25. August 2016 · Kommentare deaktiviert für „Ankommen“ · Kategorien: Balkanroute, Deutschland · Tags:

Quelle: Zeit Online

Die Raslans aus Syrien wollen ein Teil von Deutschland sein. Für die Kinder tarnten sie ihre Flucht über die Balkanroute als Urlaub. Dies ist die Geschichte ihrer Reise.

VON ASHLEY GILBERTSON

1 — Šid, Serbien, Dezember 2015

Der Abend bricht an, im stillgelegten Hotel im serbischen Šid warten knapp tausend Flüchtlinge auf ein Zeichen. Um endlich in die Busse zu steigen, die draußen bereitstehen, um sie zu einem Bahnhof zu bringen. Um endlich nach Zentraleuropa weiterreisen zu können.

sid

Auf dem Parkplatz hat sich eine lange Schlange vor den Behelfstoiletten gebildet. Das Leuchtschild mit dem Namen des Hotels über dem Eingang funktioniert nicht mehr, einige kyrillische Buchstaben sind zerschlagen. Vor dem Haus sammeln sich Männer und rauchen Kette, tigern im gefrorenen Schlamm auf und ab. Ein Auge haben sie ständig auf den Bussen, das andere auf der Lobby: An einer gewaltigen Ladestation stecken dort die Handys Hunderter Flüchtlinge.

Smartphones sind die Landkarten der Fliehenden, ihre Rettungsleinen. Auf der Balkanroute gibt es keine Anlaufstelle für Auskünfte, Informationen zu beschaffen ist eine permanente Herausforderung. Die Behörden sind keine Hilfe. Die Schleuser haben kaum Kontakt zu den Menschen, die sie verschieben. In den meisten Fällen sind die Flüchtlinge Blinde, die von Blinden geführt werden.

„Wo bin ich?“, werde ich unzählige Male gefragt.

Nur selten haben die Flüchtlinge die Möglichkeit, eine gute Internetverbindung zu nutzen. In diesem alten Hotel geht es. Über WhatsApp und Facebook tauschen sie Erfahrungen mit anderen aus, die unterwegs sind. Sie finden heraus, welche Grenzen offen sind und welche geschlossen wurden. Vor allem können sie sich bei Verwandten in der Heimat melden.

An der Ladestation in der Lobby beobachte ich einen Mann, der mir auffällt, weil er sich anders verhält als die Gruppe. Mit seinem Sohn schlängelt er sich durch die Menschenmenge und schaut, wo er sein fast leeres Handy einstecken kann. Seine Bewegungen sind respektvoll, höflich sogar. Das ist überraschend und wohltuend.

Noch vor zwei Monaten, als ich zum letzten Mal hier war, war alles viel schlechter organisiert, manchmal chaotisch. Der Grenzübergang war damals eine nicht gekennzeichnete, unbefestigte Straße zwischen Feldern. Ich erinnere mich, wie Frauen stehenblieben, um ihren Babys auf zertrampelten Maishalmen die Windeln zu wechseln, und sich dann wieder aufmachten, durch Reihen kroatischer Polizisten in voller Kampfmontur unter einer hastig aufgestellten EU-Flagge.

Die neuen Abläufe sind ein Fortschritt im Krisenmanagement der serbischen Behörden. Beileibe nicht in allen beteiligten Transitländern ist ein solcher Fortschritt zu beobachten.

Im Hotel laufen die Heizungen, es ist warm. Ärzte ohne Grenzen hat ein Büro zu einem Raum für Notfallversorgung gemacht. Für Kinder und ihre Eltern gibt es ein Spielzimmer, eingerichtet von Unicef. In der Lobby gibt es Sitzgelegenheiten und Tische, vorn einen Schalter, wo die Flüchtlinge alles Wichtige erfahren. Ein schöner Ort ist das nicht, aber weit besser als die Alternative.

Der Mann, den ich vorher gesehen habe, sitzt jetzt bei seiner Familie, in einer trüben Ecke hinten in der Lobby. Die drei Kinder tollen in der Nähe herum, darauf bedacht, die alten Männer und Frauen nicht zu stören, die unter Tischen und an den Heizkörpern schlafen. Ich gehe auf Mutter und Vater zu.

„Khaled Raslan“, stellt sich der Mann vor.

„Amira Raslan“, sagt die Frau und legt dabei ihre Hand aufs Herz, wie es in arabischen Kulturen zur Begrüßung Sitte ist. „Wir sind aus Homs in Syrien.“

Die Familie ist erstaunlich guten Mutes, wenn man bedenkt, wie sie die vergangene Woche verbracht hat: Ohne Unterbrechung waren sie unterwegs, über Land und Meer von der Türkei bis hierher. Die Kinder kreischen und lachen beim Fangenspielen, und Amira, 24, ist ein Meer der Ruhe. Sie lächelt, während sie ihre Kinder beobachtet, ihr Lächeln ist das wärmste und ehrlichste, das mir je begegnet ist. Ihre Augen könnten Raubtiere bändigen – absolut gelassen. Khaled, 33, sitzt neben Amira. Ihn umgibt eine Aura von Stärke und Anstand, die unmittelbar beruhigend wirkt.

Ihr Äußeres verrät nichts davon, was sie innerlich durchleben: „Es ist normal, dass Eltern ängstlich sind und sich Sorgen machen. Unsere Kinder wissen nicht, wie schwer das Leben sein kann, weil wir es ihnen nicht sagen oder sie merken lassen. Wir schützen sie, damit sie spielen können.“

„Sie hatten Angst vor der Reise“, sagt Amira, „Und das Beängstigendste war die Fahrt übers Meer. Wir haben alle drei Kinder noch vor dem Ablegen zum Einschlafen gebracht und sie in die Mitte des Bootes gelegt. Unsere Körper waren Schutzschilder zwischen ihnen und dem Meer, sodass sie das Wasser nicht sehen konnten. Andere Mütter auf dem Boot haben geweint, aber wir haben unsere Gefühle beherrscht, um unsere Angst nicht auf die Kinder zu übertragen.“

„Ich habe meine ganze Kraft gesammelt, um sie zu beschützen“, sagt Khaled, breitet seine Arme so weit aus wie möglich und führt sie langsam zurück zu seinem Herz. „Wir haben Boote kentern sehen, diese Menschen sind ertrunken. In einem anderen Boot sind vier Kinder gestorben, die zu der Gruppe gehörten, mit der wir übergesetzt sind. Ich würde das nicht noch einmal machen. Es war zutiefst verstörend.“

2012 ist die Familie Raslan aus Homs geflohen, als die Front bis in ihre Nachbarschaft vorgedrungen war. Panzer des Regimes rollten ihre Straße entlang, gefolgt von Infanteriesoldaten, die Häuser durchsuchten. „Sie sind von Haus zu Haus gezogen und haben Leute getötet. Mädchen wurden vor den Augen ihrer Familien auf der Straße vergewaltigt.“
Amira sagt: „Wir sind sofort aufgebrochen, ohne unsere Kleider, ohne alles. Kriechend sind wir entkommen. Wenn wir ein Licht sahen, haben wir uns hingelegt, damit die Soldaten uns nicht fliehen sehen.“

Ihre ganze Konzentration mussten Amira und Khaled aufs Überleben richten. Brüder, Schwestern, Eltern zurücklassen zu müssen, das war furchtbar für sie alle.

„Ich habe das Leben in Homs geliebt „, sagt Jannat, sieben Jahre alt. „Ich habe meine Großmutter geliebt. Sie hat mir oft etwas geschenkt, und ich durfte bei ihr übernachten.“

Kurz nachdem die Familie geflohen war, starb die Großmutter während eines Bombenangriffs an Herzversagen.

„Sie fehlt mir sehr“, sagt Jannat.

Als sie es geschafft hatten, aus Syrien herauszukommen, lebten sie in einem Flüchtlingslager im Libanon. Die Kinder durften die örtlichen Schulen nicht besuchen, die Zustände im Lager waren schrecklich und die Libanesen behandelten die syrischen Flüchtlinge schlecht, sagt Khaled. Also ergriff die Familie selbst die Initiative: Sie bauten eine Schule für syrische Flüchtlinge, von Khaled geleitet, und Amira unterrichtete als ausgebildete Lehrerin Mathematik, Kunst und Religion. Ihre drei Kinder – die Zwillinge Jannat und Amr, beide sieben, und der vierjährige Karam – besuchten die Schule zusammen mit anderen Flüchtlingskindern. Nach zwei Jahren zwang die Regierung Amira und Khaled, sie zu schließen. Das war der Moment, in dem sie entschieden, nach Deutschland zu reisen.

Dort will Khaled Deutsch lernen und einen Job finden. In Homs war er Sporttrainer. „Ich möchte gern weiter im Sportbereich arbeiten. Sehr gern würde ich ehrenamtlich anderen Flüchtlingen helfen.“ Khaled sagt: „Ich kann es nicht ertragen, Menschen in Not zu sehen.“

Amira hofft darauf, eine Arbeit zu finden, mit der sie in der Gemeinschaft von Flüchtlingen etwas bewegen kann. „Ich habe gesehen, was syrische Frauen alles durchmachen mussten, und wenn ich nach Deutschland komme, möchte ich mich für Frauenrechte einsetzen.“ Sie sagt: „Zuallererst muss man die Sprache lernen, denn das ist die Voraussetzung, überhaupt Teil der dortigen Gesellschaft zu werden, und dann möchte ich meine Ziele verfolgen.“

Plötzlich rollt eine Welle der Betriebsamkeit durch das alte Hotel. Von einem Augenblick zum nächsten wird der einigermaßen entspannte Ort des Wartens zum Tollhaus. Menschen strömen nach draußen, ziehen im Gehen ihre Rucksäcke auf. Die Busse fahren ab. So war es überall, wo ich hinkam – es gab keinerlei Anzeichen, dass etwas geschehen würde, dass Busse abfahren, Züge eintreffen, Essen geliefert würde, aber jedes Mal wussten die Flüchtlinge kurz vorher Bescheid. Als gäbe es ein lautloses Signal, das nur sie empfangen können.

Amira ist mit einer anderen Mutter und deren Kindern zum Spielbereich gegangen, also rennt Khaled herein und rüttelt sie alle auf. Sie gehen zu ihrem Bus und steigen ein; als ich ihnen folgen will, eilt Khaled die Stufen schon wieder hinunter.

„Moment, Moment“, sagt er, ruhig, dicht gefolgt von Amira.

Das Paar eilt von Bus zu Bus, steigt ein, durchsucht die Passagierreihen und ruft. Es ist laut und durch das Getöse aus Busmotoren und dem Gebrüll der Fahrer brauche ich einige Minuten, um zu verstehen, was sie rufen:

„Jannat! Jannat!“

In all der Verwirrung ist die Siebenjährige, ins Gespräch mit einer neuen Freundin verwickelt, mit der falschen Familie in einen Bus geschoben worden. Den Raslans gelingt es, einen Konvoi von tausend Menschen so lange aufzuhalten, bis sie ihre Tochter gefunden haben; ein halbes Dutzend Busse durchsuchen sie in der eiskalten Nachtluft – wenn auf einer solchen Reise ein Kind oder Angehöriger verlorengeht, kann es Monate dauern, die Familie wieder zusammenzuführen, das wissen sie.

Selbst unter diesem Druck bewahren sie ihre Besonnenheit. Jannat ist aufgewühlt, den Tränen nah, ihre Eltern nicht. Sie nehmen sie links und rechts fest an der Hand und gehen zurück zu ihrem eigenen Bus. Sie steigen ein, inzwischen ist er rappelvoll. Die Menge teilt sich – Familien haben auf dieser Reise Vorrang –, damit sie sich in einer engen Sitzreihe einrichten können, mit Jannats Zwillingsbruder Amr und ihrem kleinen Bruder Karam.

Die Familie ist wieder beisammen. Amira umarmt ihre Tochter fest, dann die anderen Kinder. Der Bus fährt ab. Sie sind auf dem Weg nach Kroatien.

„Unsere Familie ist so besonders, weil wir strebsam sind und überall das Positive sehen“, sagt Amira. „Meine Tochter Jannat will, egal unter welchen Umständen, immer zur Schule gehen und lernen, um eines Tages Ärztin zu werden. Wir sind ehrlich voller Hoffnung, trotz all der Schwierigkeiten, wir alle empfinden so – besonders die Kinder. Sie sind in furchtbare Bedingungen hineingeboren und darin aufgewachsen, im Krieg, und dennoch…“ Amira macht eine Pause. „Sie träumen.“

2 — Berlin, Dezember 2015

„Als wir zum ersten Mal hier hereinkamen, war es ein Schock“, sagt Khaled. „In unserer Kultur hat Privatsphäre eine große Bedeutung. Hier gibt es überhaupt keine Privatsphäre, und wir können keine Nacht durchschlafen, mit Hunderten anderen Menschen und Familien im selben Raum. So wurden wir einfach nicht aufgezogen. Alle hier sehen das so, aber wir können nichts daran ändern.“

Die Raslans sind vor einigen Tagen in Deutschland angekommen und sofort nach Berlin gereist. Am Lageso, dem Landesamt für Gesundheit und Soziales in Moabit, registrieren sie sich als Asylsuchende. Ihre Schwester und ihr Bruder leben schon hier, sagt Amira. Sie hofft, in ihrer Nähe bleiben zu können und Hilfe von ihnen zu bekommen.

„Wir sehen, wie gut integriert unsere Verwandten hier nach nur eineinhalb Jahren schon sind“, sagt Amira. „Sie haben Deutsch gelernt und sprechen jetzt fließend, sie haben sogar ein Theaterstück vor Angela Merkel aufgeführt! Uns ist klar, dass die ersten ein, zwei Monate hart werden, aber danach wird es besser.“

Allerdings hat die Stadt, wie der Rest Deutschlands, damit zu kämpfen, die Neuankömmlinge unterzubringen – mehr als eine Million in diesem Jahr. Ich erinnere mich, wie ich einige Monate zuvor am Bahnhof Schönefeld auf einen neuen Zug voller Flüchtlinge wartete. Ein Mann sprach mich an, sein Anzug zerknittert, die Krawatte gelockert, tiefe Ringe unter den Augen. Er fragte, woher ich sei.

„Ich bin Fotograf aus New York und im Auftrag von Unicef unterwegs“, sagte ich. „Und Sie?“

Der Mann erklärte, er sei von der Stadt Berlin und dafür verantwortlich, Unterbringungen für all die Neuankömmlinge zu finden. Die ganze Nacht habe er durchgemacht und erst im letzten Moment eine Unterkunft für die tausend Flüchtlinge in diesem nächsten Zug organisiert.

„Also aus Amerika sind Sie. Ich habe gelesen, ihr nehmt 25.000 Flüchtlinge auf. Ist das wahr?“, fragte er.

„Ich fürchte, das stimmt“, musste ich gestehen.

„Tja“, seufzte er. „In Berlin kriege ich so viele in einer Woche.“

Die Raslans trafen auf dem Höhepunkt des Zustroms hier ein und bekamen zu fünft ein Doppelstockbett in der Turnhalle der Jane-Addams-Schule in Weißensee zugeteilt. Dort leben 150 Flüchtlinge, ununterbrochen hallen Gesprächsfetzen von den hohen Wänden. Es gibt eine Toilette und Dusche für Männer und eine für Frauen.

Es ist nicht so schlimm, wie es in Tempelhof war, wo Tausende Flüchtlinge in UN-Zelten untergebracht waren und zum Duschen wöchentlich per Bus zu öffentlichen Schwimmbädern transportiert wurden, aber dennoch alles andere als komfortabel.

„Wir werden von Lager zu Lager verschoben und können uns nirgendwo zu Hause fühlen“, sagt Amira, während sie auf der Kante des Bettes sitzt. „Das Verfahren kann nicht abgekürzt werden, auch wenn schon Verwandte hier sind, also müssen wir den Prozess komplett durchlaufen, und wegen der ständig steigenden Zahl an Flüchtlingen dauert es länger als je zuvor. Ich habe gefragt, ob man das irgendwie beschleunigen kann, damit unsere Kinder in die Schule können, aber es kam noch keine Antwort.“

„Zuerst hat es mich überrascht, wie eine Nummer behandelt zu werden“, sagt Khaled, „aber dann habe ich erkannt, dass diese Verfahren notwendig sind, damit es für so viele Menschen effizient ablaufen kann.“

„Das ist nichts im Vergleich zu den Schwierigkeiten, die wir zurückgelassen haben“, fügt Amira hinzu, „und das, wonach wir streben, ist viel besser und größer. Also macht es uns nichts aus, eine Zeitlang als Nummer behandelt zu werden, denn unsere Ziele sind so wichtig. Wir sind entschlossen – wir alle – zur Schule zu gehen und Deutsch zu lernen.“

Man sieht, dass es ihren drei Kindern im Vergleich zu den anderen Flüchtlingskindern in der Notunterkunft, viele davon schwer traumatisiert, viel besser ergangen ist. Sie lächeln oft, folgen Anweisungen, begegnen arabischen und europäischen Erwachsenen mit ungewöhnlicher Reife.
Eine entscheidende Rolle, erzählt ihre Mutter, um die Reise angenehmer zu gestalten, spielte die Fotografie. „Unsere beiden Jungs haben Angst vor Polizisten und Soldaten, wegen Syrien“, sagt Amira leise, außer Hörweite von Amr und Karam. „Wenn wir auf der Reise welche sahen, sagten wir den Jungs immer, dass sie zu unserem Schutz da sind, und machten Fotos mit ihnen und den Kindern. Durchs Fotografieren haben wir jeden Ort zu etwas Besonderem gemacht. Wenn wir zum Beispiel eine Grenze passierten, sagten wir immer: ‚Super, wir haben es bis nach Serbien geschafft! Foto! Foto!'“, erzählt Amira und zeigt, wie sie die Familie heranwinkt. „Wir wollten, dass es sich nicht anfühlt wie eine Flucht, sondern wie ein Familienurlaub.“

Die Familie hat viel vor. Sie sitzen in dieser Basketballhalle, wie sie es nennen, ohne die geringste Ahnung, wie lange es dauern wird, eine richtige Wohnung oder den Schulbesuch bewilligt zu bekommen, oder ob ihr Asylantrag überhaupt genehmigt wird. Dennoch schmieden sie Pläne. Strahlende Vorbilder wollen sie sein, ihren Kindern und der Welt.

„Ich hoffe“, sagt Amira, „dass in 20 Jahren die Menschen auf der ganzen Welt über unsere Familie sprechen, darüber, welche Herausforderungen wir gemeistert und was wir erreicht haben.“

3 — Berlin, Mai/Juni 2016

„Das Verfahren geht viel langsamer voran, als wir erwartet hatten“, sagt Khaled. Woche um Woche steht er bei verschiedenen Behörden in der Schlange, versucht das Asylsystem zu verstehen, den Antrag seiner Familie durchzusetzen. „Ich habe dort so viel Zeit verbracht, in den verschiedenen Ämtern. An manchen Tagen komme ich um vier Uhr morgens am Lageso an und um acht Uhr abends gehe ich wieder, ohne dass meine Nummer aufgerufen wurde. Wenn es schneller ginge, würden wir alle schon Deutsch sprechen.“

Nach sechs Monaten des Wartens und der Überzeugungsarbeit wurden die Zwillinge Amr und Jannat gerade in die örtliche Grundschule aufgenommen. Dort lernen die Kinder Deutsch, das Mädchen bekommt Nachhilfe von einem deutschen Jugendlichen. Diese Hilfe bei der Integration wird gerade von der Regierung eingeführt.

Khaled hat die vergangenen drei Monate einen Sprachkurs besucht. In dem kleinen Raum sitzen ein Dutzend Männer und Frauen, man hört gebrochenes Deutsch mit viel „Äh“ und „Hm“. Die meisten Schüler stammeln zunächst, wenn sie zu sprechen ansetzen, auch Khaled. Am Ende des Satzes aber klingt seine Stimme laut und zuversichtlich.

„Er ist sehr entschlossen“, sagt sein Lehrer Jan-Philipp Gack. „Khaled übt viel selbstständig, er will das, was für ihn relevant ist, so schnell wie möglich lernen.“

„Mit dem Deutschkurs hatte ich ein bisschen zu kämpfen, aber ich muss den Test bestehen, damit ich an einer deutschen Schule unterrichten kann“, erzählt mir Khaled auf der S-Bahn-Fahrt nach Hause. „Amira macht mir immer Mut und sagt: ‚Du schaffst das, du schaffst das!'“

Bis vor Kurzem hat sich Amira den ganzen Tag um die drei Kinder gekümmert, aber jetzt hat sie nur noch Karam, den Vierjährigen, und hofft auf einen Platz in einer Sprachschule, wenn sie auch für ihn eine Betreuung findet.

Die Raslans wohnen in einem achtstöckigen Büroturm, der in eine Flüchtlingsunterkunft umgewandelt wurde, in einem Industriegebiet im Bezirk Prenzlauer Berg nahe dem Velodrom. Gegenüber dem Eingang, in einer Lagerhalle, trainieren Instandhaltungsmechaniker von Vattenfall, sich an Windrädern abzuseilen, während Kinder und ihre Eltern im Hof spielen. Hinter dem Bürogebäude liegt ein Wohngebiet mit einer Schule, freistehenden Häusern und einem Park, der sich über einen Hügel erstreckt – als wäre ein Teil der deutschen Provinz hier ins Zentrum Berlins versetzt worden.

„Wir sind nicht mehr in einer Notlage“, fährt Khaled fort, „unser Leben ist jetzt etwas normaler. Hier haben wir einen Rückzugsort, es ist komfortabler, und zwei der Kinder gehen zur Schule. Jetzt ist es besser als vorher, und die nächste Stufe wird noch besser.“

Unterkünfte in umgewidmeten Gebäuden gibt es in ganz Berlin, aber es erkennt sie nur, wer weiß, wonach er suchen muss: Schuhe und Kleider, die auf Fensterbrettern trocknen, Männer, die vor dem Haus auf den Stufen sitzen und rauchen. Sie sind überall – in Bürogebäuden, ehemaligen Hotels, stillgelegten Schulen, öffentlichen Sozialwohnungen, Turnhallen, Flughäfen, sogar am Olympiastadion. In einer früheren Schule waren sogar noch die Tafelanschriften von Lehrern aus der DDR-Zeit vorhanden. Mittlerweile ist es in Berlin nahezu unmöglich, zehn Minuten in irgendeine Richtung zu gehen, ohne an einer Art von Flüchtlingsheim vorbeizukommen.

Die Unterkunft am Volkspark Prenzlauer Berg bewohnen außer den Raslans noch 200 Menschen. Von Etage zu Etage wechseln sich Frauen- und Männertoiletten ab, Duschen gibt es im Erdgeschoss. Allein reisende Männer teilen sich Zimmer, Familien bekommen eigene Räume – ein Luxus für die Raslans nach vier Monaten in der Basketballhalle.

„Es war so schwierig dort“, sagt Khaled, „damals konnten wir nicht mit Integrationskursen anfangen, Jannat und Amr konnten nicht zur Schule gehen, wir konnten kein normales Leben führen. So viel Lärm, ständig unter Leuten, man kam nie zur Ruhe. Die Kinder haben viel zu stark abgenommen, weil sie das Essen nicht mochten.“

„Das deutsche Frühstück schmeckt Flüchtlingen“, sagt Amira, „Käse und Milch und Brot, wie in Syrien.“ Mittags aber gibt es meistens Nudeln, erklärt sie, und das Abendessen beschreibt sie als „irgendetwas Gekochtes, das nicht gut riecht und nach gar nichts schmeckt.“

„Wir essen selten hier“, sagt sie. Damit ist die Familie nicht allein.

Die Ernährung ist ein zentrales Problem für die meisten Flüchtlinge in Deutschland und auch anderswo, etwa in Österreich oder Schweden. Jedes Gespräch, das ich mit Asylsuchenden führe, kommt früher oder später auf dieses Thema. Man könnte annehmen, wer der Lebensgefahr entronnen ist, für den wäre die Art des Essens von geringer Bedeutung.

Weit gefehlt: Es ist eine ständige Belastung. Tag für Tag drei Mahlzeiten bekommen Hunderttausende Flüchtlinge von Cateringfirmen ausgeteilt. Sie sind gewillt, sich in die Gesellschaft zu integrieren und zu arbeiten, kulturelle Unterschiede sind dazu da, überwunden zu werden – in Syrien ist etwa das Wochenende am Freitag und Samstag, hier am Samstag und Sonntag. „Das war fremd“, sagt Khaled, „aber wir haben uns daran gewöhnt, wir empfinden den Samstag jetzt einfach als Freitag.“

Aber Essen herunterzubringen, das man nicht mag, mittags und abends, Tag für Tag, Monat um Monat, ist zermürbend.

Schlimmer wird das Ganze dadurch, dass die Familien keine Wahl haben – die fünf Raslans erhalten 1.340 Euro monatliche Beihilfe; davon nimmt die Verwaltungsfirma 900 Euro für Verpflegung.

„In dieser Unterkunft dürfen wir nicht einmal kochen“, sagt Khaled. „Wenn das Wachpersonal etwas riecht, kommen sie das überprüfen.“

Zum Entzücken seiner Kinder steht Khaled jetzt auf und nimmt einen ernsthaften, bärbeißigen Gesichtsausdruck an. Er spielt einen Brandwart, wie er auf jedem Stockwerk der Unterkunft stationiert ist. Er geht im Zimmer umher, bückt sich an den Türen und schnüffelt an Türspalten und Schlüssellöchern nach Essensgeruch. Sein strenger Blick wandelt sich zu einem spitzbübischen Grinsen, als er auf einen Schrank zugeht, dann offenes Lachen, als er in einem Haufen Kleider gräbt und eine elektrische Kochplatte hervorzieht.

Jeden Abend, sagt Amira lächelnd, warten die Familien hier, bis es dunkel wird, dann öffnen sie die Fenster und kochen kleine Portionen arabisches Essen für ihre Kinder. Die Kochplatten werden nach der Verwendung wieder versteckt, unter Kleiderhaufen, in der Decke, damit sie bei den häufigen unangekündigten Kontrollen nicht entdeckt und konfisziert werden.

Gerade jedoch ist für Verwalter in ganz Deutschland die Art der Verpflegung ein zweitrangiges Problem – dringlicher sind ihre Pläne für Ramadan, den islamischen Fastenmonat, in dem Muslime bei Tageslicht fasten und zu ungewöhnlichen Zeiten essen, spät abends und sehr früh morgens.
Der Monat verlangt außerdem Akte der Wohltätigkeit, und Amira denkt, wie immer, an diejenigen Syrer, die noch im Land sind. „Die Menschen in Syrien können das Eid nicht feiern“, sagt sie, das Fest am Ende des Ramadans, „sie haben kein Essen. Und wir können nichts tun, um ihnen zu helfen.“

Die Tausende Kilometer entfernte Heimat ist Amira ganz nah. Eines Abends sehe ich zu, wie sie und ihr Mann die Kinder ins Bett bringen. Als Familie beten sie für die Sicherheit derer, die in Syrien zurückgeblieben sind, besonders für ihre noch lebenden Verwandten.

Das Gebet ist alles, was ihnen bleibt: Erst vergangene Woche hat Amira auf Facebook erfahren, dass ihr Onkel bei einem Luftangriff getötet wurde. Es ist der zweite Onkel, den sie seit Kriegsbeginn verloren hat. Schweigend zeigt sie mir das Foto einer zerschmetterten Leiche inmitten von Gebäudetrümmern. Zur selben Zeit wurde ein Familienmitglied von Khaled ohne erkennbaren Grund vom Regime ins Gefängnis gesteckt. Das Paar mutmaßt, es liege daran, dass die Familie es bis nach Deutschland geschafft hat, der Verwandte werde infolgedessen bestraft.

„Auch wenn wir unsere Familie in Syrien gern anrufen würden“, sagt Amira, „es geht nicht. Das Regime sieht dann Anrufe aus Deutschland, und die Behörden kommen sie ‚überprüfen‘. Es ist sehr schwer auszuhalten, dass wir unseren Leuten nichts zukommen lassen oder ihnen irgendwie helfen können.“

„Wir haben ein Land verlassen, in dem Krieg herrscht“, fährt sie fort, „um hier Frieden und Sicherheit zu finden. Wir sind den deutschen Behörden dankbar, dass sie ihre Türen geöffnet haben; die arabischen Länder haben alle ihre Türen geschlossen, umso größer war diese Leistung. All die Probleme, die wir haben, sind wirklich klein im Vergleich zu dieser großen Anstrengung, die Flüchtlinge aufzunehmen.“

„Wir sind als Familie hierher gekommen, um ein neues Leben zu haben, uns die deutsche Kultur anzueignen“, sagt Amira. Die Kinder schlafen im Nebenraum, und sie weint jetzt. „Wir wollen die Gesellschaft nicht belasten. Wir wollen ein Teil von ihr sein.“

Kommentare geschlossen.