18. August 2016 · Kommentare deaktiviert für „Einfach loslaufen“ · Kategorien: Balkanroute, Deutschland, Ungarn · Tags:

Quelle: Zeit Online

Im Herbst 2015 führte Mohammad Zatareih den spektakulären „Hoffnungsmarsch“ der Flüchtlinge von Budapest zur österreichischen Grenze an. Wie geht es dem Syrer heute?

Von Gero von Randow, Zwickau

Da kommt Mohammad Zatareih angeradelt, durch die Innenstadt von Zwickau, auf einem sehr coolen Bike mit leuchtend grünen Stilelementen. Ein elegant gekleideter Mann von 26 Jahren, athletisch. Ein Jahr ist es nun her, dass der syrische Flüchtling Mohammad Zatareih eine Idee hatte, die Europas Flüchtlingspolitik verändern sollte. Und noch länger ist es her, dass die Geschichte dieses besonderen Flüchtlings begann.

Zatareih stammt aus Damaskus. Nach seinem Militärdienst in der syrischen Armee ging er nach Dubai, um dort sein Glück zu versuchen. In der Stadt der Wolkenkratzer leitete er ein Modehaus für Hochzeitskleider und Maßanzüge, „mindestens 5.000 Euro pro Stück“, wie er sagt.

Doch in Syrien brach der Krieg aus, eine Bombe fiel auf sein Elternhaus, die Familie floh über den Libanon nach Istanbul. Zatareih, dessen Visum in Dubai auslief und der nicht für Baschar al-Assad in den Krieg ziehen wollte, folgte seiner Familie im März 2015 nach. Mehr als Gelegenheitsjobs gab es dort aber nicht, und schon gar keine Zukunft, sagt Zatareih. „Ich telefonierte mit meinem Bruder, der nach Wien geflohen war, und der sagte nur: Komm her.“

Der erste Fluchtversuch scheiterte noch, die griechische Küstenwache habe das Boot zurückgedrängt, erzählt Zatareih. Im zweiten Versuch schaffte er es mit einigen Familienangehörigen auf die griechische Insel Pharmakonisi. Dort wurden sie von griechischen Soldaten aufgegriffen und auf die Insel Leros verbracht. „Dort gab es nichts, keine Ärzte, keine Duschen, keine Toiletten“, sagt Zatareih. Sie hätten auf dem Boden schlafen müssen, sein Smartphone sei gestohlen worden, erzählt Zatareih. Die kleine Gruppe zog weiter nach Athen, dann nach Mazedonien, Serbien, Ungarn – weite Strecken davon zu Fuß, und immer wieder versuchten Diebe und Betrüger, der Familie ihre letzte Habe zu nehmen. Am 1. September endlich: Budapest, Bahnhof Keleti.

Dort verließ ihn allerdings die Kraft. „Ich schlief schlecht und hatte tagsüber keine Energie mehr, nicht einmal, um aufzustehen“, erinnert er sich. „Bis ich mir sagte: Als Soldat bist du 170 Kilometer am Stück marschiert. Das ist ungefähr die Entfernung bis zur österreichischen Grenze.“ Mohammad Zatareih stellte fest, dass noch einer am Bahnhof diese Idee hat, Ahmed, ebenfalls ein junger Mann aus Damaskus.

Am Morgen des 4. Septembers ist es so weit. Ahmed mobilisiert die Leute per Megafon, Mohammad organisiert sie in Fünferreihen. So etwas kennt er noch vom Militär. Obwohl er nur Gefreiter war, hat er oft Soldatentrupps geführt. Die Erfahrung kommt ihm nun zugute.

Zusammen mit Ahmed organisiert er den Hoffnungsmarsch, wie er später genannt wurde, der vom Budapester Ostbahnhof nach Österreich aufbrach. Da er gut Englisch spricht, ist Zatareih auch der Ansprechpartner für die Fernsehreporter aus aller Welt, die er dafür gewinnt, den Marsch zu begleiten. Er weiß: Das schützt die Flüchtlinge vor Übergriffen der ungarischen Polizei.

Budapest, Wien, Zwickau

Wenn man heute mit ihm über diesen Marsch spricht, leuchten seine Augen. Immer wieder erwähnt er die ungarischen Freiwilligen, die halfen: mit Straßenkarten und Kinderwagen, mit Wasser und Bananen, mit medizinischer Versorgung und Informationen.

„Meine Stimme war kaputt“

Der Marsch setzte eine politische Kettenreaktion in Gang. Er veranlasste Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán, die Flüchtlinge mit Bussen an Österreichs Grenze zu transportieren, was Österreichs Kanzler Werner Faymann praktisch zwang, diese aufzunehmen – Faymann wiederum wandte sich an Angela Merkel, und die machte die Grenzen auf. Sie ließ die Menschen vom Budapester Bahnhof, Mohammad Zatareih und all die anderen, nach Deutschland.

Spricht man Zatareih darauf an, dass er Weltgeschichte gemacht hat, reagiert er gelassen. Er versteht, wie die Dinge zusammenhängen, aber es kam ihm nicht auf Politik an, sondern auf ein besseres Leben, für sich und seinesgleichen. Ein bisschen stolz ist er schon darauf, dass er quasi der militärische Organisator des Marsches war, aber das trägt er nicht vor sich her. Er sagt nur: „Ich konnte danach drei Tage lang fast kein Wort mehr herausbringen, meine Stimme war kaputt.“

In Österreich angekommen, reiste Zatareih über Wien nach München und wurde von dort schließlich in eine Flüchtlingsunterkunft ins sächsische Zwickau verwiesen.

Und nun?

Nun sitzt er in Zwickau, aufgehübschte Altstadt, nicht so hübsche Außenbezirke, gelegen in einer wirtschaftlich immerhin wachsenden Region. „Geh mal ins Automuseum“, sagt Zatareih, „hier ist Audi entstanden. Wusste ich vorher gar nicht.“ Er liebt schnelle Autos, zeigt Fotos von ihnen auf seinem Smartphone.

„Wir können euch auch etwas beibringen“

Fragen wir also noch einmal nach: Schön, aber wie lebt es sich als Damaszener in Zwickau?

Mohammad Zatareih ist ein höflicher Mann. Freut sich darüber, dass er in Deutschland sein darf. Vor ein paar Wochen wurde sein Asylantrag anerkannt. Er lernt Deutsch und will dann eine Lehre machen, als Designer vielleicht. Er hat deutsche Freunde, einige von ihnen haben mit ihm im Ramadan gefastet. Eine richtige Moschee existiert in Zwickau nicht, nur ein Gebetsraum in einer Privatwohnung. Aber Zatareih beklagt sich nicht. „Wir können euch auch etwas beibringen“, lächelt er fein. „In Syrien bietet man Fremden spontan etwas zu essen an, lädt sie zu sich nach Hause ein. Ihr habt uns Flüchtlinge aufgenommen, das ist großartig, aber das Private lasst ihr erst mal draußen, wenn ihr jemanden kennenlernt.“

Dann und wann laden ihn Schulen dazu ein, von seiner Flucht im Unterricht zu erzählen. Also alles paletti? Man muss mehrmals nachhaken, bis er davon erzählt, dass ihn Passanten schon mal fragen: „Woher hast du so ein schickes Fahrrad und solche Klamotten?“ – „Als müssten wir Flüchtlinge uns mit Lumpen begnügen“, kommentiert er. Um gleich entschuldigend hinzuzufügen: „Na ja, hier gab es eben nie Ausländer. Die Leute meisten sprechen noch nicht einmal Englisch.“

Man habe ihn auch schon ein paarmal „Nigger“ genannt: „Das Wort kannte ich gar nicht. Das meinen die böse, oder?“

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