04. Februar 2017 · Kommentare deaktiviert für „Libyen: Anarchie, die die Schwächsten trifft“ · Kategorien: Libyen · Tags: , ,

Süddeutsche Zeitung | 03.02.2017

Ohnmacht und Willkür: Warum das nordafrikanische Libyen für Flüchtlinge so gefährlich ist.

Von Andrea Bachstein und Moritz Baumstieger

Bei allem, was die EU-Länder sich in Malta vorgenommen haben, bleibt die Frage, mit welchen Partnern sie oder Italiens Regierung in Libyen eigentlich zusammenarbeiten wollen, um die Lage der Flüchtlinge zu verbessern und – vor allem – die Zahl der aus Libyen startenden Migranten zu senken. 80 bis 90 Prozent der 181 000 Flüchtlinge und Migranten, die 2016 in Italien landeten, kamen über Libyen, das zerfallen ist in Machtblöcke und Stammesfürstentümer.

Eine Zentralmacht, die Vereinbarungen durchsetzen könnte, gibt es auch im sechsten Jahr nach dem Sturz des Machthabers Muammar al-Gaddafi nicht. Ansprechpartner der internationalen Gemeinschaft ist Fayez al-Serraj, Chef der 2015 eingesetzten Regierung der Nationalen Einheit. Die arbeitete aus Sicherheitsgründen zunächst nur von einer Marinebasis in Tripolis aus, konnte ihren Einflussbereich aber inzwischen auf den Westen des Landes ausdehnen.

Doch außerhalb von Tripolis bleibt die Lage unübersichtlich: Um die Stadt Sirte in der Landesmitte kontrollierte die Terrormiliz Islamischer Staat 2016 einen fast 20 Kilometer langen Küstenstreifen. In einem verlustreichen Kampf wurden die Dschihadisten nun aber vertrieben. Im Süden beherrschen die Tuareg ein Areal an Algeriens Grenze, andere Gebiete kontrollieren lokale, oft islamistische Milizen.

Vor allem aber gelang es Premier al-Serraj nicht, sich die Unterstützung des 2014 gewählten Parlaments zu sichern. Der Abgeordnetenrat tagt in Tobruk nahe der ägyptischen Grenze und kontrolliert den Osten. Zwar haben sich die Abgeordneten bereit erklärt, eine Regierung unter al-Serraj anzuerkennen, ließen aber bisher jeden Kabinettsvorschlag durchfallen. Grund dürften die Ambitionen des vom Parlament unterstützen Chefs der libyschen Armee sein: General Khalifa Haftar. Nach der Revolution kam er aus dem Exil in den USA zurück und genießt heute die Unterstützung wichtiger Partner. Er scheint der Mann zu sein, auf den das im Nahen Osten erstarkte Russland setzt, und es häufen sich Berichte, nach denen Ägyptens Armee ihn versorgt.

Die Lager sind überfüllt, Krankheiten grassieren, Gewalt ist fast alltäglich

Haftars Armee kontrolliert seit Herbst die wichtigsten Ölquellen und -häfen. Seither ist die Produktion gestiegen, liegt aber weiter unter Vorkriegsniveau. Die Regierung um al-Serraj kann zudem nicht voll über die Einnahmen verfügen. So fehlt ihr das Geld, um die vielen Milizen zu entlohnen, die ihr offiziell unterstehen. Die Männer, die einst Gaddafi stürzten, weigern sich mangels Alternativen oft, die Waffen niederzulegen. Ohne Sold aus Tripolis schauen sie sich anderweitig nach Geld um. Manche sind in Menschenhandel und Schlepperbusiness verstrickt, andere nötigen Flüchtlinge zu Zwangsarbeit, foltern, vergewaltigen sie, bis Verwandte Lösegeld schicken.

Dieser Anarchie sind Flüchtlinge und Migranten besonders stark ausgesetzt. Von 300 000 bis zu einer Million reichen die Schätzungen der Zahl derer, die in Libyen ausharren. Die meisten kommen aus Afrikas Subsahara-Ländern, mit 21 Prozent sind Nigerianer die größte Gruppe der 181 000 Menschen, die 2016 in Italien landeten. Wer sich bis Libyen durchgeschlagen hat, findet sich dort Willkür und Gewalt ausgesetzt, von staatlichen Stellen, Milizen, Kriminellen. Es gibt kein funktionierendes Asylsystem, das Land hat die Genfer Flüchtlingskonvention nicht unterschrieben. Die fragile Sicherheitslage schränkt auch die Arbeit von Hilfsorganisationen ein. Migranten können jederzeit für Monate, manchmal Jahre in Deternierungslager gesteckt werden, ihr Status als Illegale reicht dafür.

Debora Pinzana ist seit 2013 mit Unterbrechung in Libyen tätig und kennt die Zustände dieser Lager. Sie ist Missionschefin für Libyen der italienischen Hilfsorganisation Cesvi, die auch im Auftrag von UNHCR, Unicef und EU im Einsatz ist. „Es herrschen dort schlimmste Hygiene- und Gesundheitsbedingungen. Es gibt nicht genug Essen, ansteckende Krankheiten wie TBC grassieren, und die Lager sind völlig überfüllt“, sagt sie. Zeugen berichteten von einer Toilette für bis zu 200 Menschen, von Misshandlungen und Vergewaltigungen durch Wachpersonal.

In einigen Zentren sind Hilfsorganisationen tätig, aber ihre Arbeit sei durch die Sicherheitslage und vom Kompetenz-Wirrwarr behindert, und werde durch die wenigen verfügbaren Mittel erschwert, sagt Pinazana. Und das sind die Lager des Innenministeriums. Noch schlimmer sind die Lager, die Milizen betreiben, dieselben, die den Menschenhandel kontrollieren. Pinzana schätzt, dass etwa 70 Prozent der Flüchtlinge und Migranten außerhalb der Lager leben. Sie schlagen sich durch als Gelegenheitsarbeiter, wollen das Geld für die letzte Etappe übers Meer verdienen. Einen Teil von ihnen erreicht Cesvi über Gemeinde- und Sozialzentren. Sie bekommen dort etwas Geld, psychosoziale und medizinische Hilfe. Aber in Libyen zu sein, bedeutet für die meisten Migranten die Hölle. Pinzana sagt, etwa 80 Prozent wollten das Land wegen des Krieges und der sozialen Lage verlassen. Durch die Wüste in ihre Heimat zurückzukehren, wieder den Schleppern ausgesetzt, ist praktisch unmöglich. Es gibt gelegentlich freiwillige Repatriierungen. Nach Pinzanas Kenntnis ist die Nachfrage danach auch gestiegen, eben weil Libyen derart gefährlich ist. So gefährlich, dass die Risiken einer Überfahrt im Schlauchboot niemanden von dem Versuch abschrecken, Europa zu erreichen.

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