Quelle: DW
Das provisorische Flüchtlingscamp bekommt immer festere Strukturen. Mehr und mehr Flüchtlinge kommen hierher – auch die Schleuser.
Aus Idomeni berichtet Panagiotis Kouparanis
Es wirkt wie ein Ritual. Jeden Morgen kommen drei, vier Busse nach Idomeni. Sie parken am Anfang der geteerten Straße zum Flüchtlingslager und warten. Am Nachmittag fahren sie wieder weg – meistens leer. Sollten sie einmal einige wenige Passagiere mitführen, dann sind es oftmals Familien, die sich erhoffen, in den staatlichen Flüchtlingscamps der Region bessere Bedingungen vorzufinden. Diese wenigen Abgänge stehen aber in keinem Vergleich zu den vielen Zugängen. Das Flüchtlingscamp breitet sich im Tagesrhythmus nach allen Seiten hin aus. Einzige Barriere ist der mazedonische Grenzzaun. Nicht nur, dass auf immer mehr Feldern Zelte aufgeschlagen werden. Das Lager bekommt zunehmend festere Strukturen – trotz staatlicher Abstinenz.
Stadt ohne Staat
Nichtregierungsorganisationen sorgen für das Essen der Flüchtlinge, für die Ausgabe von Kleidung und Decken, für die medizinische Betreuung. Die ersten Babys sind schon in Idomeni geboren, weitere Frauen stehen kurz vor der Niederkunft, versichert eine tschechische Ärztin. Die Betreuung von Kindern organisieren freiwillige Helfer. Ebenso den Betrieb eines Teehauses für Jugendliche und allabendlich die Disco im Freien mit arabischer Popmusik. Im Lager wird inzwischen ein reger Handel mit Waren betrieben. Flüchtlinge betätigen sich als fliegende Händler. Sie verkaufen Öl, Früchte, Zigaretten, Batterien, Gaskocher.
Für die Sauberkeit des Camps wurden mit Geldern ausländischer Hilfsorganisationen Ortskräfte eingestellt. Darüber hinaus sind immer mehr Toilettenkabinen aufgestellt worden, improvisierte Duschgelegenheiten aus Wellblech, Bretterversschläge oder Stoffe sind zu sehen, aus Ästen wurden Bänke gebaut und an Pflöcken große Planen angebracht, um am Tag darunter Schutz vor der Sonne zu finden. Der Bau der ersten Baracken scheint nur eine Frage der Zeit zu sein. Wenn es soweit kommt, dann wird man von der ersten Favela-Stadt der EU sprechen. Mit geschätzten 13.000 bis 15.000 Einwohnern ist Idomeni zur zweitgrößten Stadt des nordgriechischen Landkreises Kilkis geworden.
Für 1500 Euro nach Westeuropa
Würde man den Angaben der griechischen Regierung glauben schenken, dann hätte sich die Anzahl der Menschen in Idomeni auf knapp 11.300 Menschen gesenkt. Diese Zahl wird von Nichtregierungsorganisationen und griechischen Beobachtern, die sich seit Monaten im Camp aufhalten, als falsch bezeichnet. Man muss allerdings den griechischen Behörden nicht unbedingt eine Täuschungsabsicht unterstellen. Die Zahl, die sie angeben, beruht auf der Anzahl derjenigen, die ins Lager kommen und sich freiwillig bei dem provisorischen Polizeibüro eintragen lassen. Jedoch lassen sich nicht alle registrieren. Zu ihnen gehören die beiden 20-jährigen Ahmed und Abdulhamid aus dem syrischen Homs. Wie fast alle, mit denen man spricht, gehen sie fest davon aus, dass sich irgendwann die Grenzen öffnen werden, man müsse nur lange genug hier ausharren – egal wie lange. Es scheint, als wollten sie nicht den Augenblick verpassen, an dem sich die Grenze wieder öffnet.
In Idomeni auszuharren, kommt für Diana und Anouar aus Aleppo nicht in Frage. Man sei doch nicht nach Europa gekommen, um in Flüchtlingscamps wie die Syrer in der Türkei und im Libanon zu leben, empört sich Diana in flüssigem Englisch. „Unsere Zukunft in Syrien liegt hinter uns, wir wollen uns anderswo eine neue aufbauen“. Wenn es aber wieder Frieden gibt? „Ich bitte Sie, Frieden in Syrien?“ Sie werden auch keinen Asylantrag in Griechenland stellen, das Land habe genug Probleme. Sie wollen auch nicht in das Relocation-Programm der EU aufgenommen werden, nur um dann „nach Ungarn zu kommen.“ Der Westen engagiere sich doch im Bürgerkrieg in Syrien im Namen der Freiheit und der Menschenrechte. Nichts mehr fordert sie auch für ihre Familie ein: in Freiheit zu leben und in einem Land mit stabilen Verhältnisse. Für sie seien das die Niederlanden. Deutschland? Nein, die Stimmung dort für Flüchtlinge sei im Moment nicht gerade die beste. Tatsache ist doch aber, dass die Grenzen nach Europa dicht sind. Nicht für alle, sagt Anouar. Wenn man 5000 Euro aufbringe, dann könne man von der Türkei nach Italien gelangen. Wie auch andere in Idomeni bestätigen, der Tarif für die Schleuser, um über Mazedonien in einen EU-Staat gebracht zu werden, liege bei 1500 Euro. Was werden sie machen? „Lange werden wir in Idomeni nicht bleiben“, sagt Diana.
„Bleibt wo ihr seid“
Dafür werden aber viele andere hier bleiben. Entweder trauen sie sich eine weitere Flucht nicht mehr zu, oder aber, es ist ihnen schlichtweg das Geld ausgegangen. Angesichts der ständig steigenden Temperaturen wird die Situation im Lager immer kritischer. Die zuständige Gesundheitsbehörde von Nordmazedonien spricht von einer „tickenden Bombe“. Man befürchte den Ausbruch von Epidemien. Nach Hepatitis A mehrten sich immer mehr Fälle von Krätze. Als Gründe werden unter anderem Staunässe genannt, verwesende Abfälle, herumliegender Dreck oder auch die Ausgabe von Lebensmitteln „zweifelhafter Qualität“, die von Freiwilligen verteilt werden. Wegen verdorbenem Essen kam es vor einigen Tagen zu einer Protestdemonstration im Camp.
Spätestens an dieser Stelle müsste eigentlich der Staat eingreifen. Doch nichts dergleichen passiert. Es werde keine Gewalt angewendet, man setze auf Überzeugungsarbeit, heißt es von Seiten der Regierung. Doch dafür müssten Behördenvertreter und Dolmetscher nach Idomeni kommen, um dafür zu werben, dass die Flüchtlinge in die staatlichen Lager übersiedeln. Es ist bislang nichts passiert. Dahinter stecke Absicht, vermutet die junge Syrerin Zainab. Man wolle all diejenigen, die nach Europa kommen wollen, demotivieren. Die Botschaft komme an. Mittlerweile würden alle, die sie in Idomeni kenne, ihren Verwandte und Freuden in Syrien raten: „Bleibt, wo ihr seid.“