30. August 2016 · Kommentare deaktiviert für Wild campierende Migranten: Como hofft auf das «Container-Dorf» · Kategorien: Italien, Schweiz

Quelle: NZZ

Bald soll die norditalienische Grenzstadt Como die ersten Wohncontainer für Migranten erhalten. Das entschärft die Situation am Bahnhof – doch so schnell werden die Flüchtlinge Como nicht verlassen.

von Peter Jankovsky, Como

Wer dieser Tage Como besucht, stösst auf zwei gegensätzliche Welten. Noch immer haben an der Aussenseite des Bahnhofs meist afrikanische Migranten ihre Schlafstätte eingerichtet, und im angrenzenden Park ist ein Zeltdorf entstanden. Hier biwakieren je nachdem 350 bis fast 600 Personen. In der Bahnhofshalle herrscht zeitweise ein Gewühl von Touristen und Migranten, Carabinieri patrouillieren, und gewisse Einheimische gehen demonstrativ mit ihrem Kampfhund Gassi.

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Aber Obacht: Wer versucht, mit dem Handy Aufnahmen vom wilden Campieren zu machen, wird dezidiert von den Flüchtlingen aufgefordert, dies zu unterlassen. Spätestens dann spürt man die Anspannung unter ihnen. Unten in der pittoresken Altstadt und am nicht minder lieblichen See hingegen herrscht touristische Stimmung pur, und von Migranten keine Spur

Es gebe Italiener, welche die Flüchtlinge manipulierten und sie warnten, sich nicht fotografieren zu lassen, erklärt Diakon Roberto Bernasconi. Der Direktor der Caritas Como verbringt viel Zeit am Bahhof und kennt die Situation genau. Er befürchtet, dass sowohl linke wie rechte Gruppierungen die Migranten politisch missbrauchen und Unruhe unter ihnen schüren. Dem müsse man entgegenwirken.

Aus Bernasconis Sicht reagiert Comos Bevölkerung aber meist positiv: Bis zu 600 Privatpersonen engagieren sich mit Kleiderspenden sowie Essens- und Medikamentenlieferungen für die Migranten, sprechen mit ihnen und glätten so mehr oder minder die Wogen möglicher Aufregung.

Mehr als 20’000 Migranten halten sich laut Bernasconi in der Lombardei auf, wovon 1800 auf die Provinz Como entfallen. Auf Stadtgebiet, in welchem rund 80’000 Personen leben, befinden sich 700 Flüchtlinge – die meisten aus Zentralafrika – und warten in verschiedenen Aufnahmezentren das Ergebnis ihres Asylverfahrens ab. Anders die Migranten rund um den Bahnhof, die überwiegend Eritreer und Somalier sind: Die meisten von ihnen beantragen weder Asyl in Italien noch in der Schweiz, sondern wollen via Gotthard weiter nach Deutschland und Nordeuropa. Dort hat offenbar die Mehrzahl von ihnen Verwandte und Freunde. Nur ein Drittel stellt im Tessin einen Asylantrag, und davon taucht etwa die Hälfte unter, um später den Grenzübertritt nach Deutschland zu versuchen.

Grauzonen nutzen

Zwei Drittel der Migranten, die mit dem Zug nach Chiasso gelangen, sind illegale Aufenthalter. Sie werden aufgrund des Dublin-Abkommens und des schweizerischen Ausländergesetzes nach Italien zurückgebracht. Bis zu 30 Prozent der biwakierenden Personen rund um den Bahnhof seien unbegleitete Minderjährige, sagt Bernasconi. Und fast alle von ihnen habe man schon mehrmals in Chiasso aufgegriffen. Bernasconi muss es wissen, denn die Caritas Como übernimmt zusammen mit der italienischen Polizei täglich zwischen 15 bis 50 Minderjährige von der schweizerischen Grenzwacht. Auch von den erwachsenen Flüchtlingen seien die meisten zum wiederholten Male in Como gelandet, so der Caritas-Direktor. Nach seiner Einschätzung erweisen sich rund 80 Prozent der Migranten als Wirtschaftsflüchtlinge. Es sei einfach ihre fixe Idee, rasch nach Norden weiterzureisen.

Und ja, er habe von Migranten gehört, die Asyl in Chiasso beantragen wollten und abgewiesen worden seien. Man nutze wohl gewisse juristische Grauzonen, so wie es noch viel stärker auch in Italien geschehe. Doch in der Schweiz entscheide und handle man rigoroser.

Zeit haben, um über Asylantrag nachzudenken

Die Notsituation im Gebiet des Bahnhofs ist unter Kontrolle. Aber wie lange noch, fragt sich Diakon Bernasconi. Daher begrüsst er die 50 Wohncontainer sehr, welche die Präfektur der Provinz Como im Auftrag Roms neben dem städtischen Friedhof bis Mitte September aufstellen lässt. In ihnen können maximal 400 Migranten unterkommen.

Die ersten Container sollen bereits diese Woche eintreffen. Wenn alle 50 Einheiten aufgestellt seien, dürfe auf Anordnung der Präfektur kein Flüchtling mehr rund um den Bahnhof campieren, sagt Comos Bürgermeister Mario Lucini. Man müsse also die Migranten schrittweise an die Container heranführen und verhindern, dass namentlich linksradikale Aktivisten in ihnen falsche Hoffnungen auf Durchreise schürten und so verhinderten, dass die Migranten bereitwillig vom Bahnhof abzögen.

Die Container werden mindestens bis Ende Jahr in Betrieb sein. So hofft Lucini, dass die «Bahnhof-Migranten» eingehend informiert werden und die Zeit finden, sich in Ruhe zu überlegen, ob sie in Italien oder in der Schweiz Asyl beantragen wollen. Und dass sie sich gründlich vorbereiten, statt widersprüchliche Angaben an der Grenze zu machen – je nachdem, wie oft sie schon in Chiasso gelandet sind.
Die Container sind laut Lucini praktisch der einzige Weg, dass die Zahl der Migranten abnimmt.

Migranten könnten länger ausharren

Comos Sindaco gibt sich allerdings nicht allzu optimistisch. Zum einen dauert in Italien ein Asylverfahren zwei Jahre: Erst nach dem positiven Bescheid können die betreffenden Migranten im Rahmen des neuen EU-Verteilsystems namens «Relocation» von Como aus in andere Länder gelangen. Zudem funktioniert dieses Prozedere in Lucinis Augen bisher nur schlecht. Und just in Como hätten die allermeisten Transit-Migranten am Bahnhof eben nicht die Absicht, in Italien Asyl zu verlangen.

Also ist der Sindaco der Meinung, dass die Verlagerung der Flüchtlinge in das «Container-Dorf» zu einer Reduktion ihrer Zahl führen wird, aber in ungenügendem Masse. Lucini befürchtet, zumindest ein Teil der Wohncontainer könnte bis zu zwei Jahre lang in Betrieb bleiben. Zudem sei eine Neubildung des Camps am Bahnhof nicht ganz auszuschliessen. Auch Diakon Bernasconi glaubt, dass wohl deutlich mehr als hundert Transit-Migranten den ganzen Winter über in Como ausharren und dass auf nächsten Sommer hin wieder dieselbe Notsituation eintritt.

Wenigstens mehr Sicherheit

Sollte daher die Schweiz mehr Migranten die Durchreise erlauben, um Como zu entlasten? Caritas-Direktor Bernasconi befürwortet wegen den strengeren Grenzkontrollen der deutschen Behörden eher die Variante des Asyls in Italien und eine effizientere Verteilung auf andere EU-Länder. Comos Sindaco wiederum stellt sich eine stark vereinfachte Einreise nach Chiasso für Flüchtlinge vor, die Anspruch auf humanitäre Hilfe oder Verwandte in der Schweiz bzw. Deutschland haben.

Und was denken die Leute auf der Strasse? Die ältere Einheimische, die gerade am Rand des Migranten-Zeltlagers steht und die Szenerie beobachtet, hofft sehr auf die Wohncontainer. Alle störe das wilde Campieren am Bahnhof, und besonders abends hätten jene Frauen Angst, die von den Zügen kämen. Die Container würden wenigstens für mehr Sicherheit sorgen, weil sie abseits vom Bahnhof und Stadtzentrum stünden. «Aber vielleicht sind die meisten Migranten ja die besseren Menschen als wir», sagt die Dame nachdenklich, bevor sie weitergeht.

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