20. August 2016 · Kommentare deaktiviert für Grenze Österreich-Ungarn: „Es war wie in einem schlechten Film“ · Kategorien: Österreich, Ungarn

Quelle: Zeit Online

Leutnant Manfred Schreiner leitete die Schicht an der Grenzstation Nickelsdorf, als im September 2015 Tausende Flüchtlinge ankommen. Noch heute bewegt ihn, was er sah.

Von Angela Köckritz, Nickelsdorf

Knapp ein Jahr später sitzt der österreichische Polizeileutnant Manfred Schreiner, 44, Glatze, sportliche Figur, wieder vor dem Fenster, aus dem er so oft schaute in jenen Tagen. Fassungslos, erstaunt, bewegt. Das Fenster liegt im ersten Stock der Polizeiinspektion Nickelsdorf, gleich dahinter beginnt ungarisches Staatsgebiet. Das Land ist flach und weit hier, hoch steht das Gras.

Rund 500 Meter Luftlinie von Schreiner entfernt liegt die ungarische Grenzstation Hegyeshalom. Von hier führt eine Trasse für Autos und LKWs nach Österreich. Heute ist es ruhig hier, ein paar Autos zuckeln durch die Sommerhitze. Fast nichts erinnert mehr an das Wochenende vom 4. bis 6. September vergangenen Jahres und die aufregenden Wochen danach.

Als Schreiner am 4. September 2015 um 17 Uhr seinen Dienst antritt, erwartet er eine ruhige Schicht. Er arbeitet seit 24 Jahren bei der Polizei, an diesem Abend ist er als stellvertretender Leiter der Nachtschicht eingeteilt. Seit man am 27. August am Rande der Autobahn im Burgenland 71 Leichen in einem Lastwagen fand, sollen Schreiner und seine 60 Beamten verstärkt kontrollieren. Doch das ist an jenem Abend schon fast Routine. Nichts deutet darauf hin, dass dies die längste und aufregendste Nacht im Polizistenleben von Leutnant Schreiner werden wird. Erst nach 24 Stunden im Dauereinsatz wird er wieder nach Hause gehen.

Gegen Mitternacht meldet sich die Einsatzleitung in Wien bei ihm. Eine größere Zahl von Flüchtlingen nähere sich dem österreichisches Bundesgebiet, Richtung Nickelsdorf. Schreiner und seine Leute sollen sich auf 60 Busse einstellen. 3.000 Menschen.

Es ist der Freitag, an dem sich die Flüchtlinge, die auf dem Budapester Bahnhof festsaßen, zu Fuß in den Westen aufmachen, der sogenannte March of Hope. Der Freitag, an dem der ungarische Premier Victor Orbán die Flüchtlinge in Busse Richtung österreichische Grenze setzt, bevor er zu einem Fußballspiel geht – die Österreicher informiert er über diesen Schritt durch eine Depesche des ungarischen Botschafters in Wien. Die Flüchtlinge würden nach dem Grenzübertritt von österreichischen Bussen abgeholt, teilt die Einsatzleitung Schreiner mit. Nähere Anweisungen gibt es nicht, auch keine Verstärkung. Schreiner informiert seine Beamten.

Gegen 3 Uhr nachts kommt der erste Bus auf der ungarischen Seite in Hegyeshalom an. Es ist ein Bus voller junger Männer, die anderen Flüchtlinge haben sie vorausgeschickt, die Lage zu sondieren. Erst als sie ihr Okay geben, setzen sich auch Familien in die Busse. Die Menschen müssen zu Fuß über die LKW-Spur nach Nickelsdorf gehen. „Es hat in Strömen geregnet, es war wie in einem schlechten Film“, sagt Schreiner. Kinder, Behinderte, Verletzte sind darunter, Schreiner denkt an seine eigenen Kinder und spürt Mitleid. „Die Menschen waren sehr erschöpft. Apathisch. Den einen war kalt, die anderen hatten Hunger.“

Erst im Morgengrauen bekommen Schreiner und seine Leute Verstärkung. Der Parkplatz füllt sich unterdessen mit österreichischen Bussen, „eine ganze Karawane“, die die Flüchtlinge nach Wien bringen sollen. Taxis fahren vor, Hilfsorganisationen und freiwillige Helfer bauen Zelte und Stände auf. Schreiner und seine Kollegen haben alle Hände voll zu tun. Einige Flüchtlinge wollen zu Fuß weiter nach Wien laufen, über die Autobahn, die Polizisten müssen sie sperren. Die Flüchtlinge haben fast ausnahmslos ein Ziel: Germany. „In Nickelsdorf wollten sie nicht bleiben.“ Junge Männer rennen auf die Busse zu, drängeln Kinder und Alte beiseite. „Jeder wollte der Erste sein, das hatte etwas von einem untergehenden Schiff, jeder kämpft für sich. Da musste man darauf achten, dass niemand unter die Räder kam, dass sie sich nicht schlugen beim Sturm auf die Busse, dass keiner auf die Autobahn trudelte.“ An Personenkontrollen ist nicht zu denken. „Einerseits ist es problematisch, Personen unkontrolliert ins Bundesgebiet zu lassen, da hat man als Polizist das entsprechende Rechtsbewusstsein“, sagt Schreiner. „Aber aus humanitären Überlegungen wäre das einfach nicht gegangen.“

Immer wieder läuft er nach oben, in den ersten Stock der Polizeistation und schaut durch die Fenster. Der Strom der Flüchtlinge reißt nicht ab. „Wann immer man rausgesehen hat, morgens, mittags oder abends, da waren so viele Menschen. Es war wie ein Standbild.“ Das wird sich auch in den nächsten Tagen nicht ändern. Und irgendwann kommt Schreiner ein Gedanke: „Das ist jetzt historisch.“

Drei Wochen bleibt Schreiner auf Sondereinsatz in Nickelsdorf. Der Grenzzaun, den Victor Orbán an seiner Ostgrenze bauen lässt, wächst unterdessen weiter, Mitte September erlässt Ungarn zudem ein neues Gesetz: Wer ohne Registrierung die Grenze überschreitet, muss mit einer Haftstrafe rechnen. Der Weg über Ungarn wird für die Flüchtlinge zu mühsam und gefährlich. Sie weichen auf die Westbalkanroute aus, überqueren die österreichische Grenze bei Spielfeld in der Südsteiermark.

Die Rücksichtslosigkeit mancher junger Männer anderen Flüchtlingen gegenüber

Genau dorthin wird Schreiner nach seiner Zeit in Nickelsdorf versetzt. Er habe ja jetzt Erfahrung mit Flüchtlingen und Nichtregierungsorganisationen, sagen seine Vorgesetzten.

Die politische Stimmung in Österreich hat sich mittlerweile gedreht. „In Nickelsdorf war viel des Refugee-Welcome-Geistes zu spüren, das hat in Spielfeld deutlich abgenommen.“ Rechte reisen nach Spielfeld, um zu agitieren, Linke kommen hinzu, einmal kommt es zu einer Massenschlägerei mit fast tausend Menschen.

Doch auch die Flüchtlinge selbst haben sich seiner Beobachtung nach verändert. „Anfangs kamen mehr Alte, Frauen und Kinder, syrische Familien, die doch sehr dankbar waren.“ Später seien es mehr junge Männer gewesen, die nicht aus arabischsprachigen Ländern kamen, sondern aus Afghanistan oder Pakistan. „Rein vom Anblick her würde ich sagen: Die waren auf unsere Hilfsbereitschaft nicht angewiesen, das waren keine Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention. Dankbarkeit konnte ich da nicht so viel erkennen. Was mich am meisten schockierte, war die Rücksichtslosigkeit mancher junger Männer anderen Flüchtlingen gegenüber. Und da ging es ja nicht ums Überleben, sondern nur um eine Decke, einen Platz in einem früheren Bus.“

Für umfassende Grenzkontrollen haben Schreiner und seine Beamte auch in Spielfeld nicht genügend Leute. Sie kontrollieren stichprobenartig, „etwa wenn uns Nichtregierungsorganisationen von besonders aggressiven jungen Männern berichtet haben.“

Anderthalb Monate wird Schreiner in Spielfeld bleiben, dann nochmal für anderthalb Monate dorthin zurückkehren. Er erlebt mit, wie Österreich und andere Länder an der Westbalkanroute nach und nach ihre Grenzen schließen. Schreiner hat alle Phasen der Flüchtlingspolitik des vergangenen Jahres mitgemacht.

Mittlerweile ist er wieder an seinen ursprünglichen Einsatzort zurückgekehrt, er bereitet sich in einem einjährigen Schulungsjahr für eine Stelle als Bezirkskommandant und Major im burgenländischen Mattersburg vor. „Rückblickend würde ich sagen, dass die Hilfsbereitschaft groß war und durch alle Schichten gegangen ist. Doch irgendwann kam die Gesellschaft an einen Erschöpfungszustand.“

Er schaut aus dem Fenster Richtung Ungarn. Kein Flüchtling zu sehen, weit und breit.

Beitrag teilen

Kommentare geschlossen.