23. August 2016 · Kommentare deaktiviert für „Grenzöffnung für Flüchtlinge : Was geschah wirklich?“ · Kategorien: Balkanroute, Deutschland, Lesetipps, Österreich

Quelle: Zeit Online

Ein Wochenende im September 2015: ZEIT und ZEIT ONLINE haben rekonstruiert, wie Tausende Flüchtlinge ins Land kamen. Und wer die Bedeutung dieser Tage herunterspielt.

Von Georg Blume, Marc Brost, Tina Hildebrandt, Alexej Hock, Sybille Klormann, Angela Köckritz, Matthias Krupa, Mariam Lau, Gero von Randow, Merlind Theile, Michael Thumann und Heinrich Wefing

Am Morgen des ersten dieser drei Tage, die so vieles verändern werden, ahnt zumindest ein Mensch in Berlin, was geschehen wird. In einem Hinterzimmer frühstückt ein Mitglied der Bundesregierung mit einer Gruppe von Journalisten. In den kommenden 48 Stunden, sagt das Regierungsmitglied, werde Deutschland eine Herausforderung erleben, wie es sie noch nicht gegeben habe. „Die Leute werden sich über die grüne Grenze bewegen, die werden nicht mehr warten, die kommen, über die Autobahnen, die Straßen, über die Bahngleise.“

Im Irak kursiere eine Botschaft, sagt das Regierungsmitglied, Deutschland nehme alle auf. „Viele folgern daraus: Das ist auch ein Weg für uns.“

Es ist der 4. September 2015, ein Freitag, und alles, was das Regierungsmitglied an diesem Morgen vorausahnt, wird in den folgenden Stunden eintreffen – und noch viel mehr. Tausende Flüchtlinge werden sich von Ungarn aus, vom Bahnhof in Budapest, wo sie seit Tagen festsitzen, auf den Weg machen, sie werden zu Fuß über die Autobahn gehen, und spät in der Nacht wird sich die Bundeskanzlerin entschließen, diese Menschen in Zügen nach Deutschland zu holen.

Es ist eine extrem folgenreiche Entscheidung, denn es werden noch viel mehr Flüchtlinge kommen als erwartet, bald werden es bis zu 13.000 täglich sein und bis zum Jahresende eine knappe Million.

Es ist eine umstrittene Entscheidung, die das Land spalten wird und noch immer spaltet, der Riss geht durch Familien, Vereine, Betriebe, Redaktionen: Wie viel Zuwanderung halten wir aus? Woher kommen die Menschen, die wir aufnehmen? Sind potenzielle Attentäter darunter? Wie steht es um unsere Sicherheit? Vor allem aber: Hat Angela Merkel die Menschen dazu ermuntert, zu uns zu kommen – oder wären sie ohnehin gekommen?

Es ist eine historische Entscheidung, weil sie die Geschichte teilt, in ein Vorher und ein Nachher. Jene drei Tage Anfang September 2015, die man schon kurze Zeit später als „Merkels Grenzöffnung“ bezeichnen wird, als „zweiten Mauerfall“ gar, markieren eine Zäsur in ihrer Kanzlerschaft.

Momente, die einen ganzen Kontinent verändern, gibt es nicht oft. Dies ist so einer.

Heute, fast ein Jahr später, sind viele Akteure von damals bemüht, die Bedeutung des Wochenendes herunterzureden. Sie versuchen das auch, weil sie sich sonst unangenehmen Fragen stellen müssten: ob es die richtige Entscheidung war. Wer oder was zu dieser Entscheidung geführt hat. Und wie vorbereitet man auf die Flüchtlinge war.

Denn trotz der Ahnung mindestens eines Regierungsmitglieds, was an diesem Wochenende passieren werde, ist die Regierung noch am Freitagmorgen seltsam unsortiert. Die Kanzlerin hat lauter Routinetermine, sie wird eine Firma besichtigen, eine Wahlkampfrede halten und ein Parteijubiläum besuchen. Ihr Kanzleramtsminister, immerhin für die Koordinierung der Regierungsarbeit zuständig, wird sich auf den Weg nach Frankreich machen, nach Evian, um an einer Unternehmertagung teilzunehmen. Der Regierungssprecher wird sich im Laufe des Nachmittags mit privaten Terminen ins Wochenende verabschieden. Und der Innenminister liegt mit hohem Fieber zu Hause im Bett. Niemand hat daran gedacht, für zusätzliche Notunterkünfte zu sorgen, Busse oder Sonderzüge zu organisieren, die Polizei zu verstärken.

Bereits am 19. August hat die Regierung ihre Flüchtlingsprognose auf 800.000 Ankommende erhöht, viermal so viele wie im Vorjahr – aber daraus folgte nichts. Ebenso wenig wie aus Merkels Satz „Wir schaffen das“ auf ihrer Sommerpressekonferenz am 31. August in Berlin.

Heute, fast ein Jahr danach, räumt man in der Regierung ein, dass kein einziger Flüchtling, der an jenem Wochenende und in den Tagen danach nach Deutschland kam, von Sicherheitskräften überprüft werden konnte.

Dies ist die Chronik eines angekündigten Kontrollverlusts. Zwölf Reporter von ZEIT und ZEIT ONLINE haben dafür überall in Europa recherchiert, in Staatskanzleien und Flüchtlingsheimen, sie haben mit Sicherheitsbeamten gesprochen, vertrauliche Dokumente eingesehen und Lageeinschätzungen gelesen. Was sie zusammengetragen haben, ist die bislang detaillierteste Rekonstruktion eines Wochenendes, das Deutschland und Europa grundstürzend verändert hat. Alle Schilderungen basieren auf den Erinnerungen unmittelbar Beteiligter.

Es wird in dieser Chronik um den Nachtschlaf eines Ministerpräsidenten gehen. Um einen syrischen Gefreiten, der den Weg nach Norden findet. Um Sandwiches mit Putenfleisch. Um Anrufe, die nicht ankommen und vielleicht nie ankommen sollten, um Täuschungsmanöver und eine große politische Illusion.

Es wird um das Wort „Ausnahme“ gehen und was es eigentlich bedeutet. Und es wird um Bilder gehen, immer wieder um Bilder: um Bilder, die um jeden Preis vermieden werden sollen, und um Bilder, die so stark sind, dass sie Politik machen.

Der Auslöser: In Budapest stellt Mohammad Zatareih Flüchtlinge in Fünferreihen auf.

Freitag, 4. September 2015, Mittags

7.30 Uhr, Budapest, Ostbahnhof

Mohammad Zatareih ist früh wach geworden. Der 25-jährige Syrer schläft schlecht, seit er in Budapest auf dem Bahnhof übernachtet. Vor einem halben Jahr hat er sich auf den Weg gemacht, über die Türkei nach Europa. Mohammad ist ein kräftiger Mann mit modischem Kinnbart, aber man sieht ihm die Anstrengung an. Seit vier Tagen sitzt er hier fest, und seine Unruhe wächst. Die Ungarn lassen keine Züge mehr nach Westeuropa fahren, die Versorgung wird immer schlechter. Was, wenn er hier strandet? Wenn die Ungarn ihn einsperren, vielleicht sogar zurückschicken, nach Griechenland oder in die Türkei?

Etwa 3.000 Flüchtlinge campieren im Untergeschoss des Bahnhofs, in Zelten, auf Matratzen, zwischen Plastikmüll und Beton. Ruhe findet niemand, bis spät in die Nacht halten sich kleine Gruppen von Flüchtlingen mit Gesängen oder lautem Reden wach.

Mehr als 150.000 Flüchtlinge sind bis Mitte August in Ungarn offiziell registriert worden. Aber vor zwei Wochen hat sich etwas verändert. Am 25. August hat eine deutsche Behörde eine Mitteilung verschickt, 134 Zeichen, über Twitter: Auch unregistrierte Flüchtlinge aus Syrien würden ab sofort in Deutschland anerkannt, hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BamF) getwittert – und seitdem wollen sich die Leute nicht mehr in Ungarn registrieren lassen. Sie halten den Polizisten ihre Smartphones entgegen, sie zeigen den Tweet, wollen weiter nach Deutschland.

Mohammad Zatareih rappelt sich auf, er hat nicht einmal einen Schlafsack, holt einen Becher Wasser und hält Ausschau nach Achmed. Die beiden haben sich am Tag zuvor kennengelernt, im Gewimmel des Bahnhofs. Achmed war Lehrer in Damaskus, ein schmächtiger Mann, der gut reden kann. Ihn quält dieselbe Ungeduld wie Zatareih, und so haben die beiden angefangen herumzuspinnen. Was sie tun könnten? Einfach losgehen, Richtung Norden, Richtung Österreich? Zatareih war früher bei der Armee in Syrien, „da sind wir manchmal 150 Kilometer marschiert“, sagt er, „sogar in der Hitze. Warum machen wir uns nicht auf den Weg, nach Wien? Mit Pausen könnten wir das schaffen, in zwei, drei Tagen.“

Es ist eine Idee, die Geschichte machen wird, aber das können die beiden noch nicht ahnen.

8.30 Uhr, Berlin, Bundeskanzleramt

In Angela Merkels Büro im siebten Stock des Kanzleramts trifft sich die „Morgenlage“, die Runde ihrer engsten Mitarbeiter. Danach will Merkel nach München fliegen, um eine Schule im Landkreis Landshut zu besuchen und später Start-up-Unternehmer in München, nachmittags soll sie im Kommunalwahlkampf in Essen auftreten, abends eine Rede zur 70-Jahr-Feier der NRW-CDU in Köln halten. Im Terminkalender sieht es nach einem normalen Arbeitstag der Kanzlerin aus: Flüge kreuz und quer durch Deutschland, Akten und Telefonate, Händeschütteln, Erinnerungsfotos.

Aber die Stimmung an diesem Morgen ist angespannt, die Seelen sind aufgeraut. Zwei Tage zuvor ist an einem türkischen Strand der leblose Körper eines Dreijährigen gefunden worden, rotes T-Shirt, Gesicht nach unten – ertrunken im Mittelmeer, auf der Flucht nach Europa. Acht Tage zuvor hat man in Österreich, auf einem Seitenstreifen der Autobahn A 4, einen Lastwagen mit 71 Leichen entdeckt: 59 Männer, acht Frauen, vier Kinder, alle erstickt. Und dann sind da die Bilder vom Bahnhof in Budapest, seit Tagen schon kann man sie im deutschen Fernsehen sehen. Die Flüchtlingskrise sei kein europäisches Problem, sondern ein deutsches, hat Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán am Vortag gesagt.

Im Kanzleramt sehen sie das völlig anders, und dieser Konflikt, diese wechselseitigen Schuldzuweisungen, werden das ganze Wochenende bestimmen. Die ungarische Regierung, so schätzen das Merkels Leute ein, habe die Flüchtlinge „betrogen“, als sie ihnen Fahrkarten nach Österreich verkaufen ließ, den Zug dann aber kurz hinter Budapest stoppte, in der kleinen Stadt Bicske. Merkels Sprecher Steffen Seibert, so beschließen sie es in der Morgenlage, soll in der Regierungspressekonferenz später am Tag etwas dazu sagen.

Und weil sie das Gefühl hat, dass sich die Lage weiter zuspitzen könnte, entscheidet Merkel, dass Bernhard Kotsch, ihr stellvertretender Büroleiter, sie den ganzen Tag über begleiten soll. Sie sagt nur: „Der Kotsch muss mit.“

10.30 Uhr, Budapest, Ostbahnhof

Endlich entdeckt Mohammad Zatareih seinen neuen Freund Achmed wieder. Achmed ist umringt von Flüchtlingen, redet auf sie ein. Er wirbt für den Marsch nach Westen. Er sagt: Wenn wir mindestens tausend Mann sind, wird uns niemand stoppen. Zatareih nickt begeistert. Von irgendwo taucht das Megafon auf, das ein ungarischer Helfer am Tag zuvor gekauft hat. Achmed reitet auf den Schultern eines Kumpanen durch die Menge und ruft: Wir marschieren! Wir marschieren! Um 12 Uhr geht es los!

11.30 Uhr, Berlin, Bundespressekonferenz

Mehr als 100.000 Flüchtlinge sind Anfang September auf der Balkanroute zwischen Griechenland und Ungarn unterwegs, doch in Berlin unterschätzt man völlig, welche Bedeutung der Tweet des BamF für diese Flüchtlinge hat. Merkel setzt immer noch darauf, dass die Flüchtlinge in Ungarn registriert werden – obwohl die das schon lange nicht mehr wollen: Jeden Tag skandieren sie im Untergeschoss des Budapester Ostbahnhofs: „Merkel! Merkel! Merkel!“ oder „Germany! Germany! Germany!“

Und trotzdem beharrt nun Steffen Seibert, so wie in der „Morgenlage“ besprochen, in der Regierungspressekonferenz noch einmal darauf, Ungarn habe „die rechtlich verbindliche Pflicht“, die Flüchtlinge „ordnungsgemäß zu registrieren, zu versorgen und die Asylverfahren unter Beachtung der europäischen Standards in Ungarn selbst durchzuführen“. Die Bundesregierung, sagt Seibert, und es klingt für seine Verhältnisse fast drohend, „geht davon aus, dass Ungarn als Teil der westlichen Wertegemeinschaft seinen rechtlichen und seinen humanitären Verpflichtungen ebenso gerecht werden wird wie Deutschland“.

Geltendes Recht, europäische Standards, humanitäre Verpflichtungen – das sind die Beschwörungsformeln deutscher Politik in diesen Tagen. Denn für Deutschland sind die geltenden Regeln überaus praktisch.

Das geltende Recht besagt, dass jeder Asylbewerber in dem EU-Land registriert, versorgt und untergebracht werden muss, in dem er zum ersten Mal europäischen Boden betritt. Deutschland aber liegt in der Mitte Europas, es ist von EU-Staaten umgeben, hier kommt kein Flüchtling an, der nicht vorher in einem anderen EU-Staat war, es sei denn, er fällt vom Himmel. Und wer es doch bis Deutschland schafft, der müsste eigentlich dorthin zurückgeschickt werden, wo er zuerst die EU erreicht hat, in das Erstaufnahmeland. Länder am Rand Europas, Griechenland vor allem, Italien.

Würde dieses Recht noch gelten, säßen überhaupt keine Flüchtlinge in Ungarn fest. Dann müssten sie alle in Griechenland sein, ordentlich registriert, leidlich versorgt, menschenwürdig untergebracht. Und in Wahrheit weiß man das auch in Berlin.

12.30 Uhr, Budapest, Ostbahnhof, Vorplatz

Immer mehr Flüchtlinge steigen aus dem Untergeschoss des Bahnhofs nach oben auf den Vorplatz. Die Sonne blendet, es ist schon heiß, fast 30 Grad, Helfer rennen herum, Polizeibeamte, Reporter. Ohne viel Mühe gelingt es Mohammad Zatareih, die Flüchtlinge in Fünferreihen aufzustellen, wie er es in der Armee gelernt hat. Gegen 13 Uhr stehen fast hundert Fünferketten, und der Menschenzug setzt sich langsam in Bewegung, Richtung Donau. Auch viele andere Flüchtlinge schließen sich nach und nach dem Zug an, mehr als zweitausend Menschen, Familien mit Kindern darunter. Es ist dies der Moment, in dem aus Flüchtlingen Akteure der europäischen Geschichte werden. Menschen, die ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen – und damit die Regierenden in Berlin, Wien und Budapest zu Reagierenden machen.

Ein Ungar, der den Flüchtlingszug begleitet, rät Zatareih, Richtung Autobahn zu marschieren: „Da bleiben wir sichtbar für die Medien.“ Mohammad Zatareih nickt. Aber wo, bitte, geht es zur Autobahn?

12.30 Uhr, Luxemburg, Kirchberg

Vor dem Konferenzzentrum auf dem Luxemburger Kirchberg steigt Frank-Walter Steinmeier aus einer schwarzen Limousine. Zweimal im Jahr kommen die Außenminister der 28 EU-Staaten für zwei Tage zusammen, um möglichst ungezwungen miteinander zu reden. „Gymnich-Treffen“ heißen diese Runden. Steinmeier hat ein Papier dabei, das er mit seinem französischen Amtskollegen ausgearbeitet hat: Europa soll etwas gegen die Schlepper unternehmen, die so viele Flüchtlinge aus Libyen übers Mittelmeer nach Italien bringen. Als wären in diesem Moment nicht Hunderttausende auf der Balkanroute unterwegs.

Während sich in Ungarn die Flüchtlinge auf den Weg nach Österreich und Deutschland machen, halten die Außenminister an ihrer Tagesordnung fest: der Nahe Osten, die Beziehungen zu Russland, das iranische Atomprogramm – die üblichen Themen. Erst den Samstagmorgen haben sie für die Flüchtlingskrise eingeplant.

13 Uhr, Erstregistrierungslager Röszke

Nahe der Ortschaft Röszke weist der Zaun an der ungarisch-serbischen Grenze eine Lücke für Bahngleise auf. Durch sie kommen Tag für Tag zahllose Flüchtlinge. Sie werden in ein umzäuntes Zeltlager gebracht, wo sich schon Tausende befinden, es ist hoffnungslos überfüllt. An diesem Mittag durchbrechen etwa 300 Flüchtlinge die Absperrungen des Lagers und machen sich auf den Weg Richtung Norden.

Gegen 15.45 Uhr, Autobahn M 1, bei Budaörs

Mohammad Zatareihs Anspannung wächst. Der Flüchtlingstreck hat die Elisabethbrücke über die Donau passiert und den Autobahnzubringer zur M 1 Richtung Budaörs erreicht. Anwohner winken aus den Fenstern, bringen Obst und Wasser, verteilen große blaue Ikea-Tüten mit Brot und Decken. Aber nach neun Kilometern Marsch werden die ersten Marschierenden müde, die Familien mit Kindern fallen zurück, der Zug reißt immer mehr auseinander.

Da baut sich eine Hundertschaft der ungarischen Polizei vor den Flüchtlingen auf, will sie offenbar auf eine Landstraße abdrängen. Es ist der vorerst letzte Versuch, den Zug zu stoppen, die Macht des Staates durchzusetzen. Hätte er Erfolg gehabt, wäre wohl nicht nur dieser Tag anders verlaufen – und Angela Merkel eine der schwierigsten Entscheidungen ihrer Amtszeit erspart geblieben.

Zatareih hält den Zug in einigem Abstand vor der Polizei an. Die Sonne brennt herab, die Nerven liegen blank. Erregt reden die Anführer durcheinander, keiner von ihnen hat so etwas je erlebt, niemand weiß, was die Polizei vorhat. In den Ländern, aus denen die Flüchtlinge kommen, ist der Polizei alles zuzutrauen: Schläge. Schüsse. Tote.

Doch Mohammad Zatareih und Achmed sind sich einig: Wir müssen auf der Autobahn bleiben, wir müssen in Bewegung bleiben, sonst war alles umsonst. Nach kurzen, heftigen Wortwechseln bilden die Männer aus den vorderen Reihen eine Kette und rennen los, direkt auf die Polizei zu. Und die Menge folgt. Mehrere Kamerateams filmen den Zusammenprall, es kommt zu Rempeleien, dann weicht die Polizei zur Seite aus. Ihre Stellung wird von der Menge gleichsam überrannt. Der Weg nach Wien scheint frei.

17 Uhr, Nickelsdorf, Polizeiinspektion

Das Land an der österreichisch-ungarischen Grenze ist flach und weit, gleich hinter der Polizeistation Nickelsdorf beginnt ungarisches Staatsgebiet. Als Polizeileutnant Manfred Schreiner den Dienst antritt, erwartet er eine ruhige Schicht. Der 44-Jährige ist an diesem Abend als stellvertretender Leiter der Nachtschicht eingeteilt. Seit man an der Autobahn den Lastwagen mit den erstickten Flüchtlingen fand, sollen Schreiners Beamte verstärkt kontrollieren, Schlepper aufspüren. Aber das ist schon fast Routine. Nichts deutet darauf hin, dass dies der längste und aufregendste Tag im Polizistenleben des Leutnants Schreiner werden wird. Erst nach 24 Stunden Dauereinsatz wird er wieder nach Hause gehen.

17.15 Uhr, Essen, Burgplatz

Ein paar Hundert Leute sind auf den Burgplatz in Essen gekommen, trotz leichten Regens, um die Kanzlerin zu sehen. Sie hält eine vorbereitete Wahlkampfrede, lobt den CDU-Kandidaten, kritisiert die SPD-Politik in NRW. Mehrere Flüchtlinge halten „Danke Deutschland“-Schilder hoch, es gibt ein „Refugees Welcome“-Transparent – und immer wieder Zwischenrufe „Merkel muss weg!“.

Nach dem Auftritt in Essen soll Merkel mit einem Hubschrauber weiterfliegen nach Köln. Nun, irgendwo zwischen Essen und Köln, sieht sie auf ihrem iPad zum ersten Mal die Bilder des Flüchtlingstrecks auf der Autobahn. Es sind Bilder, die unweigerlich historische Erinnerungen auslösen. Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg, an Flucht und Vertreibung aus dem Osten.

17.20 Uhr, Bahnhof von Bicske

Auf dem Triebwagen des Zuges, der seit einem Tag auf dem kleinen Bahnhof von Bicske unweit von Budapest festgehalten wird, prangt die Parole „Europa ohne Grenzen. 50 Jahre Fall des Eisernen Vorhangs.“ 350 Flüchtlinge sitzen darin. Sie hatten gehofft, mit dem Zug nach Norden, an die österreichische Grenze fahren zu können, doch die Behörden haben die Fahrt gestoppt und wollen die Insassen in ein Zeltlager bringen. Daraufhin haben sich die Passagiere im Zug verbarrikadiert, haben nicht einmal Wasser von der Polizei angenommen. Nun springen einige der Flüchtlinge aus dem Zug, wollen versuchen, zu Fuß nach Wien zu laufen.

Kurz darauf wird nahe den Gleisen der leblose Körper eines pakistanischen Flüchtlings gefunden. Mehr als eine Dreiviertelstunde versuchen Rettungskräfte, den Mann wiederzubeleben, dann geben sie auf. Es ist nicht klar, ob er im Gedrängel, durch Erschöpfung oder nach einem Sturz gestorben ist.

18.30 Uhr, Köln, Festhaus Flora

Angela Merkel wirkt entspannt, fast heiter, als sie das Festhaus betritt. Mit Unions-Granden wird sie 70 Jahre CDU in Nordrhein-Westfalen feiern. Sie schüttelt Hände, lächelt für Erinnerungsfotos. In ihrer Rede bringt sie viel Eigenlob für die Partei unter, ein paar Scherze über die Lokalpolitik, ein bisschen Wahlkampf für die Kölner OB-Kandidatin Henriette Reker. Aber Merkel wird auch ernst, redet von der Flüchtlingskrise. Wiederholt ihr „Wir schaffen das“. Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg seien so viele Menschen nach Deutschland gekommen, sagt die Kanzlerin: „In dieser Situation haben wir die Verpflichtung zu helfen.“ Sie sagt aber auch: „Wer aus rein wirtschaftlichen Gründen herkommt, dem muss man sagen, dass er nicht bleiben kann.“ Und sie greift Ungarn scharf an: „Es ist schwierig zu sehen, dass diejenigen, die vor 24 Jahren für uns die Grenze aufgemacht haben, nun sehr hart sind zu denen, die erkennbar vor Not geflohen sind.“

Noch bekommt Merkel für solche Sätze viel Applaus.

18.30 Uhr, Ungarn, Autobahn M 1

Rund 250 Kilometer sind es von Budapest bis Wien, und ganz vorn in der Gruppe der Flüchtlinge läuft jetzt ein Mann, der die EU-Fahne schwenkt. Ein anderer hat sich ein Foto von Merkel an den Pulli geheftet, ein Dritter schiebt einen Mann im Rollstuhl. Das Bild dieser drei wird zur Ikone des Marsches, es verbreitet sich rasend schnell über Twitter und Facebook, und während die Flüchtlinge Kilometer um Kilometer zurücklegen, bekommt ihr Marsch in den sozialen Netzwerken einen Namen: #marchofhope.

Freitag, 4. September 2015, abends

19.30 Uhr, Wien, Bundeskanzleramt

Im österreichischen Außenministerium geht ein offizielles Schreiben des ungarischen Botschafters in Wien ein. Er teilt mit, dass sich knapp tausend illegal nach Ungarn Eingereiste auf dem Weg nach Österreich befinden, und bittet um Einschätzung der Lage: Auf welcher rechtlichen Grundlage soll Ungarn reagieren? Die Diplomaten im Außenamt leiten das Schreiben sofort an das Kanzleramt weiter. Kanzler Faymann und seine Berater verstehen den Brief nicht bloß als unverbindliche diplomatische Note. Sie interpretieren ihn als Anfrage Orbáns, ob die Ungarn den Zug stoppen oder nach Österreich weiterziehen lassen sollen. Und sie sind sich sicher, dass sich die Marschierer nur mit Gewalt aufhalten lassen würden. Das aber, so sind sie rasch einig, muss unbedingt verhindert werden. Faymann beschließt, Angela Merkel anzurufen.

19.45 Uhr, Köln, Festhaus Flora

Während Merkel auf dem Podium zum CDU-Jubiläum spricht, brummt das Handy ihres Mitarbeiters Bernhard Kotsch, der im Publikum sitzt. Merkels Intimus bekommt eine Nachricht aus dem Lagezentrum des Kanzleramts in Berlin: Werner Faymann will Merkel sprechen. Sehr dringend.

20 Uhr, Budapest, Parlamentsgebäude

Der Krisenstab der ungarischen Regierung tritt unter Leitung von János Lázár, dem Chef von Orbáns Staatskanzlei, zu einer Sondersitzung zusammen. Es gibt nur ein Thema: wie weiter mit den Flüchtlingen? Die Politiker und Beamten, darunter der Innenminister, der Chef der nationalen Polizei, der Sonderbeauftragte des Ministerpräsidenten für Katastrophenschutz, sind entsetzt: Teile der Autobahn sind gesperrt, Fußgänger laufen über die Fernstraße, die Situation an den Bahnhöfen in Budapest und Bicske ist unübersichtlich, es hat einen Toten gegeben. Die Flüchtlinge halten sich nicht mehr an Anweisungen, versuchen selbst zu entscheiden, wohin sie gehen, wo sie bleiben. Und zu allem Überfluss zeigen die internationalen Medien fast ausschließlich irreführende Bilder vom Bahnhof in Budapest, dramatisieren die Lage, suggerieren Übergriffe der ungarischen Behörden.

Die Runde ist sich rasch einig: Der Staat darf sich nicht vorführen lassen, die Regierung muss die Kontrolle übernehmen. Jetzt, sofort.

20.15 Uhr, Budapest, Zentrum

Ministerpräsident Orbán macht sich auf den Weg in die ausverkaufte Groupama Aréna im Südosten der Stadt. Dort wird am Abend Ungarn gegen den Erzrivalen Rumänien um die Teilnahme an der EM 2016 spielen. Kurz vor dem Anpfiff meldet sich Staatskanzleichef Lázár bei Orbán. Es gibt jetzt einen Plan. Nur einige Minuten später versucht Orbán, Bundeskanzler Faymann in Wien zu erreichen. Aber vergeblich. Faymann ist für Orbán nicht zu sprechen.

20.15 Uhr, Köln, Festhaus Flora

32 Minuten dauert die Festrede der Kanzlerin in Köln. Zum Schluss sagt sie: „Eine Feier ist gut, von nun an wird wieder gearbeitet, und das kann ja auch Spaß machen.“ Welche Arbeit wenige Minuten später auf sie zukommen wird, ahnt sie da noch nicht.

Während in Budapest der Krisenstab tagt, während Mohammad Zatareih und die anderen Flüchtlinge auf der Autobahn langsam müde werden und die CDUler in Köln das erste Kölsch trinken, fährt Merkels Wagenkolonne vor, vier Wagen. Die Kanzlerin steigt in einen gepanzerten Audi A8, dahinter ein weiterer A8 mit den Sicherheitsleuten. Knapp 20 Minuten dauert die Fahrt zum Flughafen.

Rasch lässt sich Merkel mit Faymann verbinden. Er schildert ihr die Lage, spricht von einer Notsituation, von den Bildern von der Autobahn, warnt vor Gewalt, möglichen Toten. Ungarn verfolge eine Eskalationsstrategie. Merkel ist sofort überzeugt, dass sich die Flüchtlinge nur mit Gewalt aufhalten lassen und dann eine humanitäre Katastrophe droht. Dass Österreich und Deutschland deshalb ihre Grenzen nicht werden verschließen können.

Wenn man einen historischen Moment der Entscheidung markieren will – hier ist er.

Merkel weiß aber auch, dass es heikel wäre, alle hereinzulassen. Sie sagt Faymann daher, sie müsse mit ihren Leuten reden. Faymann soll dann mit Orbán sprechen. Faymann legt auf. Er hat den Eindruck, dass ihm die Kanzlerin helfen werde.

Merkel beginnt zu telefonieren. Sie will wissen, was ihre Berater sagen und ihre Minister, die Koalitionspartner. Gibt es ernsthafte Einwände? Wie ist die Rechtslage?

20.40 Uhr, Budapest, Groupama Aréna

In wenigen Minuten wird der deutsche Schiedsrichter Felix Brych das Spiel anpfeifen. In der VIP-Loge sitzt Viktor Orbán. Er kann sich zurücklehnen. Er hat eben eine Entscheidung getroffen, die ihn wieder in die Vorhand bringt. Eine Entscheidung, die die Lage auf einen Schlag ändern wird. Eine Entscheidung, deren Auswirkungen in ganz Europa zu spüren sein werden.

20.40 Uhr, Berlin, Ungarische Botschaft

Beim Botschafter geht eine Weisung aus Budapest ein. Er soll umgehend die Bundesregierung über die Entscheidung informieren, die Orbán soeben getroffen hat. József Czukor setzt sich an seinen Rechner und schickt eine Mail an Kanzleramtschef Peter Altmaier und Staatssekretärin Emily Haber, die Flüchtlingsbeauftragte im Bundesinnenministerium. Ungarn könne die Registrierung der Flüchtlinge nicht mehr gewährleisten, schreibt Czukor, und werde sie daher mit etwa 100 Bussen an die österreichisch-ungarische Grenze schicken. Zu rechnen sei mit vier- bis sechstausend Flüchtlingen. Czukor bittet um Rückruf. Wenige Minuten später hat er Altmaier am Telefon.

21 Uhr, Budapest, Parlamentsgebäude

Der Krisenstab der ungarischen Regierung erteilt dem Budapester Verkehrsbetrieb BKK und dem staatlichen Busunternehmen Volán die Anweisung, sofort Busse vorzubereiten, vollzutanken und Fahrer einzuteilen. Abfahrt: so schnell wie möglich. Das Innenministerium und die Führung der Nationalpolizei übernähmen die Koordination.

Gegen 21 Uhr, Autobahn M 1, Kilometer 27

Unter den Flüchtlingen auf der Autobahn sinkt nach fast 32 Kilometern Fußmarsch die Stimmung. Frauen und Kinder können nicht mehr weiter, es wird dunkel und kalt. Regen setzt ein. Es gibt Streit, einige schimpfen: Im Bahnhof hatten wir es wenigstens trocken. Ungarische Blogger, die den Marsch begleiten, rufen die Bevölkerung dazu auf, Isomatten, Schlafsäcke und Creme gegen Muskelschmerzen zu spenden. Mohammad Zatareih sucht am Rande der Autobahn einen Platz zum Campen, der sich von der Polizei nicht umzingeln lässt. Das Rote Kreuz versorgt die Menschen, viele Freiwillige helfen. Die Lage ist prekär, aber keineswegs katastrophal.

21.15 Uhr, Budapest, Parlamentsgebäude

János Lázár, der Chef von Viktor Orbáns Staatskanzlei, tritt nach der Sitzung des Krisenstabs vor die Presse. Noch in der Nacht, sagt der Minister, werden Busse zum Ostbahnhof und zur Autobahn M 1 fahren, um die Flüchtlinge nach Hegyeshalom an der österreichischen Grenze zu bringen. Ob die Flüchtlinge dann auch über die Grenze nach Österreich einreisen dürften, müsse die österreichische Regierung entscheiden. Wien habe sich dazu noch nicht geäußert, obwohl Ministerpräsident Orbán mehrfach versucht hat, Österreichs Kanzler Faymann zu erreichen. Sogar eine diplomatische Note habe das ungarische Kabinett nach Wien gesandt, sagt Lázár, aber „bisher haben wir keine wirkliche Antwort bekommen“. Und er fügt hinzu, Kanzler Faymann habe Orbán wissen lassen, man könne doch am Samstagmorgen um 9 Uhr miteinander telefonieren.

So lange könne Ungarn nicht warten. „Die EU und mehrere EU-Mitgliedsstaaten fordern von uns Solidarität, während sie selbst keinerlei Solidarität mit uns zeigen.“

Eine smarte Entscheidung. Einerseits ist es unzweifelhaft eine humanitäre Geste, Orbán gibt den Flüchtlingen, was sie wollen, freie Fahrt nach Westen. Die Frauen, die Kinder, die Kranken und Müden kommen runter von der Straße, raus aus dem Regen, ins Warme. Andererseits verschiebt Orbán den Druck dahin, wohin er ihn haben will, weg von sich, rüber zu den Österreichern, zu den Deutschen. Zu Merkel.

Spätestens in ein paar Stunden, wenn die Busse mit den Flüchtlingen die ungarisch-österreichische Grenze erreichen, müssen sich Orbáns politische Widersacher entscheiden: Beharren sie weiter auf dem europäischen Recht, dann müssten sie die Flüchtlinge stoppen – und stünden selbst als hartherzig da, als Hardliner, als Grenzschließer, wie Orbán. Oder sie nehmen die Flüchtlinge auf, dann wäre Orbán sie los – und der innenpolitische Druck in Österreich und Deutschland wüchse. Orbán kann nur gewinnen. Kurz zuvor hat er auf seinem offiziellen Facebook-Account posten lassen: „Toi, toi, toi Ungarn.“ Natürlich bezog sich das auf das Spiel gegen Rumänien. Aber es lässt sich auch anders lesen.

Kurz nach 21 Uhr, Goslar

Sigmar Gabriel ist bei seiner Familie, als das Handy klingelt: Die Kanzlerin fragt, ob er einverstanden sei, 7.000 bis 8.000 Flüchtlinge vom Budapester Bahnhof nach Deutschland zu holen. Außenminister Steinmeier habe keine Einwände, mit ihm habe sie bereits ausführlich gesprochen. Das Auswärtige Amt prüfe die Rechtslage.

Das Gespräch dauert nur fünf Minuten, es hat mehr den Charakter einer Unterrichtung des Vizekanzlers. Gabriel sagt, dass er zustimme, wenn es eine einmalige Aktion bleibe. Merkel sagt, das wolle sie auch. Sie reden über die Bilder vom Hauptbahnhof, über die Menschen, die zu Fuß über die Autobahn gehen. Dann legt sie auf.

Gleich danach ruft Gabriel bei Steinmeier an, der noch immer in Luxemburg bei der Außenministertagung ist. Steinmeier sagt, Merkel habe ihn lediglich kurz informiert, an ein ausführliches Gespräch erinnert er sich nicht. Er sagt, das Auswärtige Amt prüfe die juristischen Details.

Tatsächlich signalisieren Steinmeiers Juristen im Laufe des Abends, das geltende europäische Recht sehe ein „Selbsteintrittsrecht“ der Vertragsstaaten vor. Das heißt: Wenn ein EU-Staat will, kann er beliebig viele Flüchtlinge ins Land lassen.

21.50 Uhr, Autobahn M 1, Kilometer 27

Unter den Flüchtlingen auf der Autobahn verbreitet sich die Meldung aus Budapest, dass Busse kommen sollen, um die Menschen an die österreichische Grenze zu bringen. Jubel bricht aus, auch Mohammad Zatareih strahlt, andere bleiben skeptisch. Ist das wirklich wahr? Oder wieder nur ein Trick der ungarischen Regierung? Jeder hier hat von dem Zug gehört, der nicht bis Wien fuhr, wie versprochen, sondern in Bicske gestoppt wurde.

Gegen 22 Uhr, Berlin

Angela Merkel, die von sich selbst sagt, sie könne erst entscheiden, wenn sie die Dinge zu Ende gedacht habe, muss rasch handeln. Unter hohem Druck. Ohne die Konsequenzen auch nur annähernd absehen zu können.

Orbáns Ankündigung ist ein Ultimatum. Spätestens in drei, vier Stunden, wenn die Flüchtlinge mit den Bussen an der ungarisch-österreichischen Grenze ankommen, muss klar sein, ob die Menschen passieren dürfen.

Die Kanzlerin würde mit der Grenzöffnung lieber bis zum Morgen warten, mehr Ruhe haben, mehr Zeit zur Vorbereitung. Aber Faymann hat am Telefon gesagt, er könne nicht so lange durchhalten, dazu seien zu viele unterwegs. Er hat Merkel förmlich angefleht, noch in der Nacht zuzustimmen.

Was bleibt ihr anderes übrig? Man kann die Marschierer nur mit Gewalt aufhalten, davon sind Merkel und ihre Leute überzeugt, mit Wasserwerfern, Schlagstöcken, Reizgas. Es käme zu Tumulten und zu schrecklichen Bildern. Merkel fürchtet solche Bilder. Deren politische Wucht. Sie ist überzeugt, Deutschland halte solche Bilder nicht aus. Die Aufnahmen von den erbärmlichen Zuständen in dem Flüchtlingscamp in Calais, hat Merkel einmal gesagt, könne Deutschland keine drei Tage ertragen. Wie viel verheerender wären dann Bilder, auf denen Flüchtlinge niedergedroschen werden, die nach Österreich oder Deutschland wollen? Bilder von Blut, Verletzten, womöglich von Toten?

Im Kreis um Merkel herrscht das Gefühl, es gehe tatsächlich um Leben und Tod.

Wer da kommt, ob unter den Neuankömmlingen auch Assad-Schergen sein könnten, IS-Terroristen – all das spielt in den Gesprächen keine Rolle.

22.15 Uhr, Luxemburg, Cercle Cité

Die 28 EU-Außenminister speisen zum Abendessen Jakobsmuscheln, Lachs und Saibling, dazu gibt es Grauburgunder von der Mosel. Die Menüfolge ist das Einzige, was vom geplanten Ablauf ihres Treffens noch übrig geblieben ist. Längst ist der Marsch der Flüchtlinge auch hier das bestimmende Thema, immer wieder hat Frank-Walter Steinmeier in den vergangenen Stunden den Saal verlassen, um zu telefonieren. Nun wird das Dessert aufgetragen, aber Steinmeier, sein österreichischer Kollege Sebastian Kurz und der ungarische Außenminister Péter Szijjártó ziehen sich in einen Nebenraum zurück, sie müssen noch arbeiten. Gemeinsam sollen sie den Text formulieren, mit dem die Aufnahme der Flüchtlinge aus Ungarn offiziell bekannt gegeben werden soll.

Nach 22 Uhr, Berlin

Dann, spät am Abend, die Kanzlerin ist seit mehr als sechzehn Stunden auf den Beinen, passiert etwas, das sich heute nicht mehr genau rekonstruieren lässt, zu widersprüchlich sind die Angaben.

Unstreitig ist, dass Merkel Horst Seehofer eine SMS schickt, um ihn über ihre Entscheidung zu informieren. Sicher ist auch, dass Seehofer darauf nicht reagiert. Der CSU-Chef ist in seinem Ferienhaus in Schamhaupten im Altmühltal, 35 Kilometer nordöstlich von Ingolstadt. Später wird er erklären, sein Handy abends abgeschaltet zu haben, wie immer im Urlaub.

Daraufhin bittet Merkel Altmaier, der bereits in Evian ist, Seehofer zu unterrichten, über dessen Amtschefin, Karolina Gernbauer, die Leiterin der Bayerischen Staatskanzlei. Auch die 52-Jährige versucht es bei Seehofer, doch wieder reagiert er nicht.

So kommt es, dass Tausenden Flüchtlingen der Weg nach Bayern geöffnet wird, ohne dass die Kanzlerin mit dem bayerischen Ministerpräsidenten ein Wort gesprochen hätte.

Die Kanzlerin habe alles versucht, Seehofer zu erreichen, werden ihre Leute später sagen. Und sie werden sagen, dass es an diesem Abend noch Wichtigeres gegeben habe, als mit Seehofer zu sprechen. Es sei nicht darum gegangen, ihn in die Entscheidung einzubeziehen, er sollte nur unterrichtet werden, so wie Gabriel auch. Und womöglich habe Seehofer gewusst, dass er nichts hätte ändern können, vielleicht habe er es deshalb vorgezogen, nicht zu antworten.

Seehofer sagt, wenn man ihn wirklich hätte erreichen wollen, dann hätte man ihm die Polizei vorbeigeschickt, und wenn Karolina Gernbauer gewusst hätte, wie dringlich die Sache ist, hätte sie keine Sekunde gezögert, einen Streifenwagen in Marsch zu setzen. Auch andere Politiker sind in schwierigen Lagen schon so erreicht worden, Thomas de Maizière in einem Wald bei Dresden, als er kurzfristig den erkrankten Wolfgang Schäuble bei einer Euro-Rettungssitzung in Brüssel vertreten sollte.

Wer wen wann informiert hat – oder auch nicht –, das alles wäre nicht weiter wichtig, wenn Merkel und Seehofer in dieser Sache vertrauensvoll zusammenarbeiten würden. Dann ließe sich eine solche Kommunikationspanne mit zwei Sätzen aus der Welt schaffen. Aber das tun die beiden nicht, schon lange nicht mehr, ihr Konflikt in der Flüchtlingspolitik hat sich in den vergangenen Wochen immer weiter zugespitzt. Deshalb wird dieses Nicht-Gespräch politisch bedeutsam werden.

Nach 23 Uhr, Wien

Faymann erreicht Orbán. Er teilt ihm mit, dass die Flüchtlinge nach Österreich einreisen dürfen.

Samstag, 5. September 2015

00.01 Uhr, Budapest, Ostbahnhof

Langsam fährt ein Bus auf den Vorplatz des Ostbahnhofs. Auf seiner Anzeigetafel steht kein Zielort, nur „Sonderfahrt“.

Kurz nach Mitternacht, Nickelsdorf

Die Einsatzleitung in Wien meldet sich bei Leutnant Schreiner. Eine größere Zahl von Flüchtlingen nähere sich dem österreichischen Bundesgebiet, Richtung Nickelsdorf. Schreiner und seine Leute sollen sich auf 60 Busse einstellen. Die Flüchtlinge würden nach dem Grenzübertritt von österreichischen Bussen abgeholt. Nähere Anweisungen gibt es nicht, auch keine Verstärkung.

Kurz nach Mitternacht, Berlin

Die gemeinsame Erklärung der drei Außenminister ist fast fertig. Merkel und Faymann haben schon entschieden, dass Faymann die Nachricht zuerst bekannt geben soll. Er ist näher dran. Die Nachricht soll auch per Facebook verbreitet werden, damit sie die Menschen auf der Autobahn erreicht. Auch das ist besprochen worden. Nun ringt nur noch Merkels stellvertretender Regierungssprecher Georg Streiter mit dem ungarischen Botschafter um letzte Feinheiten der Pressemeldung. Der Ungar dringt darauf, statt von „humanitärer Notlage“ nur von „Notlage“ zu sprechen. Es soll nicht der Eindruck entstehen, Ungarn sei mit der Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge überfordert. Das Wort „humanitär“ wird gestrichen.

00.17 Uhr, Wien

Die österreichische Nachrichtenagentur APA meldet: „Österreich und Deutschland erlauben aus Ungarn kommenden Flüchtlingen die Weiterreise in ihre Länder. Das erklärte Bundeskanzler Werner Faymann am Freitagabend nach einem Gespräch mit dem ungarischen Premierminister Viktor Orbán. Die Entscheidung sei ›aufgrund der heutigen Notlage an der ungarischen Grenze‹ gefallen, hieß es seitens des Kanzleramtes.“ Liest man die Erklärung ganz, dann wird eines offenkundig: Merkel und Faymann beharren öffentlich darauf, dass Ungarn schon bald wieder alle Flüchtlinge registrieren, versorgen und vom Rest Europas fern halten werde.

Aber das erweist sich als großer Irrtum.

00.30 Uhr, Autobahn M 1 bei Budapest

Die von Mohammad Zatareih angeführten Flüchtlinge kampieren unweit der Autobahn, nur wenige können schlafen, es ist mittlerweile sehr kalt. Plötzlich rollen vier Busse heran, ebenfalls mit den Schildern „Sonderfahrt“. Die Flüchtlinge springen auf, erregt, durcheinander. Viele sind skeptisch. Ist das eine Falle? Zatareih bittet mehrere Journalisten, ihn zu den Busfahrern zu begleiten. Ja, sagen die, es gehe an die Grenze, das sei ihre Anweisung. Nach kurzem Hin und Her beschließen die Flüchtlinge, einen Bus vorzuschicken, in dem auch Journalisten mitfahren. Sobald das Vorauskommando die Grenze erreicht, soll es ein Signal an die anderen geben. Da taucht Achmed auf, ihm ist das alles suspekt, es gibt Streit zwischen ihm und Zatareih. Es ist der kritischste Augenblick des Marsches.

Für einen kurzen Moment hängt alles von diesen beiden ab: das Schicksal des Marsches. Orbáns Schachzug. Vielleicht sogar Merkels Flüchtlingspolitik. Hätte sich Achmed durchgesetzt, wären die Flüchtlinge nicht in die Busse gestiegen, wer weiß, wie die Nacht dann verlaufen wäre?

Aber Mohammad Zatareih gewinnt die Oberhand. Ein erster Bus wird vorgeschickt.

00.39 Uhr, Budapest, Ostbahnhof

Weitere Busse fahren am Ostbahnhof in Budapest vor, Jubel brandet auf. Lächelnd besteigen die Menschen, die seit Tagen ausgeharrt haben, die Busse Richtung Westen. Der Chef der Budapester Malteser ruft den Flüchtlingen zu: „Die Regierung garantiert den Transport nach Hegyeshalom, es gibt keine Tricks, ihr werdet nicht ins Lager gefahren.“ Wie viele Flüchtlinge genau aufbrechen, ist unklar. Es gibt keine Zählung, keine Listen.

1.00 Uhr, Wien, Grillgasse 48, ÖBB-Zentrale

Die Konzernzentrale der Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) ist das höchste Gebäude am Wiener Hauptbahnhof, 24 Stockwerke, ein Büroturm mit geschwungener Glasfassade.

Von seinem Büro aus sieht Christian Kern, der Vorstandschef der ÖBB, die Lichter der Stadt unter sich. Knapp vier Kilometer Luftlinie sind es von hier bis zum Westbahnhof. Kern weiß noch nicht, dass ihn die Ereignisse dieser Nacht in ein anderes Amt spülen werden, dass er acht Monate später österreichischer Bundeskanzler sein wird. Alles, was er in diesem Moment weiß, ist: Er muss seinen Leute helfen, die Flüchtlinge, die an die österreichische Grenze strömen, in Züge zu bekommen.

Es ist eine Entscheidung von Minuten, es gibt keinen Generalstabsplan. Die ÖBB will Busse an die Grenze nach Nickelsdorf schicken, um die Flüchtlinge an den Wiener Westbahnhof zu bekommen. Von dort aus soll die Reise für einen Teil der Flüchtlinge in Zügen weitergehen – nach Salzburg und dann nach München, nach Deutschland.

Kern telefoniert mit Rüdiger Grube, dem Chef der Deutschen Bahn.

2.56 Uhr, Autobahn M 1

Endlich ruft ein Flüchtling aus dem vorgeschickten Bus bei den Wartenden an der Autobahn an. Das Gespräch wird über den Lautsprecher eines Polizeiwagens für die Umstehenden übertragen:

„Wo seid ihr?“

„Kurz vor der österreichischen Grenze!“

Jubel. Tränen fließen. Die Leute drängen in die Busse. Mohammad Zatareih sucht das umliegende Gebüsch ab, damit niemand den Abmarsch verschläft.

Ein ungarischer Helfer steigt in jeden der Busse und ruft den Menschen zu: „Ladies and Gentlemen, sorry für die Unannehmlichkeiten in Ungarn, jetzt wünschen wir eine gute Reise nach Österreich. Bis bald in Deutschland.“ Wieder Jubel. Die Busse fahren los.

Kurz vor 4 Uhr, Grenzübergang Nickelsdorf

Die ersten Flüchtlingsbusse erreichen die österreichische Grenze. Die Menschen müssen auf ungarischem Gebiet aussteigen und dann zu Fuß die Grenze passieren. Es regnet. Leutnant Manfred Schreiner denkt: „Wie eine Szene in einem schlechten Film.“ Er spürt Mitleid, denkt an seine eigenen Kinder. Die Menschen sind erschöpft, apathisch. Viele tragen nur Flipflops. Sie frieren, haben Hunger. Einige steigen aus dem Bus, zeigen den Mittelfinger, rufen: „Fuck Hungary.“

Gegen 4 Uhr, Wien

Faymann telefoniert noch einmal mit Merkel. Es sind mehr Flüchtlinge gekommen als erwartet. Er hat große Sorge, mit dem Problem alleingelassen zu werden, er fürchtet, Deutschland könne doch noch seine Grenzen schließen. Merkel versichert Faymann aber, sie bleibe dabei, Flüchtlinge zu übernehmen. Anschließend versucht Faymann, auch Orbán anzurufen, der ungarische Ministerpräsident aber hat sein Handy abgeschaltet.

Gegen 4 Uhr, München, DB-Betriebszentrale

In der Betriebszentrale der Deutschen Bahn in München sitzen die Mitarbeiter vor großen Monitoren, das Licht ist gedimmt, damit man die bunten Linien und Zahlen auf den Bildschirmen besser sehen kann. Jede Linie stellt einen Kilometer Bahnstrecke dar, jede Zahl steht für einen Zug. Von hier aus wird das Streckennetz der Bahn im Süden des Landes überwacht, insgesamt 5.900 Kilometer, rund 11.000 Züge am Tag. Jetzt aber geht es um Züge, die in keinem Fahrplan stehen, um Sonderzüge für die Flüchtlinge. Lokführer werden aus dem Schlaf geklingelt, Zugbegleiter herbeitelefoniert.

5 Uhr, Grenzübergang Nickelsdorf

Im Morgengrauen kommen immer mehr Flüchtlinge am Grenzübergang an. Nur mit Mühe gelingt es Schreiners Beamten, sie von der Autobahn fernzuhalten, manche wollen gleich zu Fuß weitermarschieren Richtung Wien. Immer wieder drängeln sich junge Männer vor, schubsen Kinder und Alte beiseite. Wie auf einem Schiff, das untergeht, denkt Schreiner, manche kämpfen nur für sich. Für Passkontrollen, für irgendwelche Registrierungen hat niemand Zeit. Die Polizisten winken die Ankommenden einfach durch, versuchen nur Unfälle und Schlägereien zu verhindern.

Bei Tagesanbruch kommt endlich Verstärkung aus dem Burgenland und aus Wien. Der Parkplatz an der Grenze füllt sich mit Helfern, eine Karawane von österreichischen Bussen steht bereit, die Flüchtlinge fortzubringen. In Nickelsdorf will niemand bleiben. Viele wissen gar nicht, was Österreich ist, viele rufen nur: „Germany!“

Und der Strom der Flüchtlinge reißt nicht ab. Regelmäßig geht Schreiner hinauf in den ersten Stock, in den Besprechungsraum der Polizeiinspektion, von dem aus man einen weiten Blick über die Grenze hat. Was er sieht, ist wie ein Standbild: Wann immer er hinausschaut, ist die Lkw-Spur voller Menschen. Irgendwann kommt ihm der Gedanke: Das ist jetzt ein historischer Moment.

7 Uhr, München, Jugendamt

Wie an jedem Morgen in diesen Tagen tritt der Krisenstab der Stadt München im Jugendamt zusammen, nur ein paar Schritte vom Hauptbahnhof entfernt. Den Vorsitz hat Christoph Hillenbrand, der Regierungspräsident von Oberbayern. Zwei Dutzend Leute sitzen im Raum, Vertreter der Stadt, der Polizei, freiwillige Helfer. Auch SPD-Oberbürgermeister Dieter Reiter ist dabei. Dass die Flüchtlinge kommen, ist bislang nur ein Gerücht, eine offizielle Information aus Berlin gibt es dazu nicht. „Ich hab gehört, dass die Kanzlerin entschieden hat, die Grenzen zu öffnen“, sagt ein Ministerialbeamter. Das ist alles. Was das heißt, mit wie vielen zusätzlichen Flüchtlingen München heute rechnen muss, ist völlig unklar. Sicher ist nur, dass auf alle Beteiligten viel Arbeit zukommt. „Ich schlafe jeden Tag nur drei Stunden,“ sagt Christoph Hillenbrand. „Und das erwarte ich von Ihnen auch.“

Gegen 8 Uhr, Schamhaupten bei Ingolstadt

Horst Seehofer ruft die Bundeskanzlerin an. Er habe, sagt er, eben erst festgestellt, dass Merkel abends versucht habe, ihn zu erreichen. Die Kanzlerin erklärt ihm, sie habe in Absprache mit Faymann entschieden, den Flüchtlingen aus Ungarn die Einreise nach Deutschland zu gestatten, sie sagt, was sie von nun an immer wieder sagen wird: Es sei dies eine humanitäre Ausnahmeentscheidung gewesen. Sie habe befürchtet, die ungarische Polizei, womöglich sogar das ungarische Militär könne auf die Flüchtlinge losgehen.

Seehofer antwortet: „Angela, das wird problematisch, wir werden den Pfropfen nicht mehr zurück in die Flasche bekommen.“ Die beiden reden sachlich miteinander, sie streiten nicht. Merkel sagt, sie sei betrübt über Seehofers Haltung, mehr nicht. Die Kanzlerin teilt ihre Entscheidung mit, sie diskutiert sie nicht mehr.

Die Entzweiung von CDU und CSU, der Zwist zwischen Merkel und Seehofer, wird in diesem Moment endgültig. Es ist der erste Kollateralschaden der Flüchtlingsentscheidung. Weitere werden folgen.

Kurz nach 8 Uhr, Luxemburg

Frank-Walter Steinmeier lässt sich mit seinen Beratern im Auswärtigen Amt zu einer Telefonschalte verbinden. Es gibt nur ein Thema: die Entscheidung der vergangenen Nacht, die Steinmeier mitgetragen hat. Seine Beamten sind skeptisch. Sie kennen die internen Berichte der deutschen Botschaften im Nahen Osten und in Zentralasien und ahnen, welch enorme Hoffnungen die Entscheidung bei den Menschen dort auslösen wird: Noch mehr werden sich auf den Weg machen.

8.45 Uhr, München, DB-Betriebszentrale

Noch immer ist nicht klar, wie viele genau in München ankommen werden. Aber ganz gleich wie viele: Irgendwie müssen sie weitertransportiert werden. „Wir warten noch auf weitere Informationen der ÖBB“, mailt der Krisenstab der Deutschen Bahn an den Vorstand. „Mehrere Tausend Flüchtlinge an einem Tag wird kritisch. Zu beachten ist noch, dass am Standort München eine Weiterreise zu vielen Aufnahmelagern nach 16 Uhr nicht mehr durchgängig möglich ist. Hier werden wir vermutlich über Nacht viele Flüchtlinge im Münchener Bahnhof haben, die erst morgen früh weiterreisen können.“

9 Uhr, Evian

Vom Genfer See aus lässt Peter Altmaier über das Lagezentrum im Kanzleramt eine Telefonkonferenz mit den Chefs der Staatskanzleien der 16 Bundesländer organisieren. Er teilt ihnen mit, was die Kanzlerin in der Nacht entschieden hat. Und fordert sie auf, bei der Unterbringung der Flüchtlinge zu helfen. Manche Teilnehmer fühlen sich überrumpelt, reagieren genervt. Einer fragt: Mit wie vielen Flüchtlingen ist zu rechnen? Niemand weiß das. Merkel hatte in der Nacht von 7.000 Menschen gesprochen. Einer stellt die Frage: Was, wenn es 15.000 sind? Keiner hat eine Antwort. Nichts ist vorbereitet, es gibt keine Erfahrungswerte. Niemand hat so etwas schon erlebt.

9.33 Uhr, München, DB-Betriebszentrale

„Kurze Info, das geht schneller als erwartet“, mailt der Krisenstab an den Vorstand: „Wir übernehmen um 11 Uhr ab Salzburg von der ÖBB einen Sonderzug mit Flüchtlingen, der ohne Halt bis München geführt wird und dort im zunächst abgetrennten Bahnhofsteil ankommt. Dort erfolgt die Ausgabe von Reisegutscheinen und Weiterfahrt mit Regelzügen.“

10 Uhr, Paris, Élysée-Palast

Im Büro von Philippe Léglise-Costa, dem Europa-Berater von Präsident François Hollande, klingelt das Telefon. Am Apparat ist Uwe Corsepius, der Europa-Berater von Angela Merkel. Corsepius schildert dem Franzosen die Ereignisse der vergangenen Nacht – und übermittelt eine Bitte der Kanzlerin an Hollande: ob Frankreich rund 1.000 Flüchtlinge aufnehmen könne, die jetzt aus Ungarn erwartet werden?

10.30 Uhr, München, DB-Betriebszentrale

Man braucht noch mehr Züge, noch mehr Personal. Die normalen Züge zwischen Österreich und Deutschland sind überfüllt, es müssen weitere Sonderzüge her. Und es muss Essen für die Flüchtlinge her, viel Essen. Seit dem frühen Morgen schaffen die Mitarbeiter alles heran, was die Bahn in ihren Lagern hat. Am Anfang hat man den Flüchtlingen noch die üblichen Vollkornschnitten mit Schinken angeboten, jetzt werden nur noch Kartons mit Putenbrustsandwiches in die Züge gepackt. Das Wichtigste aber ist: Alle Züge fahren.

„Wir rechnen mit 3.000 bis 5.000 Flüchtlingen heute“, mailt der Krisenstab an den DB-Vorstand. „Gegebenenfalls fahren wir – wenn es sinnvoll ist – in Abstimmung mit der Bundespolizei einzelne Sonderzüge am Abend.“

11.16 Uhr, Grenzübergang Hegyeshalom

Regierungssprecher Zoltan Kovacs verkündet am Grenzübergang Hegyeshalom: „Ungarn wird keine weiteren Bustransporte von Flüchtlingen an die österreichische Grenze organisieren.“ Nur: Es kommt überhaupt nicht mehr darauf an, ob Ungarn Busse organisiert oder nicht. Die Flüchtlinge haben begonnen, sich selbst zu organisieren.

11.21 Uhr, Wien

Die österreichische Nachrichtenagentur APA zitiert den FPÖ-Abgeordneten Christian Hafenecker mit den Worten: „In unserem Land befinden sich Tausende Menschen, von denen weder bekannt ist, wer sie sind, woher sie kommen noch was ihr Fluchtgrund ist. Dabei droht die Terrormiliz ›Islamischer Staat‹ immer wieder, Kämpfer in der Masse der Flüchtlinge nach Europa zu schleusen.“

11.40 Uhr, Wien, Westbahnhof

Per Mail meldet sich der österreichische Bahn-Krisenstab bei den deutschen Kollegen: „Derzeit werden nicht mehr zu bewältigende Reisendenströme zu den Wiener Bahnhöfen Wien Hbf und Wien Westbf gemeldet. Die Lage wird verschärft durch Busse, welche direkt den Wiener Westbf mit hohen Reisendenzahlen anfahren. Am Wiener Hbf kommen Private mit Flüchtlingen an.“

Tatsächlich landen am Westbahnhof nicht nur jene Flüchtlinge, die von der ÖBB direkt von der Grenze geholt wurden. Hunderte Syrer, Afghanen, Iraker oder Somalis kommen in den Autos privater Helfer an, von überallher strömen Menschen in den Bahnhof, wollen in die Züge nach Deutschland. Hinterher wird in Berlin spekuliert, auch Österreich habe in dieser Nacht versucht, seine Flüchtlinge nach Deutschland zu schaffen.

12.30 Uhr, Paris, Élysée-Palast

Wie an jeden Samstag empfängt der französische Staatspräsident seine wichtigsten Berater zum Mittagessen. Léglise-Costa trägt die Wünsche der Kanzlerin vor. Hollande zögert keinen Augenblick, aber der Präsident sagt auch: Am Ende kann nur eine gemeinsame europäische Lösung Erfolg haben. Da eine gemeinsame europäische Lösung jedoch utopisch ist, wie Hollande ganz genau weiß, heißt das faktisch: Mehr als symbolische Unterstützung für Merkel wird es nicht geben. Und es wird die einzige Hilfszusage bleiben, die Merkel von einem Verbündeten bekommt. Den ganzen Tag lang telefoniert sie von zu Hause aus mit den Regierungschefs Europas. Und erhält eine Absage nach der anderen.

12.55 Uhr, München, DB-Betriebszentrale

„Lage spitzt sich zu“, mailt der Krisenstab der Bahn an den Vorstand, „wir klären gerade, ob der zweite Sonderzug nach München geht oder direkt ab Salzburg geführt wird. Vermutlich müssen wir aus Sicherheitsgründen den Zug in München tauschen.“

Gegen 13 Uhr, München, Hauptbahnhof

Die ersten 400 Flüchtlinge aus Ungarn erreichen den Münchner Hauptbahnhof. Zwischen Absperrgittern werden sie zur Sammelstelle geleitet, wo die Helfer ihnen Wasser, Kekse und den Kindern Kuscheltiere reichen. Am Rand der Absperrgitter sammeln sich Schaulustige, ein paar fangen an zu klatschen, erst zaghaft, dann immer heftiger. Ein Passant stimmt die Deutschlandhymne an. Die Flüchtlinge schauen irritiert, doch bald lächeln die ersten, winken zurück, das Klatschen und Jubeln wird immer lauter.

14.30 Uhr, Schnellstraße Evian – Genf

Kanzleramtschef Peter Altmaier ist auf dem Rückweg von Evian nach Berlin. Unterwegs telefoniert er mit Merkel. Beide sind sich einig, dass es ein kurzes Fernsehstatement geben muss. Aber die Kanzlerin selbst will sich nicht äußern. Kurz ist im Kanzleramt ein Merkel-Auftritt erwogen worden, wie damals bei der Erklärung mit Steinbrück, das Geld der Deutschen sei sicher. Aber dann wird die Idee verworfen. Zu dramatisch. Merkel schickt lieber ihre Leute vor. De Maizière ist immer noch krank zu Hause, also soll Altmaier das machen. Die beiden sprechen den Inhalt des Statements ab.

Die Betonung soll auf dem Wort „Ausnahme“ liegen. „Ausnahme“, das ist das Wort, das von nun an immer wieder fallen wird. In den Pressemitteilungen der Bundesregierung; in den Auskünften von Merkels Sprecher Seibert; in den Statements von Altmaier. Es ist das Wort, an dem sich jetzt alle festklammern. Später wird es im Kanzleramt heißen, von „Ausnahme“ zu reden, sei eine „bewusste Unschärfe“ gewesen.

Das Wort, das hingegen niemals fällt, das peinlich gemieden wird, dieses Wort ist „einmalig“. Niemand sagt, es sei eine einmalige Rettungsaktion. Aber das Schöne an dem Wort „Ausnahme“ ist, dass es ein wenig wie „einmalig“ klingt. Eine Ausnahme ist etwas Seltenes, etwas, was nicht oft vorkommt. Das vielleicht bald wieder vorbeigeht. Das macht es so attraktiv in diesen Stunden.

Und „Ausnahme“ ist ja auch nicht falsch, es ist keine Lüge. Denn es lässt sich juristisch argumentieren, dass die Registrierung der Flüchtlinge im Erstaufnahmeland weiter die Regel bleibe und die Einreise der Ungarn-Flüchtlinge nach Deutschland eben eine Ausnahme. Nur: Was genau ist eigentlich eine Ausnahme, wenn die Regel nicht mehr gilt?

15 Uhr, Flughafen Genf

Das ARD-Studio Genf hat ein Team geschickt, es wird ein Statement von Altmaier aufgezeichnet, für die Tagesschau. Er sagt, die Bundesregierung sei im Gespräch mit Ungarn und der EU, „damit dieser Fall sich nicht täglich wiederholt“.

16 Uhr, München, Hauptbahnhof

Oberbürgermeister Reiter steht in der Halle des Bahnhofs, hinter ihm hängt ein Poster mit selbst gemalten Buchstaben: „Welcome to Munich“. Noch ist Reiter zuversichtlich, dass seine Stadt die Herausforderung meistern wird. „Wir haben entsprechende Hallenkapazitäten, wir haben Unterstützung, wir haben unglaublich viele ehrenamtliche Helfer“, sagt Reiter in eine Fernsehkamera. Nach dem Interview geht er über den Bahnsteig, ein Junge kommt auf ihn zu. „Hello, how are you?“, fragt Reiter. „Hello, how are you?“ , antwortet der Junge. Und Reiter sagt zu den umstehenden Journalisten: „Wenn man die glücklichen Gesichter sieht, weiß man, dass wir richtig handeln.“

Gegen 18 Uhr, Berlin

Erstmals seit der Entscheidung, die Flüchtlinge zu holen, telefoniert Merkel mit Orbán. Es ist kein langes Gespräch. Der Ton ist nicht scharf. Die beiden bestätigen sich gegenseitig, dass die Aktion aus der Nacht eine Ausnahme bleiben soll. Viel mehr haben sie sich nicht zu sagen.

18 Uhr, München

Horst Seehofer lässt das Parteipräsidium der CSU zu einer Telefonkonferenz zusammenschalten. Einziges Thema: die Entscheidung der Kanzlerin. Die Linie der CSU ist klar: Die Entscheidung war falsch. Mehrere Präsidiumsmitglieder warnen vor einer „zusätzlichen Sog-Wirkung“.

18.14 Uhr, München, DB-Betriebszentrale

„Aktuell noch beherrschbare Zustände im Bahnhof München“, mailt der Krisenstab der Bahn an den Vorstand, „aber noch mehrere Züge im Zulauf. Wir werden in Abstimmung mit den Behörden in der Nacht Sonderzüge ab München fahren.“

20.20 Uhr, Berlin, Flughafen Tegel

Als Peter Altmaier landet, wartet bereits ein Ü-Wagen auf ihn. Er wird in den ARD-Brennpunkt Flüchtlinge – Deutschland schaut hin! geschaltet. 20 Stunden nach der Entscheidung stellt sich erstmals ein Regierungsmitglied öffentlich den Fragen zur Aufnahme der Ungarn-Flüchtlinge.

Altmaier sagt, was er jetzt immer wieder sagen wird. „Wenn Not ist, muss geholfen werden“, die Situation solle „eine Ausnahme gewesen sein“.

Brennpunkt-Moderator Stefan Scheider fragt: „Herr Altmaier, was passiert, wenn die Not morgen weitergeht?“

Altmaiers Antwort bleibt vage. Er sagt, Deutschland habe schon viele Flüchtlinge aufgenommen, es werde weiter Flüchtlinge aufnehmen, die Willkommenskultur sei groß im Land.

Sonntag, 6. September 2015

7 Uhr, München, Jugendamt

Erste Sitzung des Krisenstabs. Bilanz des Vortags: 6780 Flüchtlinge sind am Samstag allein am Münchner Hauptbahnhof angekommen. Alle sollen ärztlich untersucht werden, einige haben Schusswunden. Aber manche Flüchtlinge tauchen einfach ab, versuchen sich auf eigene Faust durchzuschlagen. Eine ordentliche Registrierung der Flüchtlinge findet nicht mehr statt. Wie viele es heute werden, weiß niemand. Die Bundespolizei liefert keine verlässlichen Zahlen, von der Bundesregierung kommen keine Informationen. „Existiert Berlin überhaupt?“, fragt ein hoher Beamter der Stadtverwaltung in die Runde.

Die Schlagzeile der Bild am Sonntag lautet an diesem Morgen: „Sie dürfen zu uns – Merkel beendet die Schande von Budapest“.

12 Uhr, München, Hauptbahnhof

Pressebriefing von Oberbürgermeister Reiter. Am Hauptbahnhof treffen immer mehr Züge mit Flüchtlingen ein. „Es ist die uneingeschränkte Solidarität aller Bundesländer gefragt“, sagt Reiter. „Diese Unterstützung erwarte ich.“ Auf die Frage, wann München denn „am Limit“ sei, antwortet er: „Letzte Woche dachten wir noch, 3000 Personen überfordern uns, jetzt kamen fast 10 000 Leute an einem Tag. Wir beschäftigen uns also am besten nicht mit den Zahlen, sondern mit der Frage, wie wir die Leute am besten in ganz Deutschland verteilen können.“

14.55 Uhr, Rott am Inn, Oberbayern

In der Pfarrkirche feiert die CSU einen Gedenkgottesdienst zum 100. Geburtstag von Franz Josef Strauß. Viel Salbung, viel Folklore, viel Bayern. Beim anschließenden Empfang jedoch wird Horst Seehofer ganz unsentimental. Er nennt Merkels Entscheidung aus der Nacht zum Samstag ein „völlig falsches Signal“. Und wettert: „Wir können auf Dauer bei 28 Mitgliedstaaten in der Europäischen Union beinahe nicht sämtliche Flüchtlinge aufnehmen, die aus allen Ländern dieser Welt kommen, liebe Freunde. Das hält auf Dauer keine Gesellschaft aus.“

17.30 Uhr, Berlin, Bundeskanzleramt

Kanzleramtschef Altmaier stellt sich in der Lobby des Kanzleramts vor eine Kamera von Berlin direkt, um ein Interview mit Bettina Schausten aufzuzeichnen, das um 19.10 Uhr ausgestrahlt werden wird. Wieder spricht Altmaier von den „humanitären Verpflichtungen“ Deutschlands, von der „großen Not“ der Flüchtlinge in Ungarn, von der Einhaltung des europäischen Rechts.

Schausten bohrt nach. „Die Entscheidung vom Wochenende soll eine Ausnahme in einem Notfall gewesen sein“, sagt sie, „aber für die Tausenden, die jetzt in Ungarn sind, ist die Lage ja auch ein Notfall. Können, müssen da nicht sogar weitere Ausnahmen nötig werden?“

Altmaier antwortet, der Notfall habe sich daraus ergeben, dass die ungarische Regierung die Kontrolle verloren habe, dass sich Tausende Flüchtlinge selbst auf den Weg gemacht hätten, über Bahngleise und Autobahnen.

Schausten ist hartnäckig. Das beantworte nicht ihre Frage: „Kann es noch einmal zu einer Ausnahme kommen?“

Altmaier weicht aus: „Es hat wenig Sinn zu spekulieren.“

Das Wort von der „Ausnahme“, sagt später einer aus dem engsten Zirkel im Kanzleramt, habe auch der „Selbstberuhigung“ gedient.

19 Uhr, Berlin, Bundeskanzleramt

Im achten Stock des Kanzleramts, eine Etage über Merkels Büro, kommen die wichtigsten Politiker der Regierungskoalition zusammen. Das Treffen des Koalitionsausschusses ist lange geplant, es soll vor allem um verwaltungstechnische Fragen zur Bewältigung der Flüchtlingskrise gehen: Wie viel Geld stellt der Bund zusätzlich zur Verfügung? Wie können die Flüchtlinge untergebracht werden? Man will einen Bund-Länder-Gipfel vorbereiten, der am 24. September stattfinden soll.

Als die Sitzung beginnt, meldet sich Seehofer und sagt: Ich habe mich vor diesem Treffen mit der Kanzlerin ausgetauscht. Ich bin der Meinung, dass die Ungarn-Entscheidung ein Fehler war. Die Kanzlerin und ich sind aber darin einig, dass es eine Ausnahme bleiben soll.

Ja, stimmt ihm Altmaier zu, es sei eine Ausnahme. Allerdings müsse man vielleicht genauer definieren, was eine Ausnahme sei.

Keinem der Teilnehmer ist klar, dass von nun an jeden Tag 6000 bis 8000 Flüchtlinge kommen werden. Merkel setzt darauf, dass die EU bald sogenannte Hotspots – also von der EU betriebene Lager in Italien, Griechenland oder Ungarn – einrichten werde, in denen die Flüchtlinge erst einmal bleiben. „Vor allem brauchen wir auch innereuropäische Solidarität und eine gemeinsame Asyl- und Flüchtlingspolitik der Europäischen Union“, steht im Protokoll des Koalitionsausschusses, das der ZEIT vorliegt.

Deshalb sind auch Grenzkontrollen an diesem Abend kein Thema. Merkel setzt auf eine Kooperation der EU-Partner, die es schon lange nicht mehr gibt – und die es auch nicht mehr geben wird.

19.30 Uhr, Wien

Viktor Orbán trägt einen dunkelblauen Anzug und eine bronzefarbene Krawatte, als er in der Hauptnachrichtensendung des ORF seine Sicht des Wochenendes darstellt. Derselbe Orbán, der am Freitagabend Merkel und Faymann faktisch gezwungen hat, die Grenzen zu öffnen, sagt nun: Österreich und Deutschland müssten ihre Grenzen schließen. Beide Länder sollten „klar sagen“, dass keine weiteren Flüchtlinge mehr aufgenommen werden, sonst würden weiterhin „mehrere Millionen“ Menschen nach Europa kommen.

Gegen 22 Uhr, München, Jugendamt

Bilanz des Tages im Krisenstab: Am Sonntag haben fast 11 000 Flüchtlinge den Hauptbahnhof erreicht, am Wochenende insgesamt über 17 500. Vorherrschende Sorge: Wir halten das nur ein paar Tage durch. Und dabei sind schon am Sonntag Züge mit insgesamt mehreren Tausend Personen in andere Bundesländer weitergeleitet worden. Wie es morgen oder gar übermorgen in der Stadt weitergeht, ist völlig unklar. Noch immer bekommt der Münchner Stab von höheren Stellen keine Informationen, man sammelt Nachrichtensplitter über die Presse und soziale Netzwerke.

Unter den Flüchtlingen, die am 5. September in München ankommen, ist auch Mohammad Zatareih, der Anführer des Zuges über die Autobahn. Er wird bis Ende des Monats in München bleiben und dann weiter nach Zwickau reisen, wo er heute lebt.

Wie es weitergeht

Am Abend des 6. September, am Ende eines historischen Wochenendes, wird das österreichische Innenministerium mitteilen, dass rund 15.000 Menschen die ungarische Grenze nach Österreich passiert hätten. Ein Großteil sei umgehend nach Deutschland weitergereist, lediglich 90 Flüchtlinge hätten in Österreich Asyl beantragt.

Was als Ausnahme gedacht war, als Nothilfe für wenige, wird zum Massenereignis.

Tag für Tag kommen nun allein in München mehrere Tausend Flüchtlinge an. Am darauffolgenden Wochenende, eine Woche nach Merkels Entscheidung, werden am Münchner Hauptbahnhof rund zwanzigtausend Ankömmlinge gezählt. Die Bundesregierung erwägt daraufhin ein paar Stunden lang die Schließung der Grenzen, die Bundespolizei bereitet schon die entsprechenden Einsatzbefehle vor. Womöglich ist das der letzte Moment, an dem Seehofers „Pfropfen“ noch einmal hätte in die Flasche gepresst werden können. Niemand weiß allerdings, wie lange die Bundespolizei eine Grenzschließung hätte durchhalten können. Aber es kommt nicht zum Test. Merkel entscheidet dagegen, die Grenze bleibt offen, lediglich Kontrollen gibt es fortan.

In den folgenden Wochen kommen Zehntausende ins Land, weithin unkontrolliert und unregistriert. Faktisch verliert der Staat die Kontrolle. Genau das, was die Bundesregierung immer wieder von Ungarn verlangt hatte, die geordnete Registrierung aller Zuwanderer, kollabiert nun auch in Deutschland. Erst im Dezember, das wird auch im Kanzleramt heute eingeräumt, gewinnt der Staat die Steuerungsfähigkeit zurück.

Die AfD, im Sommer politisch schon fast erledigt, wird enormen Zulauf finden, bei vielen Bürgern wird das Misstrauen gegen die Institutionen wachsen, Merkels Umfragewerte werden sinken. In der Silvesternacht werden Frauen in mehreren deutschen Städten von Migranten und Asylbewerbern sexuell belästigt werden, und in Ansbach und Würzburg werden Flüchtlinge im Sommer 2016 zwei islamistisch motivierte Anschläge verüben.

Zugleich geht eine beispiellose Welle der Hilfsbereitschaft durch das Land. Zehntausende Freiwillige melden sich, helfen bei der Verteilung von Spenden, Essen, erteilen Sprachunterricht, ungezählte Familien nehmen Flüchtlinge auf und bringen sie privat unter.

Am 15. September wird Viktor Orbán die Schließung der Südgrenze seines Landes verkünden. Anfang November wird Schweden wegen der Flüchtlingskrise wieder Grenzkontrollen einführen, weil die „Rekordzahl“ eintreffender Flüchtlinge eine „Gefahr für die öffentliche Ordnung“ darstelle. Und Österreich wird Ende Januar 2016 die Einführung einer „Obergrenze“ beschließen, was einem Ende der Aufnahmepolitik gleichkommt. Am 9. Mai 2016 wird Bundeskanzler Werner Faymann seinen Rücktritt erklären.

Hat Merkel also einen Fehler gemacht, als sie die Flüchtlinge nach Ungarn einreisen ließ?

Wenn man das heute Beamte, Manager, Politiker fragt, die an dem Wochenende dabei waren, auf den Straßen, den Bahnhöfen, in den Einsatzstäben, dann lautet die Antwort fast durchweg: Nein.

Münchens Oberbürgermeister Reiter etwa sagt im Rückblick: „Angesichts der Bilder vom Budapester Bahnhof hätte ich in dem Moment genau so entschieden wie Bundeskanzlerin Merkel. Ich finde nach wie vor, dass sie in der damaligen Situation richtig entschieden hat. Ich glaube auch nicht, dass Merkel durch irgendwelche Signale oder freundliche Selfies viele Flüchtlinge erst zum Kommen ermutigt hat. Das kann ich mir nicht vorstellen.“

Und Christian Kern, damals als ÖBB-Chef entscheidend am Krisenmanagement beteiligt, mittlerweile zum österreichischen Bundeskanzler aufgestiegen, erklärt im Gespräch mit der ZEIT: „Das ist alles sehr spontan geschehen, das hatte gar nichts Generalstabsmäßiges. Wir mussten innerhalb von Minuten entscheiden: Wir stellen jetzt Busse und Sonderzüge zur Verfügung. Die Entscheidung hatte zwei Aspekte: Zum einen war es ein Akt der Humanität. Zum anderen bewegten uns ganz pragmatische Gründe: die Menschen wären ohnehin entlang der Gleise gelaufen.“

Gleichwohl steht außer Frage, dass Fehler gemacht wurden. Nur sieht fast jeder, mit dem man spricht, andere Fehler.

Merkels Fehler sei es gewesen, sagt ein deutscher Spitzenpolitiker, immer auf eine gemeinsame europäische Lösung der Flüchtlingsfrage gesetzt zu haben. Dabei habe sich lange vor der Ungarn-Entscheidung abgezeichnet, dass ihre europäischen Kollegen das gar nicht wollten.

„Unser Fehler“, sagt ein ungarischer Top-Diplomat, „war nicht, dass wir den Zaun gebaut haben. Unser Fehler war, dass wir damit erst so spät angefangen haben.“

Orbáns Fehler sei es nicht gewesen, einen Zaun zu bauen, sagt ein deutsches Kabinettsmitglied. Sein Fehler sei gewesen, dass er den Zaun-Bau mit „großem Tamtam“ angekündigt habe. „Es gibt auch anderswo Zäune in Europa, in Spanien, zwischen Bulgarien und der Türkei, zwischen Griechenland und der Türkei. Die stören niemanden.“

Merkels historische Entscheidung, das zeigen die Recherchen von ZEIT und ZEIT ONLINE, war kein spontaner humanitärer Impuls, kein emotionaler Affekt, auch keine moralische Selbstüberhöhung. Merkel musste entscheiden, unter hohem Druck, innerhalb von kaum drei Stunden, nachdem es Viktor Orbán gelungen war, sie in eine fast alternativlose Lage zu bringen.

Womöglich werden Historiker einmal nachweisen können, dass diese dramatische Situation nur entstehen konnte, weil innerhalb der Europäischen Union die Kommunikation kollabiert war, weil sich Brüssel, Berlin und Budapest in wechselseitigen Schuldzuweisungen ergingen, statt Solidarität zu üben, weil jeder darauf beharrte, recht zu haben, obwohl dieses Recht längst seine Ordnungsfunktion verloren hatte.

Mit einiger Sicherheit aber lässt sich heute schon eines sagen: Hätten sich die Flüchtlinge am Morgen des 4. September nicht entschlossen, zu Fuß vom Budapester Hauptbahnhof Richtung Wien zu marschieren, wäre die Geschichte Europas an diesem Wochenende anders verlaufen.

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