Quelle: Süddeutsche Zeitung
Ein Team von Amnesty International hat Zutritt zu den abgeriegelten Flüchtlingslagern auf Chios und Lesbos erlangt. Ein Mitarbeiter erzählt, was er dort gesehen hat.
Interview von Markus Mayr
Einem Team von Amnesty International ist gelungen, was derzeit nicht vielen Organisationen, geschweige denn Journalisten gelingt: Es hat Zutritt erlangt zu den Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln Chios und Lesbos. Seit dem Deal zwischen der EU und der Türkei sind die Camps abgeriegelt und werden streng bewacht. Doch Amnesty kam auf dem „offiziellen Weg“ über die Behörden hinein, wie Conor Fortune erzählt. Der Amnesty-Pressesprecher berichtet im Interview mit der SZ von menschenunwürdigen Zuständen und erklärt, warum die sogenannten Hotspots eigentlich Haftzentren sind.
SZ.de: Herr Fortune, Sie haben die Hotspots auf Lesbos und Chios besucht. Was haben sie dort gemacht?
Conor Fortune: Wir haben mit 89 Flüchtlingen und Migranten gesprochen. So konnten wir einen Eindruck von den realen und wirklich besorgniserregenden Herausforderungen gewinnen, denen sich die Menschen in diesen Lagern stellen müssen. Sie bekommen dort nur sehr schwer rechtlichen Beistand und erfahren fast nichts über ihre Situation. Fast jeder der Befragten hat gesagt: „Ich weiß nicht, was mit mir passiert, ich weiß nicht wie es weitergeht.“ Das ist extrem beunruhigend.
Was war Ihr Eindruck, nachdem Sie den ersten Schritt in die mit Stacheldraht gesicherten Lager getan haben?
Als wir reinkamen, war ganz klar zu sehen, dass sich diese Zentren von offenen Aufnahmestellen zu geschlossenen Haftanlagen entwickelt haben. In diesen Zentren kommen die Menschen nur sehr schwer an Rechtshilfe und können die Bedingungen, unter denen sie festgesetzt wurden, nicht anfechten. Die Lager werden tatsächlich vom Militär und von der Polizei verwaltet. Die Menschen dürfen das Lager nicht verlassen, es fehlt an medizinischer Versorgung, speziell für besonders Schutzbedürftige, wie etwa Schwangere, Schwerverletzte, -kranke und Traumatisierte.
Wann sind die Aufnahmezentren zu Haftzentren geworden?
Als der EU-Türkei-Deal geschlossen wurde. Vom 20. März an hat sich die Situation drastisch verschlechtert. Davor waren das Erstaufnahmezentren, in die die Menschen kamen, bevor sie ihren weiteren Weg angetreten haben. Jetzt stecken die Menschen fest und sind dort gefangen. Diese Haft können sie nicht anfechten.
Kommen immer noch Flüchtlinge auf den Inseln und in den Lagern an?
Ja, obwohl es weniger werden. Diese Woche hat es bereits Massenabschiebungen in die Türkei gegeben. Wie aber Amnesty International dokumentiert hat, schiebt die Türkei massenhaft Afghanen nach Afghanistan ab und Syrer – viele Syrer – nach Syrien. Die Leute hier in den Camps sind verunsichert und verängstigt. Sie wissen nicht was mit ihnen passieren wird. Wir wissen es auch nicht.
Wer muss was gegen diese desolate Situation tun?
Es ist absolut entscheidend, dass die von der EU versprochenen Experten unverzüglich nach Griechenland gehen und helfen, den immensen Rückstau an Asylanträgen abzuarbeiten. Jeder Einzelne muss ein faires und gründliches Asylverfahren bekommen. Jeder muss erfahren können, was mit ihm passiert, wie sein Status lautet und was ihn erwartet. Alle besonders Schutzbedürftigen müssen sofort aus den geschlossenen in offene Lager verlegt werden, wo sie angemessen versorgt werden können. Zur Zeit sind viele kleine Kinder und Schwangere in den Lagern, die nachts auf hartem Boden in Zelten schlafen müssen, und Schwerverletzte, die nicht richtig medizinisch versorgt werden.
Was fordern Sie?
Wir appellieren eindringlich an die EU, nicht weiter abzuschieben, bevor diese Maßnahmen umgesetzt wurden. Die Türkei ist definitiv kein sicheres Land, in das man jeden Flüchtling zurückschicken kann. Und die Griechen sind nicht ausreichend auf die Aufgaben vorbereitet, die dieser Deal mit sich bringt.
Haben Sie Hoffnung?
Wir sehen, dass dieser Prozess angelaufen ist. Die Behörden in den Lagern haben uns bereits gesagt, dass ihnen Unterstützung versprochen wurde. Aber diese Versprechungen stehen schon seit einiger Zeit im Raum. Wir haben gehört, dass entweder diese oder nächste Woche wieder Leute zurückgeschickt werden sollen. Angesichts dieser dramatischen Situation muss die EU dringend handeln und den Deal so umsetzen, dass dabei die Menschenrechte gewahrt bleiben.