27. August 2016 · Kommentare deaktiviert für „Vergessen auf der Balkanroute“ · Kategorien: Balkanroute · Tags:

Quelle: DW

Hunderttausende Flüchtlinge reisten im letzten Jahr auf der Balkanroute nordwärts. Wie sieht es dort heute aus, da der Zustrom abgeebbt ist? Mariya Ilcheva auf Spurensuche in Griechenland, Bulgarien, Serbien und Ungarn.

Balkanroute 2016 Reportage (Foto: DW/Ilcheva)

„Wir sind hier nur auf Zeit“, sagt Abdulamir Hussein und lächelt seine Frau an, als wollte er ihr zumindest ein Nicken abringen. Sie starrt aber nur schweigend auf ihre Hände. Beiden sieht man die Erschöpfung an. Der 49-jährige Iraker und seine Familie sind bereits seit zehn Jahren auf der Flucht. Aktuell in Thessaloniki. Sie gehören zu rund 7000 Flüchtlingen in Griechenland, die im Rahmen des Umsiedlungsprogramm der EU auf ihre Aufnahme in einem der nördlichen Staaten Europas warten.

Nach der amerikanischen Invasion herrschten im Irak kriegsähnliche Zustände. 2006 schließlich sind die Husseins ins damals noch friedliche Syrien geflohen. Dort ist Abdulamir zum Christentum konvertiert. „Aus Überzeugung“, betont er und reibt mit den Fingern das Kreuz an seiner Halskette. „In Syrien haben wir gut gelebt. Bis auch dort der Krieg kam“. Dann ging es in die Türkei – vier schreckliche Jahre. Mehrfach wurden sie dort zu Opfern fanatischer Muslime, erzählt er. „Wir mussten wieder fliehen.“

Eine Odysee

Im Januar 2016 gelang es ihm, einen Sohn und die älteste Tochter mit ihrem Baby nach Griechenland zu schicken – mit einer dieser halsbrecherischen Überfahrten in einem kleinen, maroden Boot mit viel zu vielen Insassen, von denen jeder 1000 US-Dollar an die Schleuser zahlte. Sie sollten nach Nordeuropa – wie die schätzungsweise 750.000 Migranten, die allein zwischen September und Dezember 2015 über die Balkanroute gereist sind. Die drei haben es nach Deutschland geschafft. Als Abdulamir und der Rest der Familie einen Monat später Griechenland erreichte, war die Grenze zu Mazedonien schon dicht. „Wir hatten Pech“, sagt er und drückt liebevoll seine Frau an sich. Die versucht vergebens, ihre Tränen zurückzuhalten.

110 Tage blieben die Husseins in Idomeni an der mazedonischen Grenze. „Ein Alptraum“, sagt Abdulamir. Seit der Auflösung des Camps Ende Mai sind sie in Thessaloniki und warten auf die „Umsiedlung“ nach Norden, zu ihren Kindern.

Am schnellsten ginge es auf eigene Faust durch Bulgarien. Das gilt unter Flüchtlingen als neues Transitland. Aber Abdulamir schüttelt traurig den Kopf: „Die Mazedonier warnen uns davor.“ Es sei zu gefährlich für eine Familie, wegen der „Jagd auf Flüchtlinge“. So nennt man inzwischen das gewalttätige Vorgehen der bulgarischen Polizisten und selbsternannter Bürgerwehren. Abgesehen von den „Jägern“ ist es ein steiniger Weg, mit vielen Bergen, Tälern und Wäldern. Nichts für müde Familien.

„Please deport, deport!“

Rund 500 Kilometer trenne die Husseins in Thessaloniki vom ersten Flüchtlingslager auf der bulgarischen Seite: In Pastrogor, einem kleinen Dorf im bulgarisch-griechisch-türkischen Dreiländereck, sind überwiegend junge Männer aus Pakistan und Afghanistan untergebracht. Familien gibt es hier kaum. Auf Nachfrage nickt der Leiter der Einrichtung zögerlich: „Zwei mongolische Familien haben wir hier“, sagt Spassimir Petrov. „Sie sind chinesische Staatsbürger“.

Die meisten der jungen Männer halten sich am liebsten in der kleinen Halle auf, wo sie über WLAN Zugang zum Internet haben. Hier gibt es einige Stühle, doch sie sitzen lieber auf dem Boden. Als sie Petrov sehen, stehen sie auf und sagen „Hello“. Es klingt englisch. Der 23-jährige Pakistaner Ali Raza erzählt, sein Vater habe 3500 Dollar für die Reise nach Bulgarien bezahlt. Um nach Deutschland zu kommen, müsse er weitere 2500 Dollar hinblättern. Auf die Frage, warum er unterwegs sei, antwortet er, wie die meisten hier, „weil alle nach Europa wollen“. Immer wieder blickt Ali auf sein Handy. Er erwarte Nachricht von „seinem Agenten“, erklärt er. Doch die Lage an der bulgarisch-serbischen Grenze sei schwieriger geworden. Deshalb verzögere sich die Weiterreise. Nachdem kürzlich bekannt geworden war, dass bulgarischen Polizisten bei dubiosen Schleusergeschäften mitgemacht haben sollen, wird die Grenze stärker kontrolliert. Die ersten Migranten wollen inzwischen sogar nach Hause zurück. „Please deport, deport!“, flehen drei Afghanen den Leiter des Lagers in Pastrogor an. Sie haben kein Geld mehr für die Weiterfahrt – und keins für die Rückreise.

Schleusen – für viele ein „ganz normaler“ Job

Für Ali Raza kommt das nicht in Frage. Er will weiter ans Ziel. Genau wie der 28-jährige Pakistaner Wasim Ahmad: „Gestern wurde ich zum dritten Mal von den Serben zurückgeschickt, aber ich versuche es weiter“, berichtet er trotzig. Ahmad sprüht vor Energie, obwohl er die Nacht nicht geschlafen hat. „Viele andere haben es geschafft. Ich werde es auch schaffen.“ Lagerchef Spassimir Petrov bestätigt: „Fast keiner möchte hier bleiben“.

Von den rund 10.000 offiziell registrierten Asylsuchenden in Bulgarien ist kaum einer geblieben. Die allermeisten wollen nach Nordeuropa. Die Sehnsucht der Flüchtlinge bietet für viele aus der Umgebung verlockende Verdienstmöglichkeiten. Im benachbarten Städtchen Ljubimez etwa klagt der Besitzer einer Autowerkstatt, er könne seit Monaten keinen Automechaniker finden: „Wer ein Auto hat, kann mit ein paar Fahrten mit Flüchtlingen deutlich mehr verdienen als das, was ich als Monatslohn zahlen kann“, sagt er und wischt sich den Schweiß von der Stirn.

Das neue Ziel: Italien

Wer schließlich mit oder ohne Hilfe eines Schleusers die bulgarisch-serbische Grenze überquert hat, wendet sich für gewöhnlich Richtung Nordwesten. 900 Kilometer weiter liegt die nächste Grenze, zu Ungarn. In der serbisch-ungarischen Grenzregion harren viele Migranten aus. Sie wollen einen Asylantrag in Ungarn stellen. Das EU-Land nimmt aber seit Juli nur noch maximal 30 Flüchtlinge pro Tag auf. Wenn diese Grenze überschritten ist, schickt Budapest alle, die illegal ins Land gekommen sind und innerhalb der Acht-Kilometer-Grenzzone gefasst werden, zurück nach Serbien. Dann landet man in den Transitzonen oder im serbischen Aufnahmezentrum Subotica.

Auch hier gibt es vor allem Pakistaner und Afghanen. „Fast jeder versucht, die ungarische Grenze illegal zu überqueren. Manche schaffen es. Andere nicht“, sagt Lazar Velic, Leiter des Aufnahmezentrums. Zu den Pechvögeln gehört auch Horam Shehzad. Der 30-jährige wurde aber nicht nur zurück nach Serbien gebracht. Er wurde auch noch brutal zusammengeschlagen – von den ungarischen Polizisten. „Hier, auf dem Kopf habe ich noch Wunden“, zeigt er seine Verletzungen. Sein neues Ziel heißt Italien. „Ich habe gehört, dass man dort einfacher Asyl bekommt, und dann kann man überallhin in Europa reisen“, hofft Horam.

Während die Migranten in Subotica halbwegs normal versorgt werden, herrschen zehn Kilometer weiter nordwestlich schreckliche Zustände. Am serbisch-ungarischen Grenzübergang Kelebija warten 200 Menschen auf ihre Chance, einen Asylantrag in Ungarn zu stellen. Weitere 300 harren unweit davon aus – bei Horgos. Beide Transitzonen erinnern an Idomeni. Trotzdem fühlen sich Migranten im Transitland Serbien einigermaßen willkommen.

„Haben sie keine Angst vor Flüchtlingen?“

Im Nachbarland Ungarn hingegen ist die Ablehnung schnell spürbar. „In unserer Stadt gibt es keine Flüchtlinge – und das ist gut so“, sagt eine 60-jährige Ungarin aus Gyor, einer Stadt mit gut 130.000 Einwohnern nahe der österreichischen Grenze. Sie möchte ihren Namen nicht nennen. „Wir wollen die Flüchtlinge nicht. Sie bringen nur Probleme“, sagt sie beim Wäscheaufhängen. Sie betreibt einen Campinglatz und findet, man müsse nur nach Deutschland schauen. „Haben Sie keine Angst dort?“, fragt sie. Die Frau ahnt offenbar nicht, wie viele Flüchtlinge sich in ihrer Stadt tatsächlich aufhalten. Die meisten aber nur für eine Nacht. Eine kurze Pause, bevor sie zum letzten Abschnitt ihrer Reise aufbrechen – nach Österreich und dann weiter nach Deutschland.

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