26. August 2016 · Kommentare deaktiviert für „Tweet mit Eigenleben“ · Kategorien: Deutschland

Quelle: der Freitag

Migration Vor einem Jahr machte eine Twitter-Meldung des Bundesamts für Migration Deutschland zur großen Hoffnung für Hunderttausende Flüchtende

Am 25. August 2015 versendete das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) über Twitter folgenden Text: „#Dublin-Verfahren syrischer Staatsangehöriger werden zum gegenwärtigen Zeitpunkt von uns weitestgehend faktisch nicht weiter verfolgt.“ Mit 175 Retweets und 165 Likes sieht dieses Häppchen Bürokratenprosa nicht nach einem Netz-Hit aus. Und doch gilt es als das erste Social-Media-Posting, das den Lauf der europäischen Geschichte verändert hat. Denn der Tweet wurde weithin als De-facto-Aussetzung des Dubliner Übereinkommens von 1990 gelesen, dem zufolge Flüchtlinge nur in dem EU-Land einen Asylantrag stellen können, dessen Boden sie zuerst betreten.

Zu diesem Zeitpunkt hatten im Jahr 2015 über 300.000 Asylsuchende Europa per Boot erreicht – das waren schon 50 Prozent mehr als im gesamten bisherigen Rekordjahr 2014. Es ist also Unfug zu behaupten, der BAMF-Tweet habe die „Flüchtlingskrise“ ausgelöst. Wohl aber machte er Deutschland zum Hauptziel für geflohene Syrer, die zuvor eher in andere europäische Länder strebten, vor allem nach Schweden, das syrischen Kriegsopfern uneingeschränkt Zuflucht gewährte.

Auch erweckte die Meldung einen Eindruck von Verwirrung und politischem Kontrollverlust, von dem sich die Bundesregierung bis heute nicht ganz erholt hat. Ein Jahr später fragen sich Politiker und Beamte noch immer, wie es zu dem Tweet überhaupt kam.

Vier Tage zuvor, am 21. August 2015, hatte Angelika Wenzel, leitende Regierungsbeamtin beim BAMF, per E-Mail an die 36 Außenstellen der Behörde eine interne Mitteilung versandt, betitelt „Regeln zur Suspendierung des Dubliner Übereinkommens für syrische Staatsbürger“. Darin hieß es, syrische Asylsuchende in Deutschland sollten nicht mehr in die Ankunftsländer zurückgeschickt werden. Anwälte, die mit dem BAMF zusammenarbeiten, betonen allerdings, diese Entscheidung habe, anders als oft behauptet, keineswegs eine EU-weite Aussetzung des Dublin-Verfahrens bedeutet. Denn das Abkommen gibt Mitgliedsstaaten das Recht, Asylanträge aus anderen Mitgliedsstaaten zu übernehmen.

Auf welchen Kanälen Angelika Wenzels Memo an die Presse gelangte, ist weiterhin ungeklärt. Recherchen des Spiegel deuteten auf die Hilfsorganisation Pro Asyl hin, doch nach eigenen Angaben hat Pro Asyl von dem Memo erst erfahren, nachdem Journalisten anfragten, was es zu bedeuten habe. Maximilian Pichl, Rechtsberater bei Pro Asyl, erklärt, er sei einer der vielen Anwälte gewesen, die daraufhin das BAMF mit Anrufen überschwemmten und auf eine öffentliche Erklärung drängten. Der somit erzeugte Druck auf die Behörde habe zu dem, wie die Zeit schrieb, „schicksalhaften Tweet“ geführt.

Mehr durch altmodisches Weitersagen als per Retweet verbreitete sich die Botschaft unter den Flüchtlingen, die auf dem Weg nach Europa waren oder bereits in Auffanglagern saßen. „Jetzt ist es nur ein einziges Land – Deutschland“, sagte ein syrischer Ölingenieur dem Guardian wenige Tage später auf der Balkanroute. „Wo sind die anderen? Es ist nur Deutschland. Nur Merkel.“

Die stille Post unter den flüchtenden Syrern plusterte die Meldung unweigerlich auf. „Merkel hat gesagt, sie schickt große Schiffe aus der Türkei, um Syrer zu retten“, glaubte zum Beispiel eine Syrerin, die am Wiener Hauptbahnhof befragt wurde. Bis Mitte August 2015 hatten sich 150.000 Flüchtlinge in Ungarn registrieren lassen. Nach dem Tweet weigerten sich viele und hielten stattdessen, so heißt es, den Polizisten und Grenzbeamten ihre Telefone mit dem Text der Meldung entgegen. Peter Györkös, der ungarische Botschafter in Deutschland, behauptet, am Tag nach dem Tweet habe die serbische Polizei auf ihrer Seite der Grenze Tausende weggeworfener Pässe gefunden: „Von dem Moment an war plötzlich jeder Flüchtling ein Syrer.“

Als Györkös im Bundesinnenministerium anrief, sagten ihm die Beamten dort, sie wüssten nichts von dem Tweet. Auf einer Pressekonferenz tags darauf erklärte Bundesinnenminister Thomas de Maizière, die Aussetzung des Dublin-Verfahrens sei „kein rechtsverbindlicher Akt“, sondern eine „Richtlinie für die Durchführungspraxis“.

Wenige Wochen später trat Manfred Schmidt, der Leiter des BAMF, aus „persönlichen Gründen“ zurück, wobei viele glauben, er sei zu diesem Schritt gezwungen worden, weil seine Behörde den politischen Kontrollverlust der Bundesregierung offensichtlich gemacht habe.

Ein Jahr danach lassen sich allmählich die Langzeitfolgen des Tweets überblicken. Im April gab die EU-Kommission Pläne für eine grundlegende Überarbeitung des Dublin-Systems bekannt, das von Menschenrechtlern schon lange kritisiert wird, weil es die Hauptlast der Asylverfahren auf die ärmeren Länder an der Peripherie der Union abwälzt und sich die wohlhabenden Staaten im Inneren der „Festung Europa“ damit aus der Verantwortung stehlen.

Doch BAMF-nahe Quellen betonen, der Tweet habe nicht den Zweck gehabt, das ungeliebte Gesetz zu torpedieren, sondern sei eine Notfallmaßnahme gewesen, weil das Bundesamt den Andrang sonst nicht mehr hätte bewältigen können. Gerald Knaus, der die Denkfabrik „Europäischen Stabilitätsinitiative“ leitet und für die Bundesregierung den umstrittenen „Flüchtlings-Deal“ mit der Türkei entworfen hat, versichert, der Tweet habe keine politische Wende verkünden sollen und sei auch nicht von einem hochrangigen Beamten verfasst worden: „Er stellte einfach das Offensichtliche fest – sie hatten eh schon aufgehört, Syrer zurückzuschicken – und man bedachte nicht, welche Wirkung er haben könnte. Er nahm ein Eigenleben an, weil er bestätigte, dass jeder, der nach Deutschland gelangte, bleiben dürfe. Das war keine neue Entscheidung, aber es wurde als Signal aufgefasst.“

Hinter den Kulissen, sagt Knaus, herrschte bei den Regierungsbeamten Uneinigkeit zwischen denen, die meinten, man solle die Flüchtlinge nach Ungarn zurückschicken und die deutsche Grenze schließen. Und denen, die dies als logistisch unmöglich und moralisch verwerflich betrachteten. Den Letzteren schloss sich die Bundeskanzlerin an, als wenige Wochen später Tausende von Syrern zu Fuß von Ungarn aus Richtung Deutschland aufbrachen.

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