09. Februar 2017 · Kommentare deaktiviert für „Humanitäres Visum“ – Umstrittener Weg nach Europa · Kategorien: Europa · Tags: ,

DW | 08.02.2017

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) prüft derzeit, inwieweit eine Einreise in die EU genehmigt werden muss, wenn der Antragsteller von Folter oder unmenschlicher Behandlung bedroht ist. Chance für legale EU-Einreise?

Den meisten Menschen, die als Flüchtlinge im Nahen Osten oder in Nordafrika angekommen sind, bleibt auf ihrem Weg nach Europa nur die lebensgefährliche Reise über das Mittelmeer. Wege über Land sind wegen Krieg oder verschlossenen Grenzen derzeit nur schwer zugänglich. Was nur Wenige wissen: Es gibt theoretisch die Möglichkeit einer legalen Einreise in die EU. Seit dem 13. Juli 2009 ist sie im europäischen Visakodex genannt.

Visum aus Menschlichkeit

Das so genannte „humanitäre Visum“ kann von jeder Person ohne Bezug zur EU in einer Botschaft eines EU-Mitgliedslandes beantragt werden. Wer dieses Visum anfordert, der schlüpft automatisch unter das Dach der europäischen Grundrechte, nach denen auch ein Asylantrag gestellt werden kann.

Juristen wie Stefan Kessler vom Jesuiten-Flüchtlingsdienst in Berlin und wissenschaftliche Mitarbeiter der grünen EU-Abgeordneten Barbara Lochbihler weisen auf eine Problematik des humanitären Visums hin. Es gelte nur 90 Tage und es gebe bisher keine allgemeine Definition der „humanitären Gründe“, nach welchen das Visum erteilt werden muss. Bisher stehe es jedem EU-Mitgliedsland frei, für welche konkreten Fälle es ein solches humanitäres Visum erteilt.

Ursprünglich war beabsichtigt, sehr strenge Bedingungen zu stellen. So müsse ein Antragsteller nachweisen, dass er an Leib und Leben direkt bedroht ist, wenn das Visum nicht erteilt wird. Wer flüchtet, um lediglich ein besseres Leben führen zu können, dürfte danach keinen Anspruch auf ein Visum aus humanitären Gründen haben, sagen Rechtsexperten. Es komme immer auf den Einzelfall an. Der liegt jetzt vor.

Der Fall vor dem EuGH

Ein syrisches Ehepaar mit drei kleinen Kindern hat im Oktober 2016 in Beirut (Libanon) in der Botschaft von Belgien ein solches Visum aus humanitären Gründen beantragt. Damit hätten sie Aleppo verlassen können, um in Belgien einen Asylantrag stellen zu können. Die Familie hatte als Argumente vorgetragen, dass sie wegen ihres christlich-orthodoxen Glaubens verfolgt würden und es auch schon eine bewaffnete Entführung, Schläge und Folter für ein Familienmitglied gab. Zudem sei die Grenze zwischen dem Libanon und Syrien geschlossen worden. Man habe also keine Möglichkeit, sich in einem angrenzenden Land als Flüchtling registrieren zu lassen.

Das Ausländeramt in Belgien lehnte aber das Visumsgesuch ab, weil die Familie wohl vor gehabt hätte, länger im Land zu bleiben. Die syrische Familie rief daraufhin den Rat für Ausländerstreitsachen in Belgien an und beantragte, dass die Entscheidung ausgesetzt wird. So beauftragte die belgische Behörde den Europäischen Gerichtshof, die Lage zu klären und eine Lösung zu finden.  Auch wenn es sich um ein Eilverfahren handelt, wird es noch mindestens vier Wochen dauern, bis das höchste europäische Gericht ein Urteil fällt. Immerhin haben auch 14 EU-Länder Stellungnahmen an das Gericht gesendet, die zu berücksichtigen sind.

Die Empfehlung des EuGH-Generalanwalts

Paolo Mengozzi (EuGH) will aus humanitären Gründen helfen

Doch noch vor dem Urteil hat der hoch angesehene und einflussreiche Generalanwalt des EuGH, Paolo Mengozzi, in seinem Schlussantrag schon offiziell mitgeteilt, welche Rechtsauffassung er vertritt. Danach seien ein EU-Mitgliedsstaat und dessen Behörden verpflichtet, ein humanitäres Visum auszustellen, wenn Gefahr für Leib und Leben beim Antragsteller besteht.

Artikel 4 der Europäischen Grundrechtecharta verbietet „Folter und unmenschliche oder erniedrigende Strafe oder Behandlung“. Mengozzi plädiert dafür, Flüchtlingen aus besonders gefährlichen Ländern wie Syrien mit einem humanitären Visum eine legale Möglichkeit zu schaffen, das europäische Asylsystem zu nutzen. Allerdings sind die Vorschläge des Generalanwalts nicht bindend. Die Richter des EuGH beraten derzeit unabhängig vom Schlussantrag des Generalanwalts.

Asylantrag direkt in der Botschaft ?

Das bald erwartete Gerichtsurteil könnte vieles wieder beleben, was bisher versucht wurde, aber gescheitert war. Das jedenfalls hoffen Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch. Noch vor zwei Jahren wurden nämlich Planungen diskutiert, dass die EU auf afrikanischem Boden Asylzentren einrichtet. Dort sollte nicht nur über Visa, sondern direkt über Asylanträge entschieden werden. Wer danach als Flüchtling schutzbedürftig gewesen wäre, hätte dann gleich legal nach Europa weiterreisen können. Die Leitung des in Deutschland verantwortlichen Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) konnte sich damals auch vorstellen, Mitarbeiter in solche Zentren zu schicken. Doch die Idee scheiterte, weil sich die EU-Länder nicht einigen konnten.

Kay Hailbronner, Mitglied im Direktorium des Forschungszentrums für internationales und europäisches Ausländer-und Asylrecht in Konstanz vermutet, dass auch die positive Einstellung des EuGH Generalanwalts von seinen Richtern nicht geteilt wird. Hailbronner begründet seine Einschätzung so: „Es besteht die konkrete Gefahr, dass das Visaerteilungssystem funktionsunfähig wird, weil Botschaften nicht in der Lage sind, die Behauptung einer konkreten Gefährdung zu überprüfen.“ Wenn lediglich eine glaubhafte Schilderung eines Verfolgungsschicksals ausreichen würde, dann müssten wohl alle Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan, dem Irak oder aus nordafrikanischen Ländern ein „humanitäres Visum“ erhalten. Diesen Dammbruch kann sich Hailbronner nicht vorstellen und rechnet mit einem negativen Urteil.

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Spiegel Online | 08.02.2017

Plädoyer für neues Asylsystem: Wie ein EU-Gutachter Europa für Flüchtlinge öffnen will

Botschaften sollen Visa an Verfolgte ausstellen, damit diese in der EU Asyl beantragen können – das fordert ein Generalanwalt am EuGH. Folgen die Richter seinem Vorschlag, hätte das weitreichende Folgen.

Von Anna Reimann

Die Bundesregierung will abgelehnte Asylbewerber schneller abschieben, in einer „nationalen Kraftanstrengung“. Im Wahljahr soll demonstriert werden: Bei denen, die kein Recht auf Schutz haben, greifen wir hart durch.

Parallel zu dieser Abschiebepolitik aber könnten künftig wieder mehr von Krieg und Gewalt verfolgte Menschen nach Europa und damit auch nach Deutschland kommen – trotz Türkeiabkommen, trotz geschlossener Balkanroute. Jedenfalls wenn es nach Paolo Mengozzi geht, einem einflussreichen Generalanwalt beim Europäischen Gerichtshof (EuGH).

Er fordert, dass Flüchtlinge, denen Folter oder eine andere unmenschliche Behandlung droht, legal nach Europa einreisen dürfen. Dazu sollten diplomatische Auslandsvertretungen außerhalb Europas ihnen humanitäre Visa ausstellen. Ausführlich begründete Mengozzi das am Dienstag in dem Schlussantrag zur Klage einer syrischen Familie.

Zwar ist die Empfehlung des Generalanwalts nicht bindend, ein Richterspruch wird erst in Monaten erwartet. In früheren Fällen jedoch sind die Richter häufig den Stellungnahmen gefolgt. Tun sie das auch in diesem Fall, könnte das weitreichende Folgen für die europäische Flüchtlingspolitik haben. Fragen und Antworten dazu im Überblick:

Auf welchem Fall basiert das Gutachten des Generalanwalts?

Eine christliche syrische Familie hatte in der belgischen Botschaft im Libanon vergeblich Visa beantragt, um in Belgien einen Asylantrag stellen zu können. Der Familienvater gab an, er sei in Syrien bereits von einer bewaffneten Gruppe entführt und gefoltert worden, bis er gegen Lösegeld freikam.

Für den Generalanwalt steht fest, dass die Familie in Syrien „der tatsächlichen Gefahr einer unmenschlichen Behandlung von extremer Schwere ausgesetzt“ war, die eindeutig unter das Verbot der Grundrechtecharta fällt. Deshalb könne „nicht geleugnet werden“, dass der Familie in der EU Schutz gewährt worden wäre, wenn sie die Hindernisse einer illegalen Reise überwunden hätte.

Vor allem wegen der „Informationen, die über die Lage in Syrien verfügbar sind“, hätte der belgische Staat laut Mengozzi sich nicht auf den Standpunkt zurückziehen dürfen, dass er seinen Verpflichtungen aus der Charta zum Schutz von Menschen vor Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung nicht nachkommen müsse.

Wie argumentiert Mengozzi über den Fall hinaus?

Mengozzis Schlussantrag beschäftigt sich mit dem konkreten Fall der syrischen Familie, aber hat auch grundsätzliche Aussagekraft. Sein Ansatz: Da sich die einzelnen Mitgliedstaaten bei Visumentscheidungen auf eine EU-Verordnung stützten, gelte auch die EU-Grundrechtecharta. Darin wiederum sind die Rechte auf Asyl und das Verbot von „Folter oder unmenschlicher und erniedrigender Strafe oder Behandlung“ festgeschrieben. Diese Rechte hätten die Behörden ohne jede räumliche Einschränkung zu wahren – unabhängig davon, ob es zwischen der betreffenden Person und dem Zielland eine Verbindung gibt.

Humanitäre Visa – wer könnte sie künftig bekommen?

Mengozzis Erklärung zielt auf Härtefälle ab. Welche Asylsuchenden genau darunter fallen würden und Chancen auf entsprechende Papiere hätten, ist nicht pauschal zu sagen. Mengozzi bezieht sich im konkreten Fall auf die Grundrechtecharta. Bedrohungen wie „Folter oder unmenschliche und erniedrigende Strafe oder Behandlung“ dürften allerdings auf einen Großteil der syrischen Bürgerkriegsflüchtlinge und auch auf andere Gruppen, etwa viele Iraker, Eritreer und Afghanen, zutreffen. Jedenfalls wird nahezu allen Syrern genau aus diesen Gründen – weil ihnen Verfolgung droht oder anderweitig schwere Gefahr für Leib und Leben – in den EU-Ländern Schutz gewährt.

Wenn der EuGH dem Antrag folgt – welche Konsequenzen hätte das Urteil?

„Ein solches Urteil würde die Umwälzung des bisherigen Asylsystems bedeuten“, so Asylrechtsexperte Daniel Thym. Denn bisher läuft es in der Regel so: Wer in Europa Asyl will, muss diesen Antrag auf europäischem Boden stellen. Zwar gibt es Ausnahmen wie Kontingentprogramme, bei denen Schutzbedürftige in Flüchtlingslagern außerhalb Europas ausgewählt werden. Es gibt auch Umsiedlungen von Syrern direkt aus der Türkei nach Europa. Aber meist bleibt Verfolgten nur die illegale und gefährliche Einreise in die EU etwa über das Mittelmeer. Folgt der EuGH in seinem Urteil dem Generalanwalt, dann würde diese Praxis zumindest aufgeweicht – die Abschottung Europas schwächer.

In Zukunft könnten sich Flüchtlinge dann bei Auslandsvertretungen um Visa bemühen. Das würde bedeuten, dass auch die Wirkung des Türkei-Deals, mit dem Flüchtlinge von Europa ferngehalten werden sollen, nachlassen könnte – und eben wieder mehr Schutzsuchende kommen, auch nach Deutschland.

Folgen hätte eine neue Visa-Praxis auch für die EU-Botschaften und Konsulate. Denn auch wenn solche Papiere nur in besonderen Härten ausgestellt würden – die Beamten in den Vertretungen müssten in jedem Einzelfall entscheiden, ob eine solche Härte vorliegt oder nicht. Und die deutschen Vertretungen im Libanon oder in Jordanien etwa sind bereits aktuell überlastet, weil dort die Visa zum Familiennachzug ausgestellt werden. Antragssteller müssen oft Monate oder sogar jahrelang auf einen Termin warten.

Wie sind die Reaktionen auf das Visa-Plädoyer?

Der Europareferent der Flüchtlingshilfsorganisation Pro Asyl, Karl Kopp, bezeichnet die Forderung als „Licht in dieser finsteren Zeit, wo Europa die Verantwortung für Flüchtlinge an menschenrechtsfeindliche Regime wie in Libyen auslagern will“. Ablehnung hingegen kommt aus der Union: Der innenpolitische Sprecher der CSU-Landesgruppe, Michael Frieser, sagte im Deutschlandfunk, man könne angesichts der weltweiten Konflikte nicht allen eine Route in den Schengenraum eröffnen.

Die Bundesregierung zeigte sich, so berichtet es die „Süddeutsche Zeitung“, „überrascht“ über die Haltung des Generalanwalts Mengozzi.

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