ Einmal seien Drogenkuriere bei ihnen eingebrochen und hätten Dutzende Waffen gestohlen, als sie nicht da waren. Dutzende Waffen? „Ja, die stehen bei uns in jedem Raum, sicher ist sicher.“

Als George W. Bush den ersten Grenzzaun bauen ließ, ließ er nur die einfachsten Transitpunkte auf insgesamt 650 Meilen verbarrikadieren. Ging die Regierung davon aus, dass niemand den lebensgefährlichen Weg durch die Wüste von Sonora wagen würde? Oder drängte sie die Migranten bewusst in die Wüste ab und nahm ihren Tod zur Abschreckung in Kauf, wie Nichtregierungsorganisationen und Anwälte in Tucson sagen? Fest steht: Von 1998 und 2016 sind laut Grenzschutz 6.951 Menschen auf ihrem Weg in die USA gestorben, vor allem an Hitze, Kälte und Schussverletzungen. In den zehn Jahren vor dem Bau des Grenzzauns starben im südlichen Arizona durchschnittlich zwölf Migranten im Jahr, seither ist die Zahl auf 170 gestiegen. Auch die Chiltens finden immer wieder Tote auf ihrem Land.

„Gibt es ein Leben nach dem Tod? Finden Sie es raus!“

Vor ihrer Haustür haben sie 30 Paar Camouflage-Schlappen aufgereiht – verloren von Migranten auf ihrer Ranch. Daneben Schilder: „Gibt es ein Leben nach dem Tod? Dringen sie auf Privatland vor und finden Sie es raus!“ Oder: „Beim unbefugten Betreten bitte Pass mitbringen, damit wir die Angehörigen benachrichtigen können.“ Jim Chilten biegt sich vor Lachen: „Ist das nicht witzig!?“

Ich denke an die Vigilante-Milizen, die auf eigene Faust Einwanderer Jagen, etwa die American Border Patrol im Nachbarort Sierra Vista. An den Gerichtsmediziner von Pima County, der die DNA von Angehörigen mit dem abgleicht, was nach Wochen oder Jahren unter der Wüstensonne von einem Menschen übrig bleibt. Und an Kat Rodriguez vom Colibrí Center for Human Rights, die jede Woche Todesnachrichten an Familien in Honduras, Chiapas oder L.A. überbringen muss. Witzig?

Wer wird Nummer 6.952?

Bushs Grenzzaun, Trumps Mauerpläne, der Grenzschutz, die Freiwilligenpatrouillen – die Amerikaner des Nordens geben sich alle Mühe, die Amerikaner der Mitte unwillkommen zu heißen. Die eiserne Grenze gilt aber nur in eine Richtung: Als ich sie Richtung Süden von Nogales in Arizona nach Heroíca Nogales überschreite, ruft mir der mexikanische Grenzer ein „¡Bienvenida!“, „Willkommen“, zu – und schon bin ich in Mexiko. Meine Papiere interessieren ihn nicht.

Die Schwesterstädte könnten nicht unterschiedlicher sein: Im Norden das verschlafene Nogales, im Süden Heroíca Nogales mit seinen 200.000 Einwohnern, deren Hütten sich weit über die Hügel verteilen. Das Stadtzentrum schmiegt sich an den Grenzzaun; die beliebte „Calle Internacional“ verläuft parallel dazu. Spätestens beim Denkmal für den Teenager, der hier beim Versuch in die USA zu klettern erschossen wurde, bekommt der Name „Internationale Straße“ einen bitteren Nachgeschmack. Und doch: Hier flaniert die Jugend der Stadt und träumt von einer besseren Zukunft – im Land der Schotterpiste auf der anderen Seite, wo die Grenzer Staub aufwirbeln und sonst nichts passiert.

„Die Abschreckung wirkt nicht“, sagt Sean Carrol. Der Jesuitenpater steht vor der Suppenküche der Kino Border Initiative, die seit 2009 gestrandeten Migranten hilft, mehr als 8.000 im letzten Jahr. „Nicht solange die Landarbeiter Zentralamerikas ihre Familien nicht ernähren können und Banden Jugendliche mit Gewalt rekrutieren. Die meisten Abgeschobenen treten ihre Reise noch einmal an, unter erschwerten Bedingungen, mit weniger Geld.“ Der Pater öffnet die Gittertür. „Wir kontrollieren jeden Besucher, damit die Migranten zumindest hier vor Kartellmitgliedern und Schmugglern geschützt sind.“ Drinnen sitzen etwa 50 Männer und Frauen; es ist leicht zu sehen, wer die Reise durch die Wüste zum ersten Mal vor sich hat und wer hierhin abgeschoben wurde, oft nach Jahren in den USA: Einige sind aufgedreht und nervös, andere starren reglos vor sich hin.

Keine Mauer kann sie abhalten

„Seit der Amtseinführung von Trump bekommen wir viel mehr Deportierte“, beobachtet Carrol. „Inzwischen setzt die Polizei- und Zollbehörde (ICE) jeden Tag ein Dutzend Migranten in Heroica Nogales aus – so viele wie unter Obama jede Woche.“ Trump hatte seinen Wählern versprochen, zwei bis drei Millionen „kriminelle Illegale“ abzuschieben. Dazu zählt er auch solche, die mit einem Verstoß im Straßenverkehr auffallen oder die mit einer falschen Sozialversicherungsnummer arbeiten.

Der Himmel über den beiden Nogales färbt sich violett, Sean Carrol und seine freiwilligen Helfer verabschieden sich hastig in Richtung der USA; die Nacht gehört den Banden. Zurück bleibt nur ein junger Mann, er hält einen Rosenkranz umklammert und presst sich mit seinem Kinderrucksack gegen einen Zaun. Severin wartet auf die Schmuggler, die ihn mitnehmen wollen, doch es sieht aus, als wolle er lieber unsichtbar werden. Sein letzter Versuch, die Grenze zu überqueren, endete mit drei Jahren Gefängnis und einer Abschiebung: „Ich war vollkommen blank, doch die Schmuggler boten mir einen Deal an: Sie würden mich mitnehmen und den Wegzoll an die Kartelle bezahlen, wenn ich einen Rucksack mit 45 Kilo Marihuana mitnehme.“ Nach sieben Tagen, kurz vor Tucson, nahm ihn der US-Grenzschutz fest.

Aber keine Mauer der Welt könnte Severin davon abhalten, es noch einmal zu versuchen. „Ich habe meine Mutter seit fünf Jahren nicht mehr umarmt.“ Der 23-Jährige verbrachte seine Kindheit und Jugend in Südkalifornien, nachdem seine Eltern ihn über die Wüstenroute aus Guerrero nachgeholt hatten – zwölf Jahre mit American Football, Schule, Freunden und Partys. Als Achtzehnjähriger geriet er in eine Polizeikontrolle und wurde abgeschoben, alleine, ohne Geld. Dieses Mal will er alles richtig machen, ohne Marihuana im Rucksack, ohne Partys in L.A. „Ich will nur nach Hause.“ Dafür wird er erneut sein Leben aufs Spiel setzen.

Geier kreisen

Wenn Severin Glück hat, wird er in der Wüste Wasser finden – die Menschenrechtsorganisationen No More Deaths und Tucson Samaritans platzieren seit der Errichtung des Grenzzauns täglich Kanister an wichtigen Migrationsrouten. „Rund um unsere Wasserstellen werden weniger Tote gefunden“, sagt Gail Kocourek, die den Kombi der Samariter in die Wüste steuert. „Dagegen sterben auf Privatland und im Reservat der Tohono O’odham, wo kein Wasser verteilt wird, unverhältnismäßig viele Menschen.“
Was denen passiert, die kein Wasser finden, erlebte sie bei einer Fahrt im vergangenen Jahr. Neben der Straße kreiste ein Geier. Gail bremste und sah einen jungen Mann im Straßengraben, Alex aus Honduras. Er zitterte und übergab sich – Gail und ihre Begleiterin waren seine letzte Rettung. Wochen später rief Alex aus dem Norden der USA an: Er war nicht Nummer 6.952 auf der Todesliste geworden, sondern einer von elf Millionen Menschen, die ohne Papiere in den USA leben und Geld an ihre Familien im Heimatland schicken.

Eines aber unterscheidet viele Trump-Wähler an der Grenze von denen im Inland: Wenn Donald Trump über die „bad hombres“ aus Mexiko schimpft, die Horden der Vergewaltiger und Kriminellen, die angeblich über die Grenze kommen, schämen sie sich für ihren Kandidaten. Sie sehen, wie Indigene auf Indianerland sterben; wie Mexikaner aus der Region deportiert werden, die bis 1848 zu Mexiko gehörte; und wie Grenzbeamte die Migranten, die ihnen entkommen, wenige Wochen später für günstige Gartenarbeiten anheuern. Und sie versuchen zu helfen.
Wenn Jim Chilten Fremde auf seinem Grundstück sieht, schnappt er sich sein Gewehr – und einen Wasserkanister. Dann nimmt er allen Mut zusammen und ruft: „Agua?!“

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