21. Dezember 2016 · Kommentare deaktiviert für „Das vergessene Schiffswrack“ · Kategorien: Ägypten, Italien, Mittelmeerroute · Tags: ,

Quelle: netzfrauen.org | 18.12.2016

[Original EN]

Grausam! Der bisher größte Verlust von Menschenleben im Mittelmeer

Der bisher größte Verlust von Menschenleben im Mittelmeer zeigt, wie Behörden in Europa und anderswo dafür sorgen, dass die für die Tode von Migranten Verantwortlichen ungestraft davonkommen.

Immer öfter starten Flüchtlinge über Ägypten ihre lebensgefährliche Reise über das Meer. Der Ausgangspunkt der Schlepper-Maschinerie des Schreckens übers Mittelmeer hat sich von Libyen verlagert nach Ägypten, ein gewissenloses Geschäft mit dem Leben der Allerärmsten auf der Flucht vor Not und Elend. Die Methode ist immer dieselbe mit immer denselben entsetzlichen Folgen: Ein schwimmendes Wrack oder ein geflicktes Schlauchboot wird vollgepfercht bis ins letzte Eck, fährt dann aufs Meer, meldet per Funk Seenot und ruft Rettungsschiffe der EU.

Schaffen die afrikanischen Flüchtlinge den grausamen Weg durch die Wüste bis nach Libyen und Ägypten, erwartet sie dort eine weitere unmenschliche Situation. Dazu auch: Grausames Video – Etwa 400 Flüchtlinge zwischen Ägypten und Italien ertrunken – Flüchtlinge als billige Ersatzteillager in Ägypten missbraucht!

Alexandria ist zum wichtigsten Abfahrtshafen für Flüchtlinge und Migranten am Nil geworden.

Seit das Nachbarland Libyen im Bürgerkrieg versinkt, ist die Hafenstadt Alexandria der Startpunkt für Überfahrten nach Europa geworden. Wer es von hier aus per Boot bis nach Italien schaffen will, braucht je nach Wetter fünf bis zehn Tage. Die Bundesregierung möchte hier sogenannte „Hot Spots “ einrichten. Dabei sind Syrer in Ägypten alles andere als willkommen. Auch deshalb wollen die meisten einfach nur weg. Auch darüber berichteten wir bereits in unserem Beitrag: Nordafrika versinkt im Krieg – Leichen säumen Libyens Küste.

Das Schiff, das als “Middle Boat” bekannt wurde, wurde dazu verwendet, Hunderte Migranten zu einem großen Trawler zu transportieren, dessen Ziel Europa war. Der Trawler sank und vier Schmuggler fuhren 37 Überlebende auf diesem Boot Richtung Griechenland – und beabsichtigten, sie zu töten.

Wir haben den folgenden Beitrag für Sie übersetzt, da dieser Bericht unsere Recherchen bestätigt .. Sie wurde auf Reuters veröffentlicht.

Das vergessene Schiffswrack

Von Stephen Grey und Amina Ismail – übersetzt von Netzfrau Ursula Rissmann-Telle

Der bisher größte Verlust von Menschenleben im Mittelmeer zeigt, wie Behörden in Europa und anderswo dafür sorgen, dass die für die Tode von Migranten Verantwortlichen ungestraft davonkommen.

Alexandria, Ägypten – Gegen 02:00 Uhr am Samstag, dem 9. April kenterte ein großes blaues Fischerboot, auf dem sich Hunderte afrikanische Migranten mit ihren Kindern befanden, direkt vor der ägyptischen Küste.

Einige ertranken schnell. Andere strampelten in dem Wasser und riefen um Hilfe auf Arabisch, Somali oder Afan Oromo. Die Wenigen, die Rettungswesten trugen, bliesen auf schrillen Pfeifen.

Eine einzelne elektrische Fackel scannte die mondlose Dunkelheit. Sie kam von einem kleineren Boot, das umherkreiste, aufreizend nah. Die Männer auf diesem Boot, Schmuggler, die ihre menschliche Fracht hierher gebracht hatten, suchten nur nach ihresgleichen. Sie ignorierten die Schreie der Migranten und schlugen einige zurück ins Wasser. Nur 10 Migranten schafften es in das kleinere Boot der Schmuggler, wo sich schon 27 andere Migranten befanden.

Etwa 500 Erwachsene und Kinder starben auf der Fahrt laut Schätzungen von Behörden und Überlebenden – der bisher größte Verlust an Menschenleben im Mittelmeer 2016. Unter den Toten befanden sich etwa 190 Somalis, 150 Äthiopier, 80 Ägypter und 85 weitere aus dem Sudan, aus Syrien und anderen Ländern. 37 Migranten überlebten.

Awale Sandhool, ein 23-Jähriger, der bei einem Radiosender in Mogadishu gearbeitet hatte und vor Todesdrohungen aus dem Land geflohen war, konnte sich retten. Mitten im Vorgang des Sinkens hatte sein Freund aus Kindertagen Bilal Milyare ihm noch vor dem Ertrinken zugerufen: „Hätten wir nicht gerettet werden können?“

Bis jetzt hat niemand versucht, diese Frage zu beantworten.

Eine Untersuchung von Reuters in Zusammenarbeit mit BBC Newsnight fand heraus, dass in den 7 Monaten seit dem Massenertrinken keine Institution, weder national noch international, irgendjemanden dafür zur Verantwortung zog oder sogar jemals eine Untersuchung der Schiffskatastrophe anstrengte. Als die Nachricht durch die sozialen Medien 8 Tage nach dem Unglück auftauchte, zeigten europäische Politiker kurz Interesse. […]

Weder Italien, wohin der Trawler hatte fahren wollen, noch Griechenland, wo die Überlebenden landeten, veranlasste eine Untersuchung, ebenso wenig Ägypten, von wo aus die Migranten und Schmuggler aufgebrochen waren, Schweigen auch seitens der UNO, der europäischen Grenzbehörde, der europäischen Polizeibehörde, der NATO oder der Eingreifgruppe der EU im Mittelmeer.

Die einzige bisher offizielle Aktion bisher ist ein Betrugsverfahren in Ägypten gegen einige der Schmuggler, aber auch nur, weil sich eine Handvoll besorgter Eltern bei der Polizei beklagte. Niemand wurde jedoch bestraft. Reuters konnte die Eigentümer des Katastrophenschiffs, die Anführer der Schiffsreise und auch die „Menschen-Makler“ identifizieren, die die Migranten in Kairo und Alexandria versammelten und Geld von ihnen nahmen.

Die Untersuchung demonstriert die Lücken in der Durchsetzung internationalen Rechts, die es Menschenschmugglern so leicht machen, ihr tödliches „Geschäft“ im Mittelmeer zu verfolgen. Sie zeigt aber auch, was alles getan werden könnte, wenn Behörden den Untersuchungen von Todesfällen bei Migranten Priorität gäben. Die behördliche Gleichgültigkeit bei dieser Katastrophe steht im Kontrast zu dem Absturz des Flugzeugs MS804 von EgyptAir am 19. Mai ins Mittelmeer, bei dem 66 Menschen starben. Hier traten sofort mehrere Länder auf den Plan. Innerhalb weniger Stunden schickte Ägypten Kriegsschiffe und Flugzeuge der Luftwaffe los, um nach Wrack und Überlebenden zu suchen, ebenso engagierten sich Frankreich, Großbritannien und die USA mit eigenen Schiffen und Flugzeugen. Die Untersuchungen sowohl in Ägypten als auch in Frankreich sind noch nicht abgeschlossen.

JENE, DIE STARBEN, JENE, DIE ÜBERLEBTEN. Es gibt kein Denkmal für die Tausenden Migranten, die jedes Jahr im Mittelmeer sterben. Die meisten bleiben anonym. Reuters hat Dutzende der Opfer der Fahrt im April identifiziert – und einige Überlebende.

REUTERS/Handouts, social media, Stephen Grey

Rob Wainwright, Leiter der europäischen Polizeibehörde Europol sagte, rückblickend hätte seine Behörde die Katastrophe vom April untersuchen müssen. Reuters‘ Nachfragen hätten wohl eine „Lücke hier in der kollektiven Reaktion Europas“ auf solche Fälle aufgezeigt, sagte er in einem Interview. Sie hätten „unsere Denkweisen dazu angestachelt, uns zu verbessern“. Ende November würde Europol die Beweise von Reuters und BBC Newsnight studieren – und eine Aufnahme des Falls in Betracht ziehen zusammen mit Griechenland oder einem anderen Mitgliedsstaat. „Wenn wir ihn beschleunigen und bearbeiten können, werden wir es versuchen“.

Richter Khaled al-Nashar, Assistent des ägyptischen Justizministers für Parlaments- und Medienangelegenheiten, sagte, er könne nicht bestätigen, welche Nachforschungen nach der April-Katastrophe stattgefunden hätten, schloss aber weitere Aktionen nicht aus. „Wenn dieses Ereignis als Verbrechen bewiesen ist, wird Ägypten nicht mit den nötigen Untersuchungen zögern, um sie ans Tageslicht zu bringen, die Täter verhaften und sie zur Rechenschaft ziehen“.

Naela Jabr, Ägyptens Sonderbotschafter für Migration, sagte, Sicherheitsbehörden würden „ihr Möglichstes tun“ bei der Bekämpfung illegaler Migration und hätten bereits 5076 Menschen verhaftet, die in der ersten Jahreshälfte die Migration illegal versucht hätten. Jabr erwähnte ein Gesetz gegen Menschenschmuggel, im Oktober vom Parlament abgesegnet und im November ratifiziert, das bei diesem Kampf helfen würde.

Einige ägyptische Anwälte sagten, die Regierung hätte bereits die Macht, in diesem Fall das Recht anzuwenden. Die für die Fahrt verantwortlichen Schmuggler könnten für Mord, Förderung illegaler Migration und Verstöße gegen maritime Sicherheitsbestimmungen strafrechtlich verfolgt werden.

„Dieses Boot mit 500 Menschen zu beladen, ist in meinen Augen Mord. Ich kann es nicht anders beschreiben“, so Sabry Tolba, ein ägyptischer Rechtsanwalt, der für einige der Hinterbliebenen arbeitet.

Im November 2000 wurde das Abkommen von Palermo gegen organisiertes Verbrechen von allen durch diese Tragödie betroffenen Ländern unterzeichnet. Aber diese Länder müssen auch entsprechende Gesetze verabschieden, wirksame Maßnahmen ergreifen und „so gut wie möglich zusammenarbeiten“, um den Schmuggel von Migranten übers Meer zu verhindern und zu unterdrücken.

Dieser Bericht basiert auf Gesprächen mit Menschen, die auf verschiedene Weisen mit der Reise zu tun hatten: Überlebende, Hinterbliebene, Schmuggler, Fischer, ägyptische Küstenbewohner, Sicherheits- und Marinebeamte, Mittelsmänner zwischen Passagieren und Schleusern sowie Geldwechsler.

Reuters analysierte auch soziale Medien, um die Verbindungen zwischen Schmugglern und ihrer menschlichen „Fracht“ aufzuspüren.

Es gibt Hindernisse, die dringend überwunden werden müssen: Überlebende fürchten gewaltsame Rückführung nach Ägypten und Vergeltung durch die Schlepperbanden. Deshalb machten sie anfangs falsche Angaben über wichtige Details ihrer Reise. Diese erschweren es, die Gesetzesbrecher zur Verantwortung zu ziehen, weil sie durch Medien und US-Behörden weit verbreitet werden.

DER MARKT DER MENSCHEN

Im Frühling dieses Jahres versammelten sich jeden Tag Menschenmengen in Mekka el Mokrama Street in Kairo, wo sich das Hauptquartier des UN-Flüchtlingskommissars (UNHCR) befindet. Sie waren Migranten, meist aus Somalia und Äthiopien und warteten in Schlangen darauf, sich beim UNHCR registrieren zu lassen, um zeitweise, aber legal in Ägypten leben zu können.

Auf den Straßen liefen Makler herum und riefen „Italien, Italien, Italien“, während sie Plätze auf Booten verhökerten, die übers Mittelmeer fahren sollten. In der Winterzeit hatten es nur wenige Boote geschafft. Aber jetzt wurde das Wetter besser und das Menschen-Schmugglergeschäft nahm wieder Fahrt auf. Bis zum August wollten es mehr als 11 379 Migranten von Ägypten nach Italien schaffen, mehr als alle im Jahr zuvor. Das Mittelmeer erwies sich als tödlicher als je zuvor. Laut UNHCR starben in diesem Jahr mehr als 4663 Menschen bei dem Versuch, das Meer nach Europa zu überqueren. Das ist ein Rekord.

Ein Makler, der für die Überfahrt warb, war Hamza Abdirashid, ein schlanker und gut gekleideter Mann, aus dessen Facebook-Profil hervorgeht, dass er aus der Stadt Hargeisa im von Somalia abtrünnigen Somaliland stammt.

Sandhool, der junge Somali aus Mogadishu, traf ihn in Nasr City, einem Vorort von Kairo, wo somalische Migranten oft zusammenkommen. „Er fuhr in seinem Auto herum und fragte mich, ob ich nach Europa gehen wollte“, sagt Sandhool. Die Überfahrt kostete 1800 $, sagt Sandhool. Aber „Hamzu bot an, dass bei fünf Menschen für zwei die Überfahrt frei ist“. Sandhool sagt, dass er danach mit einem der Vertreter von Abdirashid, einem anderen Somali in Kairo, für sich selbst einen Nachlass von 500 $ aushandelte

Makler verlangten von Passagieren eine Gebühr zwischen 1300 und 2500 $ abhängig von der Zahlungsfähigkeit des Reisenden. Dies ergab sich aus Gesprächen mit mehr als einem Dutzend Überlebender. Beteiligte an diesem Geschäft sagen, dass der Makler üblicherweise 200 $ für sich einbehielt und den Rest den Schmugglern übergab.

Einige andere Migranten identifizierten Abdirashid als den Haupt-Makler für Somalis auf der Fahrt im April. Andere Makler befassten sich mit anderen Nationalitäten. Die Mittelsmänner stammen gewöhnlich aus denselben ethnischen Gruppen wie die Migranten.

Makler: Hamza Abdirashid, in Kairo und aus Somalia stammend, soll Dutzende von Migranten für die Reise angeworben haben.

REUTERS: Soziale Netzwerke

Die Makler schickten Nachrichten über Apps wie Facebook, WhatsApp und Viber, um mit Migranten zu verhandeln. Aufzeichnungen von solchen Interaktionen könnten Vollzugsorganen dabei helfen, die Makler zu identifizieren. Eine Analyse der Facebook-Freunde des Maklers Abdirashid zeigt, dass der Kontakt zu wenigstens 10 jener Somalis auf besagtem Schiff hatte: sechs Opfer und vier Überlebende.

Als man ihn über die sozialen Medien zu kontaktieren versuchte, weigerte sich Abdirashid, über seine Rolle als Makler zu sprechen, weil das Thema der illegalen Migration heikel sei.

„Ich bin Student. Ich möchte keine Probleme haben“, schreibt er in einer WhatsApp-Unterhaltung mit einem Reporter.

UNTEN AM STRAND

Am Abend des 7. April, einem Donnerstag, bewegte sich eine Flotte von Kleinbussen durch die Vorstädte von Kairo, die Somalis und Äthiopier an Haltebuchten und Straßenecken aufsammelten.

Die Busse waren Fahrzeuge für Touristen. Sie wurden von einer Firma „Honest Tours“ in Giza gemietet, sagt einer der Makler. Emad Monir, Transportleiter der Firma, sagt, er habe nicht gewusst, dass diese oder andere Transporte illegale Migranten betrafen. „Es ist wie bei einem Straßentaxi. Der Fahrer fragt den Gast ja auch nicht, warum er dort oder dorthin will“.

Die Busse fuhren die Migranten drei Stunden lang zum Hafen von Alexandria.

Sandhool und seine Mitreisenden wurden einer anderen Gruppe ägyptischer Schmuggler übergeben, die pro Kopf 220 $ verdienten. Dafür steckten die Schmuggler die Migranten vorübergehend in Apartments oder isolierte Gelände in der Nähe des Strands.

Sie schoben die Migranten auf wartende Boote. Hierbei passierten schon die ersten Unglücksfälle mit Todesfolge.

Früh am Freitag, dem 8. April, nach einer Nacht des Wartens in isolierten Carparks mit zugezogenen Vorhängen wurde eine Gruppe von Somalis und Äthiopiern aus Bussen an den Miami-Strand von Alexandria verladen. Üblicherweise ist dieser Strand von Vergnügen suchenden Touristen bevölkert.

Wie gelangen die Flüchtlinge aus Afrika nach Europa?

Er ist auch eingezäunt und wird normalerweise durch Wachen geschützt. Aber an dem Tag erschien keine einzige Wache und niemand ging dazwischen, als mit Pistolen bewaffnete Schmuggler die Migranten in Gruppen von 20 – 30 versammelten und sie auf schmale Holzboote mit Motoren luden, die an dieser Küste üblich sind.

„Alle wurden gegriffen und geworfen. Menschen saßen auf mir und ich fühlte einen starken Druck“, sagt Sandhool. „Dann begann das Boot zu fahren“. In Sichtweite des Strandes und noch in ägyptischen Gewässern hielten diese Boote entlang eines kleinen hölzernen Fischerboots, das mit einem Tuch bedeckt war. Die Dünung war sehr gefährlich wegen der Nähe zum Strand. Als die Menschen sich aus den Booten herauskämpften, begann Sandhools Boot zu kippen. AbdiAziz Shiyo, ein 23-Jähriger aus Hargeisa, der mit Sandhool in Kairo Fußball gespielt hatte, erkannte die Gefahr. „Balance halten!“, rief er, aber es war zu spät. Das Boot kenterte und warf alle ins Wasser. Shiyo ertrank ebenso wie Asad Elmi, eine schwangere Frau in den Zwanzigern, und ein sechs Monate altes Kind ohne Bezugspersonen. Andere wie Sandhool konnten auf das Fischerboot klettern.

Osman Asad Mohamed, ein Migrant aus Süd-Somalia, wurde auch Zeuge der Todesfälle. Er sagt, die Schmuggler hätten ein Extra-Boot in Bereitschaft gehabt, mit dem sie die Leichen wegtransportierten und verloren gegangenes Gepäck einsammelten.

Abdelaziz Yusuf, ein Rechtsanwalt für Strafsachen aus Kairo, sagt, dass laut Gesetz alle Schiffe Ägyptens über Kommunikationsmittel verfügen und Notrufe absenden können müssen. Im Fall eines Todes könnten die Seeleute entweder unter Seerecht wegen Versagens im Dienst oder unter Zivilrecht wegen absichtlich unterlassener Hilfeleistung zur Rettung von Leben angeklagt werden. Im letzteren Fall könne von vorsätzlichem Mord gemäß Artikel 230 des ägyptischen Strafrechts gesprochen werden, der mit dem Tod bestraft wird.

UNTERWEGS: Awale Sandhool, ein 23-jähriger Somali, reiste über Äthiopien und Ägypten, um dort die unheilvolle Schifffahrt über das Mittelmeer anzutreten. Er überlebte die Tragödie und schaffte es nach Griechenland.

Inzwischen hatten Wind und Dünung zugenommen. Dennoch fuhr das Fischerboot (ca. 15 m lang, weiß mit einem blauen und einem goldenen Streifen am Rumpf) mit etwa 200 Menschen an Bord los. Örtliche Seeleute hielten das Boot für eines derer, die vom kleinen vom Militär kontrollierten Hafen Abu Qir weiter entlang der Küste von Miami Beach operierte. Örtliche Fischer und Sicherheitsbeamte sagen, Schmuggelaktionen von diesem Hafen aus würden von Ismail al-Bougy, einem einflussreichen 41-Jährigen, kontrolliert, der in seinen Anfängen Meeresfrüchte auf den Straßen verhökerte. Sein wirklicher Name ist laut Sicherheitsbeamten und einem Polizeibericht Ismail Ali, so Reuters.

Das hölzerne Fischerboot – oder „Middle Boat“, als das es bekannt wurde – sollte die Migranten zu einem viel größeren Schiff transportieren. Überlebende sollten später von dem Hauptschiff als dem „Big Boat“ sprechen. Es war blau gestrichen und war 22 Meter lang. Nach Beschreibung der Überlebenden hatte es drei Decks, ein Oberdeck, das dem Wetter ausgesetzt war, ein Arbeitsdeck und unten ein Tiefkühldeck für Fische, das nur durch eine sehr schmale Luke und über eine ebensolche Leiter erreicht werden konnte. Bis zum Freitagabend befand sich der Trawler an einem festen Punkt offshore, wo er in den zunehmenden Wellen stampfte und schlingerte. Anstelle von Fisch war das Unterdeck mit mehr als 300 Passagieren beladen, die in den Tagen davor von verschiedenen Stränden eingesammelt worden waren. Die Schmuggler planten, weitere 150 bis 200 Menschen in das Unterdeck zu stopfen.

SCHIFFE UND SCHMUGGLER

Die ägyptische Mittelmeerküste wird von der nationalen Küstenwache und dem Militär straff kontrolliert. Große Seeschiffe können nur von einer Handvoll Buchten oder Nil-Armen abfahren – alle unter Beobachtung von Türmen der Küstenwache aus. Darum sind alle Schiffe und Mannschaften der Schlepperaktionen namentlich bei Fischern und örtlichen Beamten der Küstenwache bekannt. Vertreter der ägyptischen Küstenwache waren zu keinem Kommentar bereit.

Schmuggler: Ismail Ali, anders bekannt als Ismail al-Bougy, einer der Männer hinter der Unglücksfahrt, laut Angaben eines anderen Schleppers, Sicherheitsbeamten und Fischern.

Örtliche Fischer und andere Schlepper sagen, das „Big Boat“, das im April sank, sei in einem Dock gebaut und im Hafen Rashid (früher: Rosetta), etwa 50 km nordöstlich von Alexandria, registriert worden.

Einer der ägyptischen Top-Schlepper, der anonym bleiben wollte, identifizierte das gesunkene Schiff als die „Abu Nawal“, registriert in Rashid als RSH-123. Der Schlepper, der in Italien zur Fahndung ausgerufen ist, weil ihm die Organisation anderer illegaler Überfahrten vorgeworfen wird, stellte einige Fotos des Schiffs zur Verfügung und sagte, er wusste von dieser Fahrt, weil er gebeten worden war, Passagiere dafür zu rekrutieren, was er ablehnte. Er sagte, Fischerboote würden in Rashid speziell für illegale Aktionen hergestellt. „Heutzutage bauen wir Boote speziell für dieses „Geschäft“, nicht fürs Fischen. Es ist millionenfach lohnender“. Fischernetze seien oft leer [nach einem Fischzug], aber bei einer Schmuggelfahrt „kann man 400 000 $ verdienen“.

Die „Abu Nawal“ verließ Rashid am 9. März für einen Fischzug und kehrte nicht zurück laut einem Bericht der Küstenwache vom 16. April, den das Fischereiministerium empfing, so Reuters.

Der ursprüngliche Schiffseigentümer Hassan Yehia stammt aus Burg Migzizel, einem Dorf, das einen Kilometer von Rashid entfernt auf der anderen Seite des Nil liegt. Das Dorf steht in dem Ruf, die Schmuggelzentrale des Nildeltas zu sein.

Yehia sagt, die Abu Nawal sei nach seiner Tochter und seiner Mutter benannt. Er machte widersprüchliche Angaben über seine Verbindung mit dem Schiff. Zunächst sagte er, er habe die Abu Nawal im März an einen libyschen Händler verkauft, später jedoch sagte er, ihm gehöre das Schiff, das jetzt in Libyen sei, noch zur Hälfte.

Jedoch sagte der Menschenschmuggler, Yehia habe das Schiff im März an zwei Männer verkauft, die er als Anführer der April-Fahrt identifizierte: Bougy, der Schmuggler aus Alexandria, und sein Partner Ahmed Obeid, 51 Jahre alt. Obeid wird auch „Dr. Obeid“ oder einfach nur der „Doktor“ genannt.

DELTA: Das Dorf Burg Mighizel, das in dem Ruf steht, das Schmugglerzentrum Ägyptens zu sein.

Sicherheitsbeamte und Fischer beschreiben Obeid als den führenden Schmuggler in Burg Mighizel. Obeid und Bougy waren zwischen 2005 und 2008 inhaftiert, weil sie eine Bedrohung der Sicherheit darstellten, und zwar während der dreißig Jahre andauernden Zeit des Ausnahmezustandes, der 2012 aufgehoben wurde, so ein ägyptischer Sicherheitsbeamter. Er sagte ferner, dass die Männer weiterhin Schlüsselfiguren im Schmuggelgeschäft seien.

Ein Makler, der direkt mit dem Rekrutieren von Passagieren für die Aprilfahrt zu tun hatte, bestätigte Obeid und Bougy als Organisatoren der Unglücksfahrt. Dies taten auch zwei Verwandte von ägyptischen Opfern der Fahrt, die – getrennt voneinander – durch Befragung der Makler vom Schicksal ihrer Verwandten erfahren hatten.

Yehia, der ursprüngliche Schiffseigentümer, sagte, er kenne Obeid, der aus demselben Dorf stamme. „Sie wissen vielleicht schon, wie gefährlich dieser Mann sein kann“, sagt er. „So gefährlich, dass andere und ich vielleicht nicht über ihn reden wollen“.

Die Polizei teilt mit, Bogey und Obeid seien mehrmals in Abwesenheit durch ägyptische Gerichte für Vergehen im Zusammenhang mit illegaler Migration verurteilt worden. Das letzte Urteil in Abwesenheit wegen Fehlverhaltens beim Schmuggeln einiger Kinder, die man im April für vermisst erklärte, erfolgte nach einer Klage durch Eltern. Beide wurden zu einem Jahr Gefängnis verurteilt, sind aber auf freiem Fuß.

Rechtsanwälte sagen, weder Polizei noch Strafverfolger hätten irgendeine [mögliche] Verbindung mit der April-Katastrophe untersucht. Auch jene, die wegen Betrugs verurteilt seien, hätten Berufung eingelegt, falls sie [überhaupt] je verhaftet worden seien.

Obeid reagierte nicht auf Briefe, die in seinem Haus in Burg Mighizel ankamen. Sein Sohn Ibrahim sagte, er bestätigte, dass sein Vater Fahrten für Migranten arrangiert hatte, fügte aber hinzu, es gebe keine Beweise für eine Verbindung mit der Unglücksfahrt, mit der man ihn vor Gericht bringen könne.

„Wenn er eine Fahrt arrangiert, tut er das auf gottgefällige Weise“, sagt er und lacht. „Kein Schmuggler verwendet je seinen wirklichen Namen, also gibt es keinen wirklichen Beweis dafür, dass es sich um meinen Vater handelt“.

Bougy war für eine Stellungnahme nicht zu erreichen.

DAS ERTRINKEN

Um 2 Uhr nachts am Samstag, dem 9. April erreichte das „Middle Boat“ den Trawler. Es war stockdunkel und außer Sichtweite der ägyptischen Küste. Laut den Worten eines Fischers mit einer engen Verbindung zu Schmugglerbanden trafen sich die beiden Boote nach ein paar Stunden Fahrt draußen vor dem Hafen el-Saloum nahe der libyschen Grenze. Die See war rau und es war ein Sturm aufgekommen. Das kleinere Boot war mit Seilen am Trawler festgemacht. Die Passagiere des kleineren Boots, zwischen 150 und 200 Menschen, mussten darüber kraxeln.

Als der Trawler, das „Big Boat“, ins Schaukeln geriet, verrutschte seine zunehmende „Ladung“ zur Seite. Es bekam Schlagseite und kenterte schließlich.

Panisch zerschnitt die Mannschaft auf dem „Middle Boat“ die Halteseile und stieß ihr Boot, in dem sich noch 27 Migranten befanden, von dem Trawler weg.

Sandhool befand sich auf dem obersten Deck des Trawlers. Er begann zu beten. „Die Menschen auf dem Boot schrien und weinten durcheinander“, sagt er. Hunderte befanden sich noch im unteren Lagerdeck. Sandhool wurde ins Wasser geschleudert. „Ich schwamm zusammen mit ein paar jungen Leuten weiter weg in dem Versuch, uns selbst zu retten“. Sandhool und einige andere hatten Rettungswesten mitgebracht, die meisten [jedoch] nicht.

Muaz Mahmud, ein Äthiopier, wurde mit seiner Frau und seinem zwei Monate alten Kind über Bord geworfen. Er überlebte. Seine Familie nicht. „Ich versuchte, sie zu retten“, sagte er unter Tränen. „Aber ich konnte es nicht schaffen. Sie entglitten mir. Alle möglichen Menschen kletterten über mich oder hängten sich an mich, wobei ich mich selbst kaum halten konnte. Also zog ich alles aus, überließ alles dem Meer und versuchte zu schwimmen. Ich schwamm in Richtung des Lichts“.

AUF SEE: Einige derer auf dem „Middle Boat“ posieren für das Foto, gerade bevor sie gerettet werden, eine Woche nach dem Unglück.

Dieses Licht war die einzelne Lampe auf dem „Middle Boat“. In der folgenden halben Stunde fuhr das Boot durchs Wasser auf der Suche nach der Mannschaft und dem Kapitän (sein Name: Salem) des Trawlers. Die Seeleute auf dem Boot ignorierten die Schreie der Migranten im Wasser, schwangen Messer und bedrohten Überlebende wie Muaz. Aber irgendwie gelangte er an Bord. Aber als er jemandes Hand fasste, um ihn aus dem Wasser zu ziehen, so sagt er, boxte ihn einer der Mannschaft, bis er losließ. Derselbe Mann zerschnitt auch das Seil, mit dem Überlebende klettern wollten.

Gamachis Abdullah, ein weiterer äthiopischer Student, sah hilflos vom „Middle Boat“ aus zu, wie seine Mutter und seine zwei Brüder ertranken. Sein ältester Bruder hätte es fast geschafft. „Er schrie herauf zu mir, aber die Mannschaft zwang uns zurückzutreten“, sagt Abdullah. Die Schmuggler retteten Salem und zwei der Mannschaft des Trawlers, aber innerhalb von Minuten starb Salem offensichtlich an einem Herzinfarkt und sein Körper wurde über Bord geworfen. Dann fuhren die Schmuggler weg und ließen nach Worten von Muaz wenigstens 100 noch lebende Menschen im Wasser zurück.

Yusuf, der Rechtsanwalt aus Kairo, sagt, die Überladung des Trawlers liefe auf vorsätzlichen Mord hinaus. Die Annahme einer solch massiven Ladung, sagt er, bedeute, dass das Schiff nur eine geringe Chance hatte, sicher anzukommen. Was das Ertrinken der Menschen in der Nähe des Strandes beträfe, sagt er, obwohl es kein spezielles Gesetz über Seeunglücke gäbe, könne das Versagen der Mannschaft, „in deren Hand es lag, die Menschen zu retten“, von Gerichten als Mord nach ägyptischem Strafrecht interpretiert werden.

Nashar, der leitende Beamte im Justizministerium, sagt, eine Anklage wegen Mord bedürfe eines Beweises einer „besonderen Absicht, einen Menschen zu töten“. In Fällen von Menschenschmuggel, sagt er, ist der „Zweck, Individuen zu transportieren und sie gegen Profit zu schmuggeln“. Aber Schmuggler könnten wegen fahrlässiger Tötung belangt werden, was eine Verurteilung von bis zu 10 Jahren Gefängnis zur Folge haben könnte. Gesetze gegen Menschenschmuggel und maritime Gesetze sowie Gesetze zum Schutz der Rechte von Frauen und Kindern könnten ebenfalls gebrochen worden sein.

Das „Middle Boat“ war mit Radios, Handys und Satelliten-Telefonen ausgerüstet gewesen, aber keiner der Mannschaft versuchte, die Behörden zu alarmieren, so die Aussagen von Überlebenden. Stattdessen hätten sie darüber diskutiert, ob die Überlebenden getötet werden sollten.

Osman Asad Mohamed, der wegen ein paar Jahren Aufenthalt im Jemen Arabisch verstand, sagte, der Vorschlag sei von einem schmalen, hellhäutigen Schmuggler gekommen, von demjenigen, der zuvor die Seile zwischen den Schiffen gekappt hatte. „Ich erinnere mich deutlich an seine Worte: ‚Lasst sie uns töten und uns unser Boot zurückfahren. Die meisten von ihnen sind tot; sie haben keinen Wert mehr für uns’“.

Einige Überlebende waren so versteinert durch diese Worte, dass sie sich im Unterdeck des „Middle Boat“ versteckten und provisorische Waffen zur Verteidigung in den Händen festhielten. Jedoch realisierten die Schmuggler ihre Drohung nicht, sagt Mohamed, weil sie entschieden, dass die Migranten in der Überzahl waren.

Dass die Mannschaft keinerlei Hilfe anforderte, führte zu zahlreichen Verlusten, sagen maritime Experten für Sicherheit, denn viele derer, die Rettungswesten besaßen, hätten Stunden überlebt. Ein leitender Beamter der griechischen Küstenwache sagt, die Routen, die von Ägypten und Libyen ausgehen, seien stark befahren mit Schiffen, die den Suezkanal verlassen. Solche Schiffe hätten helfen können, wäre sie gerufen worden, sagt er.

Mohamed erinnert sich daran, dass er die Lichter großer Schiffe in der Ferne sah, bevor der Trawler sank.

RETTUNG UND UNTÄTIGKEIT

Am 16. April gegen 12:30 mittags, eine Woche nach dem Unglück, erreichte eine erste Nachricht über das Unglück das Hauptquartier der italienischen Küstenwache in Rom: ein Notruf von einem Satelliten-Telefon. Der Anruf kam von einem der Überlebenden an Bord des „Middle Boat“. Bis 2:19 hatte die italienische Küstenwache festgestellt, dass sich das Boot in internationalen Gewässern befand innerhalb der griechischen „Koordinationszone für Rettungen“. Die Aufteilung des Meeres in Zonen erfolgte per Vertrag unter den Anrainerstaaten des Mittelmeers. Jedes Land zeichnet verantwortlich für Rettungsvorgänge in seiner Zone, auch wenn es kein Gesetz geltend machen kann außerhalb der Landesgewässer, üblicherweise ein Streifen von 22 km von der Küste entfernt.

NACHRICHT: Rettungsanweisung gesendet von einem Boot der italienischen Küstenwache an ein Handelsschiff in der Nähe des „Middle Boat“. Am Ende rettete ein anderes Schiff die Überlebenden.

Knappe zwei Stunden später beauftragten Beamte der griechischen Küstenwache im Hafen Piräus einen Massengutfrachter unter niederländischer Flagge, die 170 Meter lange Eastern Confidence, ihren Kurs zu ändern und das Boot voller Überlebender zu finden.

Maritimes Recht verpflichtet zur Hilfe bei der Rettung, aber nicht zur Sammlung von Beweisen. Daher überprüfte die Mannschaft der „Confidence“ nicht das Boot auf Erkennungszeichen oder Seriennummern, die hätten zeigen können, woher die Schmuggler kamen. Die Betreiberfirma der „Confidence“, die Orient Shipping Rotterdam, gab Reuters die grundlegenden Informationen der Rettung, lehnte aber weitere Kommentare ab.

Die „Confidence“ fuhr die Überlebenden zum griechischen Hafen Kalamata. Hier begannen sie, der griechischen Küstenwache, den Medien, den Agenturen wie dem UNHCR und, per Telefon, Familien und Freunden, ihre Geschichte zu erzählen. Die Überlebenden sagen, dass bis zu 500 Menschen ertrunken seien. Griechische Behörden halfen zwar bei der Rettung und leisteten den Überlebenden Hilfe, aber sie entschieden, den Vorgang des Unglücks nicht zu untersuchen. Ein Informant mit Kenntnis des Falles sagt, dass die griechische Küstenwache den Fall nicht einem Staatsanwalt übergab, weil es keinen Hinweis auf ein Vergehen auf griechischem Hoheitsgebiet gegeben habe. Weder Vertreter der Küstenwache noch Justizminister Nikos Paraskevopoulos wollten dies kommentieren.

Hätten griechische Behörden Überlebende intensiver befragt, hätten sie vielleicht festgestellt, dass einige ihrer Angaben falsch waren – insbesondere die anfängliche Behauptung, die Migranten seien von Tobruk in West-Libyen gestartet. Auf Grund der Interviews mit den Überlebenden in Griechenland wiederholte das UNHCR diese falsche Aussage in einer Presseerklärung am 20. April. In Wirklichkeit war niemand von Tobruk aus gestartet.

Laut beteiligten Maklern, Verwandten, die mit den Opfern kurz vor ihrer Abreise sprachen, und ägyptischen Sicherheitsbeamten starteten alle Migranten von Ägypten aus.

Sandhool, der junge Somali, sagte ursprünglich, dass er in Tobruk an Bord gekommen war. Später korrigierte er seine Geschichte: „Es tut mir sehr leid, dass ich gelogen habe“, sagt er und er erklärt, die Überlebenden hätten sich zuvor auf die falsche Geschichte geeinigt, weil sie Angst davor hatten, sie könnten von Europa nach Somalia oder Ägypten zurückgebracht werden.

Die Überlebenden verschwiegen auch, dass vier der Ägypter auf dem „Middle Boat“ Seeleute waren, die Teil des Schmugglergeschäfts gewesen waren. Mahmud, der überlebende Äthiopier, sagt, die vier hätten die Überlebenden genötigt zu lügen. „Die ägyptischen Schmuggler waren mit uns zusammen und sie sagten, dass die griechischen Behörden uns zurückschicken würden … wenn wir ihnen sagen, dass wir aus Ägypten kommen. Nur aus diesem Grund sagten wir, wir seien von Tobruk gekommen“.

Andere Überlebende sagen, sie seien diesen Mannschaftsmitgliedern dankbar dafür, dass sie sie hätten leben lassen und dass sie sie nach Griechenland mitgenommen hätten.

KEIN MANDAT

Weder Griechenland noch Frontex noch die Grenzagentur der EU untersuchten den Fall. Izabella Cooper, Sprecherin, sagte, es hätte kein Mandat dafür gegeben. Untersuchungen von möglichen Verbrechen könnten nur von „nationalen Behörden“ in Auftrag gegeben werden.

Die Europäische Union führt einen See-Einsatz draußen vor der libyschen Küste durch – Operation Sophia – um Schmuggler zu identifizieren und deren Schiffe festzusetzen. Praktisch operiert sie auch als Rettungsdienst, da sie von Januar bis August 2016 mehr als 16 000 Migranten aus dem Meer gefischt hat.

Kapitän Antonello de Renzis Sonnino, der Hauptsprecher der Operation, sagt, die Einsatzgruppe hätte in einem Gebiet außerhalb der libyschen Hoheitsgewässer operiert und bis jetzt erfolgreich 89 Schmuggler und Schlepper identifiziert, die italienische Behörden nun der Strafverfolgung zuführen könnten. Nach dem Unglück im April gefragt, antwortete er, dass „gemäß der ihm gegebenen Informationen das Unglück sich weit außerhalb des Bereichs ereignet hätte, in dem sich unsere Schiffe befinden“.

Die NATO, die eine separate See-Mission in der Ägäis zur Überwachung illegaler Migration durchführt, begann im letzten Monat mit Maßnahmen gegen Menschenschmuggel. Eine Sprecherin hierzu: „Kein Schiff unter NATO-Befehl hatte ein Mandat, sich direkt bei Aktivitäten gegen Menschenschmuggel im Mittelmeer im April zu beteiligen“.

Die UNHCR, die den Überlebenden half, als sie Athen erreichten, ließ verlauten, dass Nachforschungen nicht Teil ihres Aufgabenbereichs seien. „Die UNHCR hilft Überlebenden und warnt potenzielle Reisende vor der Überfahrt. Wir haben keinen Auftrag, Untersuchungen zu organisierten Verbrechen anzustellen“, sagt Hauptsprecherin Melissa Fleming. Eine Institution erkennt an, dass sie nachforschen könnte: Europol. Wainwright, der Chef von Europol, sagt, die Aufgabe seiner Behörde sei, solche Untersuchungen zu unterstützen, obwohl sie dabei auf die Mitarbeit eines Mitgliedsstaats angewiesen ist.

Wainwright sagt, er sei willens, den Fall aufzunehmen und in Griechenland zu den höheren „Etagen“ tragen. Jedoch, sagt er, besäße das Land kaum Personal und trüge bereits die Last eines riesigen Zustroms von Migranten. Eine weiterführende Reaktion sollte auf jeden Fall „die der Europäischen Union sein“, so Wainwright.

Die Anwendung von Gesetzen in Europa wurde zunehmend beeinträchtigt durch die zahlreichen Herausforderungen auf Grund der illegalen Migration, sagt er, egal ob es sich um das Ertrinken von Migranten oder vermisste Migrantenkinder handelte.

Im Gegensatz dazu bände ein einzelnes vermisstes Kind in England, Frankreich oder Deutschland riesige Mengen an Polizei-Personal. „Wir leben fast in einer Parallelwelt“, sagt er. „Es ist frustrierend“.

Der somalische Außenminister Abdusalam Omer sagt, die Regierung habe somalische Botschaften gebeten, mit Beamten und privaten Organisationen in Italien, Griechenland und Ägypten zu sprechen, die mit Migranten arbeiten. Angaben über Hilfen, die Somalia erhielt, gab er nicht preis, aber er drängte auf eine engagiertere Reaktion. „Wenn Sie eine ganze Schiffsflotte vor der Küste Somalias zur Bekämpfung von Piraterie bereitstellen können, warum kann man nicht auch eine Schiffsflotte bereitstellen, um Menschenleben im Mittelmeer zu retten? Das sind unsere Kinder. Wenn ich sage „unsere Kinder“, meine ich nicht nur die somalischen Kinder, sondern die von uns allen, es ist die Menschheit“.

DER WEG NACH KAIRO

Auch Ägypten entschied sich, keine Untersuchungen vorzunehmen. Die Ortspolizei von Alexandria initiierte eine Teil-Untersuchung in dem Fall des Verschwindens von neun ägyptischen Jungen im Teenageralter, die im April nach Italien in See stachen, stellten jedoch keine Verbindung der Jungen mit dem Unglück fest. Abdo Abdul Hamid aus Alexandria machte eine Aussage gegenüber der Polizei. Dies hatte den Bericht eines Strafverfolgers zur Folge, den Reuters überprüfte und der einige der Anführer der Schmuggler namentlich nennt. Sechs von ihnen, darunter Bougy und Obeid, wurden von einem Gericht in Alexandria in Abwesenheit des Betruges an den Familien der Jungen verurteilt. Alle sind weiterhin auf freiem Fuß.

„Diese Leute müssen bestraft werden“, sagt Abdul Hamid. „Ich werde mich an ihre Fersen heften, bis sie alle im Gefängnis sind“.

Kein ägyptischer Vertreter hat sich das Schiffswrack selbst angesehen, dies bestätigen zwei leitende Sicherheitsbeamte. Strafverfolgungsbeamte sagen, ein ineffektives Justizsystem mache es schwer zu handeln, und sie machen auch einen großen Arbeitsdruck dafür verantwortlich. Ein leitender Sicherheits-Informant sagt, illegale Migration sei nichts Neues. „Zurzeit liegt der Schwerpunkt auf Sicherheit und Drogen“.

Wenn auch nur eines der Schiffe, die an dem Unglück beteiligt waren, unter ägyptischer Flagge gefahren oder in Ägypten registriert gewesen wäre, so wie große Fischtrawler wie die Abu Nawal, dann hätte unter internationalem Recht Kairo ein klares Mandat und möglicherweise sogar eine Verpflichtung, das Unglück zu untersuchen. Dies meint Niels Frenzen, klinischer Professor für Recht an der Gould School of Law der University of Southern California.

Nashar, leitender Beamter im ägyptischen Justizministerium, sagt, Untersuchungen von Fällen illegaler Migration seien schwierig, weil sie es oft erforderlich machten, Beweise zu sammeln und Verbrecher über Landesgrenzen hinaus zu verfolgen und weil Migranten oft zögerten, Zeugnis abzulegen.

Aber, sagt er, „ich kann versichern, dass es nicht im Interesse der untersuchenden Behörden ist, egal ob des allgemeinen Strafverfolgers oder jeglicher relevanten Strafverfolgungsbehörde, solche Verbrechen unter den Tisch fallen zu lassen“.

Nashar sagt, eine weitere Schiffskatastrophe habe es im September gegeben. Danach habe Ägypten ein neues Gesetz „zur Bekämpfung illegaler Migration durchgepeitscht“. Siehe: Grausam! Ein Boot mit über 600 Menschen kentert vor Ägyptens Küste – Egypt migrant boat capsize: Hundreds feared dead

Im Mai stimmten die sechs Ägypter, die gerettet und nach Griechenland gebracht worden waren – zwei Jugendliche und vier Mannschaftsmitglieder – zu, wieder zurück nach Ägypten gebracht zu werden. Laut einem Bericht der Flughafenpolizei Kairos sagten die sechs den Behörden, dass sie von einem ägyptischen Strand aus gestartet waren.

Dies gab Ägypten einen weiteren Grund zu untersuchen. Jedoch, statt weiter nachzuforschen, bestrafte die Polizei die sechs wegen illegalen Grenzübertritts.

Die zwei jugendlichen Überlebenden und die vier Schmuggler wurden verurteilt zu je 100 ägyptischen Pfund bzw. 11 $. Bis jetzt ist dies die einzige Strafe, die im Zusammenhang mit dem Untergang der Abu Nawal verhängt worden ist.


Stephen Grey berichtete aus Athen, Kairo und Alexandria; Amina Ismail aus Kairo, Alexandria und Kafr-el-Sheikh. Zusätzliche Berichte von Sameh Ellaboody in Kairo, Alexandria, Kafra-el-Sheikh und Damietta; Karolina Tagaris in Athen; Crispian Balmer und Steve Scherer in Rom; Edmund Blair in Nairobi; Abdi Sheikh in Mogadishu; und Hussein Ali Noor in Hargeisa.

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