02. August 2016 · Kommentare deaktiviert für „Flüchtlingsdeal mit der Türkei: Eskalation mit Ansage“ · Kategorien: Europa, Türkei

Quelle: taz

Visumfreiheit als Streitpunkt. Die türkische Regierung droht der EU mit dem Scheitern des Abkommens über die Rücknahme von Flüchtlingen.

Ulrich Schulte

BERLIN taz | Die Bun­des­re­gie­rung hat ge­las­sen auf die Dro­hung der tür­ki­schen Re­gie­rung re­agiert, die EU-Tür­kei-Ver­ein­ba­rung in der Flücht­lings­po­li­tik auf­zu­kün­di­gen. „Die EU und die Bun­des­re­gie­rung gehen wei­ter davon aus, dass die Tür­kei die Be­din­gun­gen er­füllt“, sagte die stell­ver­tre­ten­de Re­gie­rungs­spre­che­rin Ul­ri­ke Dem­mer am Mon­tag. Es sei im ge­gen­sei­ti­gen In­ter­es­se, dass nicht täg­lich Men­schen im Mit­tel­meer er­trän­ken.

Auch das Aus­wär­ti­ge Amt blieb im Ton­fall betont ruhig. Eine Dro­hung oder ein Ul­ti­ma­tum könne er in den Äu­ße­run­gen des tür­ki­schen Au­ßen­mi­nis­ters nicht er­ken­nen, sagte Au­ßen­amts­spre­cher Mar­tin Schä­fer – sie seien eher ein „kräf­ti­ger Aus­druck der tür­ki­schen Po­si­ti­on“. Schä­fer be­ton­te, dass die Ver­ein­ba­rung der EU mit der Tür­kei vom 18. März wei­ter gelte. Es blei­be dabei, dass die Vor­aus­set­zun­gen für eine Vi­sa-Li­be­ra­li­sie­rung zu­nächst er­füllt sein müs­sten.

Damit schloss sich die Bun­des­re­gie­rung der EU-Kom­mis­si­on an. Eine Spre­che­rin hatte schon am Sonn­tag­abend klar ge­macht, dass sich Eu­ro­pa nicht er­pres­sen las­sen werde. Die Vi­s­um­frei­heit für tür­ki­sche Bür­ger werde es nur geben, wenn alle Be­din­gun­gen er­füllt seien, sagte die Kom­mis­si­ons­spre­che­rin.

Auch aus der Op­po­si­ti­on kam Kri­tik an der Tür­kei. „Wenn der tür­ki­sche Au­ßen­mi­nis­ter nun ein Ul­ti­ma­tum setzt, ver­kennt er, dass der Ball bei der tür­ki­schen Re­gie­rung liegt“, sagte Grü­nen-Chef Cem Öz­de­mir der taz. Es sei die Ent­schei­dung von Prä­si­dent Erdoğan, „ob er lie­ber wei­ter­hin Jour­na­lis­ten unter dem Deck­man­tel des Ter­ror­pra­gra­phen ein­sper­ren will oder den ei­ge­nen Bür­gern end­lich vi­s­um­freie Rei­sen in die EU er­mög­licht“, be­ton­te Öz­de­mir.

Druck auf die EU steigt

Der tür­ki­sche Au­ßen­mi­nis­ter Mev­lüt Ca­vu­sog­lu hatte in einem In­ter­view mit der Frank­fur­ter All­ge­mei­nen Zei­tung mit der Auf­kün­di­gung der EU-Tür­kei-Ver­ein­ba­rung ge­droht. „Wenn es nicht zu einer Vi­sa­li­be­ra­li­sie­rung kommt, wer­den wir ge­zwun­gen sein, vom Rück­nah­me­ab­kom­men und der Ver­ein­ba­rung vom 18. März Ab­stand zu neh­men.“ Die tür­ki­sche Re­gie­rung er­war­te „einen kon­kre­ten Ter­min“. Dies könne An­fang oder Mitte Ok­to­ber sein, aber man er­war­te „ein fes­tes Datum“.

Dies ist eine Es­ka­la­ti­on in den Be­zie­hun­gen der Eu­ro­päi­schen Union zur Tür­kei. Die EU hatte der Tür­kei 72 Be­din­gun­gen für die Rei­se­frei­heit tür­ki­scher Bür­ger ge­stellt, die Ver­hand­lun­gen lau­fen schon seit De­zember 2013. Am 18. März die­ses Jah­res, nach Mo­na­ten mit einer sehr hohen Zu­wan­de­rung von Flücht­lin­gen aus der Tür­kei, schlossen die EU und die Re­gie­rung von Recep Tay­yip Erdoğan eine Abmachung. Die EU sagte der Tür­kei Mil­li­ar­den­hil­fen für die Ver­sor­gung von Flücht­lin­gen zu und die Rei­se­frei­heit für tür­ki­sche Bür­ge­rIn­nen ab Ende Juni.

Im Ge­gen­zug ver­pflich­te­te sich die Tür­kei, il­le­gal nach Grie­chen­land ein­ge­reis­te Ge­flüch­te­te zu­rück­zu­neh­men. Die EU und die Tür­kei ver­ab­re­de­ten da­mals einen 1:1-Deal. Für jeden aus Grie­chen­land in die Tür­kei ab­ge­scho­be­nen Syrer soll­te ein Syrer legal aus der Tür­kei in die EU ein­rei­sen kön­nen.

Harter Kurs statt Liberalisierung

Die­ser Tür­kei-Deal ist ein ent­schei­den­der Bau­stein in An­ge­la Mer­kels Plan, il­le­ga­le Zu­wan­de­rung nach Eu­ro­pa zu ver­hin­dern. Doch die ur­sprüng­lich ab Ende Juni ge­plan­te Rei­se­frei­heit schei­ter­te, weil die Tür­kei nicht alle 72 Be­din­gun­gen er­füll­te. Bis heute sind nicht alle Punkte abgehakt. Der Wich­tigs­te sind die so ge­nann­ten An­ti-Ter­ror-Ge­set­ze Erdoğans. Die EU kri­ti­siert, dass sie Ter­ro­ris­mus zu allgemein definieren und die Ver­fol­gung von kri­ti­schen Op­po­si­tio­nel­len er­mög­li­chen. Auf Basis der Ge­set­ze wur­den zum Beispiel Jour­na­lis­ten, Ak­ti­vis­ten oder Po­li­ti­ker in­haf­tiert.

Erdoğan wie­der­um hat kein In­ter­es­se an einer Än­de­rung der Ge­set­ze und hat das auch öf­fent­lich ge­sagt. Seit dem Putsch­ver­such geht seine Re­gie­rung ri­go­ros gegen ver­meint­li­che Fein­de vor, eine si­cher­heits­po­li­ti­sche Li­be­ra­li­sie­rung würde diesem harten Kurs wi­der­spre­chen.

Die Dro­hung aus Ankara do­ku­men­tiert des­halb auch, wie fest­ge­fah­ren die Ver­hand­lun­gen sind. Für Mer­kel ist die EU-Tür­kei-Ver­ein­ba­rung wich­tig. In Kom­bi­na­ti­on mit den Grenz­schlie­ßun­gen der Bal­kan­staa­ten hat sie zu einem star­ken Rück­gang der Zahl der auf den grie­chi­schen In­seln an­kom­men­den Ge­flüch­te­ten ge­führt.

Kaum Fluchtwege offen

Dort gin­gen laut FAZ im Ja­nu­ar und Fe­bru­ar täg­lich fast 2.000 Men­schen an Land, im Juni waren es nur noch 50. Die Schlep­per fin­den kaum noch Men­schen, die für die teure il­le­ga­le Über­fahrt über die Ägäis be­zah­len. Laut Bun­des­in­nen­mi­nis­te­ri­um scho­ben grie­chi­sche Be­hör­den seit März 468 Men­schen in die Tür­kei ab. 849 Men­schen nahm die EU aus der Tür­kei in einem Res­sett­le­ment-Pro­gramm auf – davon kamen 294 nach Deutsch­land.

Was pas­sie­ren würde, wenn die Tür­kei die Ver­ein­ba­rung kün­dig­te, ist un­klar. Ei­ner­seits dürf­te sich unter den Ge­flüch­te­ten in der Tür­kei her­um­ge­spro­chen haben, dass der Weg über die Bal­kan­rou­te nach Mit­tel- und Nord­eu­ro­pa ver­sperrt ist. Dies sprä­che da­ge­gen, die ge­fähr­li­che Über­fahrt nach Grie­chen­land zu wagen.

Gleich­zei­tig spitzt sich die Si­tua­ti­on in der Tür­kei zu, was viele doch zur Flucht be­we­gen könn­te. Grie­chen­land, wo jetzt schon Flücht­lin­ge in ka­ta­stro­pha­len Zu­stän­den leben, wäre heil­los über­las­tet. Das Elend der Geflüchteten wäre damit wieder in der EU angekommen.

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siehe auch: taz

Kommentar Visumfreiheit für die Türkei

Das falsche Druckmittel

Die EU hätte der Türkei schon vor dem Flüchtlingsdeal Visumfreiheit gewähren müssen. Um Druck auf Erdoğan auszuüben, gibt es bessere Maßnahmen.

Pascal Beucker

Keine Frage, der Flüchtlingspakt mit der Türkei ist ein schmutziger. Der Deal mit dem repressiven Erdoğan-Regime zur Abwehr von Menschen, die aus ihren Heimatländern fliehen, lässt sich jedenfalls nur schwer mit jener „wertebasierten Außenpolitik“ vereinbaren, von der die Bundesregierung so gerne spricht. Deshalb ist es eigentlich ein Grund zur Freude, wenn nun die Türkei droht, das Abkommen aufzukündigen, falls die EU nicht bis Oktober zur ­Visumliberalisierung für türkische Staatsangehörige bereit ist.

Was für eine hervorragende Gelegenheit, den miesen Deal zu kippen! Doch so einfach ist es nicht. Schon die Gewährung von Reiseerleichterungen zum Verhandlungsgegenstand zu machen war grundfalsch. Damit wurde dem türkischen Autokraten etwas in Aussicht gestellt, was er als politischen Erfolg hätte verkaufen können.

Dass es die Visumfreiheit nicht längst gibt, ist ein Versagen der deutschen und der europäischen Politik – unabhängig vom EU-Türkei-Deal. Die Bundesrepublik wäre es allein schon den knapp 2,9 Millionen hier lebenden Menschen mit türkischen Wurzeln schuldig. Es ist unwürdig, welch schikanösen bürokratischen Aufwand deren Verwandte in der Türkei betreiben müssen, um ihre Angehörigen zu besuchen. Außerdem gibt es keinen Grund, warum für Menschen aus der Türkei andere Regeln gelten sollen als für Deutsche, die in die Türkei reisen wollen.

Angesichts der aktuellen Repres­sions­welle müsste die Visumfreiheit eigentlich das Gebot der Stunde sein. Denn sie würde vor allem denen dienen, die unter der Herrschaft Erdoğans leiden. Wer in der – berechtigten – Sorge ist, dass sich die Verhältnisse am Bosporus weiter in Richtung Diktatur entwickeln, der darf es den verfolgten JuristInnen, DozentInnen, JournalistInnen oder KünstlerInnen nicht auch noch unnötig schwer machen, sich in Sicherheit zu bringen.

Um Druck auf Erdoğan auszuüben, würden sich wirkungsvollere Mittel als die Verweigerung der Visumfreiheit anbieten – vom sofortigen Stopp aller Waffenlieferungen bis zu harten Wirtschaftssanktionen. Doch davon ist bisher keine Rede. Denn das würde tatsächlich das EU-Türkei-Abkommen riskieren. Am Ende könnte es dazu kommen, dass der Deal hält, ohne dass die Visumfreiheit kommt. Das wäre die denkbar schlechteste Variante.

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