28. August 2016 · Kommentare deaktiviert für „Flüchtlingstragödie von Parndorf: Die Zäsur“ · Kategorien: Österreich · Tags: ,

Quelle: Spiegel Online

71 Menschen, zusammengepfercht in einem Lastwagen – ihr Ziel: Deutschland. Alle sterben. Mit der Tragödie kam die Flüchtlingskrise vor einem Jahr endgültig bei den Deutschen an.

Von Florian Gathmann

Sie sind wohl schon tot, bevor der Lastwagen Österreich erreicht. Erstickt. Auf 14,26 Quadratmetern. 71 Männer, Frauen und Kinder. Das jüngste ist zehn Monate alt.

Am Morgen des 26. August 2015 ist der Kühllaster um kurz vor fünf im ungarischen Domaszek losgefahren. Den Flüchtlingen aus dem Irak, aus Syrien, Afghanistan, und Iran sagte man, sie würden nach Deutschland gebracht. Viele Tausend Euro haben sie den Schleusern dafür gezahlt. Die Fahrt endet an einer Parkbucht an der Autobahn kurz vor der Ausfahrt Parndorf (Lesen Sie hier die SPIEGEL-Rekonstruktion der Tragödie).

Die Menschen im Lkw haben es nicht bis zu ihrem Ziel geschafft. Die Flüchtlingskrise aber ist an diesem Tag endgültig in Deutschland angekommen, in den Köpfen der Bürger, in den Medien, in der Politik. „71 Tote, die uns nicht den Gefallen getan haben, weit weg im Meer zu ertrinken“, schreibt der „Stern“. Eine Zäsur. Ein Fanal.

Sicher, viele Deutsche sind schon auf einer griechischen Insel im Urlaub gewesen. Aber man kann sie meiden, dann sind sie weit weg. Österreich aber liegt direkt nebenan, und von Passau bis zum Neusiedler See sind es gerade einmal etwas mehr als 300 Kilometer mit dem Auto.

Ein Stück nördlich des Sees liegt Parndorf, hier, am Rande der A4 öffnet ein österreichischer Autobahnpolizist einen Tag, nachdem der Laster aufgebrochen ist, gegen elf Uhr den Laderaum des 7,5-Tonners. Was er sieht, ist grauenvoll, der Gestank: unbeschreiblich.

Die erste Reuters-Meldung läuft um 12.48 Uhr, kurz darauf berichtet SPIEGEL ONLINE, am Abend ist der Lastwagen voller Toter die Top-Meldung der 20-Uhr-„Tagesschau“, im Anschluss sendet die ARD einen „Brennpunkt“.

Kanzlerin Angela Merkel äußert sich schon am Nachmittag des 27. August. Sie weilt gerade in Wien bei der Westbalkan-Konferenz, nur rund 40 Kilometer entfernt von dem Lkw mit den toten Flüchtlingen. „Wir sind alle erschüttert von der entsetzlichen Nachricht“, sagt Merkel, die am Tag zuvor beim Besuch einer Flüchtlingsunterkunft im sächsischen Heidenau übel beschimpft worden war. „Das mahnt uns, das Thema der Migration schnell und im europäischen Geist, das heißt im Geist der Solidarität anzugehen und auch Lösungen zu finden.“

Das klingt wie ein typischer Merkel-Satz. Das Thema angehen, Lösungen finden. Noch einige Wochen zuvor hat sie dem Flüchtlingsmädchen Reem kühl erklärt, warum es nicht in Deutschland bleiben kann.

Einiges spricht dafür, dass Parndorf die Kanzlerin dann doch aus ihrem Normalmodus wirft. Das Drama lässt Merkel, die sonst so nüchtern-pragmatische Physikerin der Macht, nicht kalt. Vielleicht liegt das auch an dem Foto, das in österreichischen Zeitungen schon am Tag darauf erscheint und im Internet kursiert: der Blick in den halbgeöffneten Laderaum. „Das Schrecklichste an diesem Bild ist nicht das Blut, sind nicht die verrenkten Glieder. Das Schrecklichste ist, dass man keine Menschen mehr sieht, nur noch Köpfe, Beine, Haare, Fleisch“, beschreibt der SPIEGEL die Szene.

Vielleicht hätte man dieses Foto nie zeigen dürfen. Aber seine Wirkung ist immens.

Das Berliner Boulevard-Blatt „B.Z.“ druckt die Aufnahme in seiner Samstagsausgabe auf der Titelseite, darunter in riesigen Lettern: „Schaut hin, ihr besorgten Bürger.“ Am gleichen Tag zeigt die „Bild“-Zeitung „das Foto der Schande“, nicht auf Seite eins, sondern etwas weiter hinten im Blatt.

„Ein freundliches Gesicht“

Nur wenig später stehen die Grenzen plötzlich offen. Drei Tage nach der Tragödie rollen zum ersten Mal Züge mit Flüchtlingen an Bord aus Ungarns Hauptstadt Budapest nach München, vom 4. bis zum 6. September dann ein ganzes Wochenende lang. „Wir schaffen das“, hat Angela Merkel kurz vorher in ihrer berühmt gewordenen Sommerpressekonferenz am 31. August gesagt.

Zwei Wochen danach reagiert sie auf die Kritik an ihrer Willkommenskultur mit dem Satz: „Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mehr mein Land.“

Es sind nicht nur die Toten von Parndorf, die Europa in jenen Tagen aufrütteln. Da ist auch noch das Bild des toten syrischen Flüchtlingsjungen Alan am türkischen Strand nahe Bodrum, aufgenommen am 2. September. Wieder ist der Aufschrei, das Entsetzen groß. Und doch: Die Ägäis ist schon wieder ein Stückchen weiter weg.

Die Toten von Parndorf aber lagen direkt vor Deutschlands Haustür. Auf einem Lastwagen, der früher für den slowakischen Geflügelproduzenten „Hyza“ unterwegs war. Der Lkw trug noch die Original-Aufschriften. Auf dem Heck war ein Huhn zu sehen, darüber eine Sprechblase mit einem Satz in slowakischer Sprache: „Ich schmecke so gut, weil ich so gut gefüttert werde.“

Viele Hintergründe sind noch offen, die Anklage gegen die Schleuser soll im September erhoben werden. Angeblich, so berichteten jüngst „Süddeutsche Zeitung“, NDR und WDR unter Berufung auf Ermittler, sollen sie sogar versucht haben, noch mehr Menschen in den Laster zu pferchen. Die Bande soll zudem für weitere 30 Fahrten verantwortlich sein, einmal seien 81 Flüchtlinge nach Deutschland gebracht worden. Sie überlebten, ihr Laster wurde in Sachsen gefunden – leer.

Das war neun Tage, bevor die 71 Leichen an der A4 entdeckt wurden. 70 Opfer konnten bis heute identifiziert werden. Die Identität des 71. Toten ist bis heute ungeklärt.

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