Quelle: taz | 01.12.2016
Ahmed H. hätte die Grenze zu Ungarn legal passieren können, wollte aber zwischen Polizei und Flüchtlingen vermitteln. Jetzt wird er hart bestraft.
Christian Jakob
SZEGED taz | „Es tut mir sehr leid, wenn ich das Gesetz gebrochen habe. Aber ich fühle mich nicht schuldig. Ich bin kein Terrorist.“ Das waren die letzten Worte des Syrers Ahmed H. bevor ihn ein Gericht im südungarischen Szeged am Mittwochnachmittag zu einer Haftstrafe von 10 Jahren verurteilte.
Es war das letzte und mit Abstand härteste Urteil im Fall der „Röszke 11“. Diese waren aus etwa 5.000 Menschen herausgegriffen worden, die am 16. September 2015 über die serbisch-ungarische Grenze am Übergang Röszke liefen.
Unmittelbar zuvor hatte die ungarische Regierung die „Balkanroute“ an dieser Stelle unterbrochen und den Grenzübergang mit Stacheldraht geschlossen. Am Vorrag war ein Gesetz in Kraft getreten, dass für die „illegale Einreise“ nach Ungarn bis zu drei Jahren Haft vorsah.
Die teils seit Monaten auf der fliehenden Menschen konnten in Röszke nicht vor und nicht zurück, die Lage war extrem angespannt. Einige Menschen warfen Steine, Stöcke oder Flaschen auf Beamte. Diese setzten Tränengas und Wasserwerfer ein, um die Menschen zurück auf die serbische Seite zu drängen. 15 Polizisten und mehr als hundert Flüchtlinge wurden verletzt. Einer Gruppe, darunter Ahmed H. , gelang es, ein Tor der Sperranlage einzudrücken. Die Staatsanwaltschaft warf H. vor, „Anführer“ der Flüchtlinge gewesen zu sein, weil er ein Megafon benutzt hatte.
Ahmed H. hätte die Grenze legal überqueren können
Der seitdem inhaftierte Syrer hatte stets bestritten, zu Gewalt aufgerufen oder Polizisten angegriffen zu haben. Sein Anwalt sagte am Mittwoch, H. müsse als „Sündenbock“ herhalten und werde als „Terrorist“ präsentiert.
H. selbst ist kein Flüchtling. Er zog 2006 nach Zypern, heiratete eine Zypriotin und lebte seither in Limassol als Maler. Das Paar hat zwei Töchter, die 5 und 7 Jahre alt sind. Im Sommer 2015 musste H.s Familie aus Idlib nahe Aleppo fliehen. H.s Eltern, ein Bruder, dessen Frau, ihre drei Kinder sowie ein Neffe, verließen die Stadt. In Istanbul stieß H. zu ihnen um sie auf dem Weg nach Europa zu begleiten.
Die Gruppe setzte mit dem Boot über nach Lesbos, mit der Fähre ging es weiter nach Thessaloniki, über Mazedonien und Serbien kamen sie am 16. September in Röszke an. H.s Aufenthaltstitel für Zypern war für die gesamte EU gültig. Anders als seine Familie hätte er die Grenze legal überqueren können. Doch er wollte seinen Vater und seiner teilweise blinden Mutter dabei zu helfen, nach Westeuropa zu gelangen. Seine Frau und seine beiden Töchter haben ihn seither nicht mehr gesehen.
H. sagte am Mittwoch, er sei der einzige in dem Gemenge gewesen, der Arabisch und Englisch sprach. Also habe er zwischen der Polizei und den Flüchtlingen zu vermitteln versucht. Deshalb habe er ein Megafon benutzt. Das Gericht jedoch folgte der Anklage. Die Zusammenstöße mit den ungarischen Grenzpolizisten seien ein „Terrorakt“. Es verurteilte ihn wegen Rädelsführerschaft.
Menschenrechtler fordern Berufung
Der Richterspruch wurde von Menschenrechts- und Flüchtlingsgruppen heftig kritisiert. Der Vizedirektor von Amnesty International Europa, Gauri van Gulik, sprach von einem „eklatanten Missbrauch von Terrorismusbestimmungen“. Die vorgetragenen Beweise seien „unglaublich vage“. Das Gericht folge „einer der schlimmsten derzeit in Europa festzustellenden Tendenzen“: einer übermäßig weit gefassten Definition von „Terrorismus“ und ihres „absurden Gebrauchs“ zur Flüchtlingsabwehr.
H. habe seinen Eltern helfen wollen, an einen sicheren Ort zu gelangen. Steine zu werfen und unregelmäßig in ein Land einzutreten, „stellt keinen Terrorismus dar und kann dieses drakonische Urteil nicht rechtfertigen“, so van Gulik. Das Urteil müsse im Berufungsverfahren aufgehoben werden.
Offenbar soll ein Exempel statuiert werden
Elf offenbar willkürlich heraus gegriffene Personen – die „Röszke 11 – wurden wegen „illegalen Grenzübertritts“ und „Teilnahme an Massenunruhen“ an jenem Tag angeklagt, unter ihnen Faisal F., ein irakischer Mann im Rollstuhl und die Eltern von H..
Im Juli wurden zehn von ihnen wegen „illegaler Einreise“ zu Haft von ein bis drei Jahren, teils auf Bewährung, verurteilt. H.s Urteil war immer wieder verschoben worden. Nun hatte sich die Orbán-Regierung offenbar entschieden, ein Exempel zu statuieren. Flüchtlings- und Menschenrechtsgruppen haben für Samstag zu einer Demonstration in Budapest aufgerufen.
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siehe auch: You Tube | 30.11.2016
Hungary: 10-year sentence for Syrian man over border riot
Hungary has been criticised for using anti-terrorism laws to convict a Syrian-Cypriot man over riots near the Serbian border last year.
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siehe auch: The Guardian | 30.11.2016
Amnesty condemns jailing of Syrian on terror charges in Hungary
Case of man jailed for 10 years after being accused of orchestrating clashes between refugees and police called ‘affront to justice’
A Syrian builder has been jailed for 10 years on terrorism charges in Hungary in a case that has become a cornerstone of the country’s crackdown on refugees, and which Amnesty International has called “an affront to justice”.
The 42-year-old Syrian, named in court as “Ahmed H”, was arrested on the Hungarian-Serbian border in September 2015 and accused of orchestrating clashes between refugees and police.
The case has been central to the rightwing Hungarian government’s two-year campaign to stoke xenophobia and portray refugees as terrorists. It has also become a cause celebre for rights campaigners seeking to highlight the draconian character of Europe’s refugee policies.
By the time of his arrest, H was already a legal EU resident living in Cyprus with his wife and children. He says he only joined the thousands of refugees making their way from Turkey to Germany last year when his elderly parents and other family members fled Syria and asked him to accompany them for their safety.
They reached the Hungarian border just as it closed, which sparked clashes between police and migrants. In the melee H and his parents were arrested. As H had been carrying a loudspeaker as well as his family’s passports, he was accused of being the ringleader – a claim a Hungarian judge upheld on Wednesday.
The judge refused to hear the testimonies of more than 20 defence witnesses, and ignored the fact that the prosecution’s main witness, a police officer, could not be certain of H’s identity.
H admitted that he threw something during the fracas, but said that he had initially tried to calm the situation and mediate between the police and protesters, which was why he used a loudspeaker. “I ask the court not to confuse me for others,” he said on Wednesday, according to records taken by an Amnesty observer. “How can I be a terrorist if I tried to calm things down?”
Gauri van Gulik, Amnesty’s deputy Europe director who was present in court, said: “To sentence Ahmed to 10 years in prison for a terrorist act is absurd. Illegally crossing a border and even throwing rocks would not justify this ruling. This is a man who tried to get his elderly parents and other family members to safety, and we know he tried to negotiate between the crowd and police. On the basis of what we know, this ruling is an affront to justice.”
Van Gulik also highlighted the degrading treatment of H in court, where he was led on a leash and accompanied by two masked police officers.
Hungary has frequently been criticised for its hardline stance on refugees. In addition to its anti-refugee border fence, it has criminalised the act of entering Hungary illegally, a law that contravenes international asylum treaties, to which Hungary is a signatory.
The government has whipped up xenophobic sentiment with the country’s largest-ever advertising campaign to raise interest in a referendum on refugees in October. Less than 50% of the country participated in the poll, which asked participants whether Hungary should admit refugees, rendering the process null and void.
Hungary’s prime minister, Viktor Orbán, has said he sees his opposition to refugees as a means of wresting control of Europe away from liberal-minded leaders such as the German chancellor, Angela Merkel.