01. April 2016 · Kommentare deaktiviert für „EU-Flüchtlingsdeal mit der Türkei: Auf den griechischen Inseln droht eine Revolte“ · Kategorien: Europa, Griechenland, Türkei

Quelle: Spiegel Online

In wenigen Tagen tritt das Abkommen der EU mit der Türkei in Kraft: Mehr als 5000 Flüchtlinge sollen von den griechischen Inseln zurückgebracht werden. In den Camps ist mit heftigem Protest zu rechnen.

Von Giorgos Christides, Thessaloniki

Die Stimmung unter den Flüchtlingen in Griechenland ist sehr gereizt. Immer mehr von ihnen geraten auf den überfüllten Inseln in der Ägäis aneinander, Proteste werden lauter. Mehr als 51.000 Migranten sind derzeit hier gestrandet. Sie alle haben wenig Aussicht, ihr Ziel Nordeuropa zu erreichen.

Die Balkan-Route ist geschlossen. Dazu hat die Europäische Union einen umstrittenen Deal mit Ankara geschlossen: Demnach soll die Türkei alle Flüchtlinge wieder zurücknehmen, die auf den griechischen Inseln ankommen. Im Gegenzug soll die EU für jeden abgeschobenen Syrer einen syrischen Flüchtling aus türkischen Camps aufnehmen. Ab Montag sollen die Transfers starten.

Damit sind die Flüchtlinge nun in zwei Gruppen geteilt:

  • Auf der einen Seite diejenigen, die vor dem 20. März europäischen Boden betraten, bevor also der Plan zwischen der Türkei und der EU vereinbart wurde. Sie wurden in Hotspots registriert, erhielten vorübergehendes Aufenthaltsrecht und wurden zum Festland gebracht. Die meisten von ihnen sind nun in Idomeni, Piräus oder in einem der neu eingerichteten Camps. Sie können sich frei bewegen – und hoffen, dass die Grenze wieder geöffnet wird.
  • Das gilt aber nicht für diejenigen, die nach dem 20. März kamen: Sie sollen zurück in die Türkei gebracht werden. 5300 Menschen gehören in diese Kategorie. Sie stehen unter Arrest, obwohl die meisten von ihnen vom Profil her klar als Flüchtling definiert werden könnten. Sie bleiben inhaftiert, bis ihr Status geklärt ist.

Zoff zwischen Afghanen und Syrern

Entsprechend steigt die Verzweiflung unter den Migranten. In der Nacht zum Freitag gerieten Flüchtlinge und Polizei in Chios aneinander. Laut Medien vor Ort wurden dabei zwei Menschen verletzt. Zuvor hatten einige das Vorhängeschloss am Eingang des Hotspots aufgebrochen.

Auch am Mittwochabend gerieten afghanische und syrische Flüchtlinge in Piräus aneinander. 6000 Menschen leben in dem dortigen Übergangslager. Auf Fotos ist zu sehen, wie sie sich mit Steinen bewerfen, mindestens acht Menschen wurden verletzt. Der Auslöser scheint nebensächlich zu sein: Einige berichten von einer syrischen Frau, die von einem Afghanen belästigt wurde, andere von einem Streit zwischen Kindern.

Zuvor hatten etwa 2000 Flüchtlinge in Athen demonstriert. Sie forderten offene Grenzen, einige von ihnen verbrannten die europäische Flagge.

In Idomeni, der Zeltstadt an der griechisch-mazedonischen Grenze, bleibt die Situation angespannt. Noch immer halten sich dort mehr als 11.000 Menschen auf, obwohl die griechische Regierung sie zum Umzug in organisierte Camps bringen wollte. In Idomeni wird um den Zugang zu Stromquellen oder Lebensmittelrationen gestritten.

Laut einem Bericht der griechischen Zeitung „Kathimerini“ wird die Polizei vor Ort gestärkt: 150 Beamte werden demnach nach Lesbos, Samos, Chios, Leros und Kos geschickt. Weitere 105 sollen von Kiklis aus ihre Kollegen in Idomeni unterstützen.

Scharfe Kritik von Syriza-Mitgliedern

Der Deal mit der Türkei verändert aber auch die Politik der griechischen Syriza-Regierung. Monatelang wurde wenig getan, um die Migranten von ihrem Transit in Richtung Norden abzuhalten – eine Mischung aus Berechnung und Ideologie.

Das neue Vorgehen ist für einige Abgeordnete der linksgerichteten Regierungspartei nicht nachvollziehbar. Auch Syriza-Politiker auf Lesbos übten scharfe Kritik. Dort waren zwei Migranten in Handschellen abgeführt worden, um zur medizinischen Behandlung gebracht zu werden. Für die linken Politiker ein „unfassbarer“ Vorgang.

Laut griechischen Behörden wollen rund Tausend Menschen im Moria-Camp auf Lesbos Asyl beantragen. Doch wie lange werden sie darauf warten müssen? Ein neues Gesetz zur Umsetzung des Türkei-Deals, das am heutigen Freitag vom griechischen Parlament beschlossen werden soll, verspricht schnellere Verfahren. Innerhalb einer Woche soll dann über Erfolg oder Misserfolg der Asylanträge geurteilt werden. Auch über eine Anfechtung soll dann innerhalb einer Woche entschieden werden.

Ist das machbar, realistisch? Im Moment definitiv nicht. In Lesbos etwa wickeln weniger als zehn Mitarbeiter die Asylgesuche ab. 2500 EU-Mitarbeiter sollen die Arbeit beschleunigen. Bisher kamen laut den griechischen Asylbehörden jedoch „nicht mehr als ein paar Dutzend“ von ihnen an. Und bevor sie auf den griechischen Inseln stationiert werden, sollen sie intensiv geschult werden. Was also konkret am Montag passiert, ob die ersten Flüchtlinge zurückgeschickt werden, kann im Moment niemand genau sagen.

Bleibt noch die Frage, wie sicher die Türkei überhaupt für Flüchtlinge ist. In dem Gesetz, über das Athen nun abstimmt, wird die Türkei nicht als sicheres Drittland erwähnt. Es gebe keine Notwendigkeit dazu, die Türkei als sicher zu erklären, sagte ein Vertreter der griechischen Regierung SPIEGEL ONLINE. „Was wir brauchen, sind verbesserte Asylrechte und bessere Bedingungen in der Türkei.“ Wenn alles vorbereitet sei, würden alle Asylanträge untersucht und Fall für Fall entschieden werden. „Dabei wird dann entschieden, ob sie in der Türkei sicher sind oder nicht.“

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siehe auch: Telepolis

Flüchtlinge: Die Lage in Griechenland spitzt sich zu

In den Aufnahmelagern wird die Situation explosiv. In der Öffentlichkeit rücken wirtschaftliche Probleme und Sorgen der Anwohner in den Vordergrund

Wassilis Aswestopoulos

Die in Griechenland festsitzenden Flüchtlinge und Migranten sehen sich gleich mehrfach einem Countdown ausgesetzt. Sie wollen eigentlich das Land so schnell wie möglich in Richtung Norden verlassen. Tatsächlich droht vielen jedoch mit dem Monatsanfang zuerst die Abschiebung in die Türkei, falls diese ihre Vereinbarung mit der EU umsetzen will und kann.

Zusätzlich dazu möchte die Regierung Tsipras die wilden Lager im Land auflösen. Laut des Vorsitzenden der Koordinationsgruppe für Flüchtlinge, Dimitris Vitsas, sollen die Lager in Idomeni an der Grenze und in Piräus innerhalb von fünfzehn Tagen geräumt sein. In und um Idomeni befanden sich am 31.3. gegen 8 Uhr 11.324 Personen im Camp. In Piräus leben 5.750 Menschen in Zelten und Wartesälen im Hafengelände. Insgesamt wurden in den Camps im gesamten Land 51.393 Flüchtlinge und Immigranten gezählt.

Die Regierung will räumen

Vitsas antwortete am Donnerstag in einem Interview auf die Frage, ob es einen konkreten Zeitplan gebe:

Ja, wir haben eine Deadline. Die Evakuierung kann nicht länger als 15 Tage dauern. Das bedeutet, dass die Überzeugungsarbeit von hochrangigen Regierungsvertretern in Idomeni weiter verstärkt wird. Wir hatten eine Besprechung in Piräus mit den Organisationen, die kooperativ sind. Wir werden heute von Piräus aus 400 bis 1.000 Menschen, hauptsächlich Flüchtlinge, abtransportieren können. Das erste Anliegen ist es, die Flüchtlinge zu überzeugen. Das zweite, die Elemente, welche Fehlinformationen aus eigenem finanziellem oder ideologischem Interesse streuen, zu entfernen.

Gemeint sind die Schleuser. Aber Vitsas sprach im Interview auch kritisch über freiwillige Helfer und Aktivisten, die weiterhin für offene Grenzen in Europa und gegen eine Trennung der Menschen in Flüchtlinge und Immigranten sind.
Diesem Credo, das im Januar und auch noch im September 2015 zum Wahlprogramm von Syriza gehörte, hat die Regierung mittlerweile abgeschworen. Es gibt jedoch auch noch innerhalb der linken Partei Widerstand gegen diesen Schwenk.

Die so genannte Gruppe 53+, zu deren prominenten Vertretern die ehemalige Immigrationsministerin und jetzige Parlamentsvizepräsidentin Tasia Christodoulopoulou, aber auch Finanzminister Euklid Tsakalotos gehören, hat in einem Manifest angekündigt, gegen Teile des am Donnerstag im Eilverfahren ins Parlament gebrachten Gesetzesentwurfs für die Regelung von Flüchtlingsfragen zu stimmen.

Tritt das beabsichtige Gesetz in Kraft, so werden zahlreiche frühere Gesetze ungültig und neue Regeln für das Asylrecht eingeführt. Der Entwurf beziffert die Kosten für das Land durch die zusätzlichen gesetzlichen Regelungen auf jährlich 110 Millionen Euro. Im Prinzip geht es um die gesetzliche Umsetzung der Vereinbarung der EU mit der Türkei.

Widerstand innerhalb von Syriza

Die 53+ sind der linke Flügel der Partei. Sie monieren, dass Teile der Vereinbarung mit der EU internationales Recht verletzten würden. So sei eine korrekte Bearbeitung eines Asylverfahrens innerhalb der im Gesetz vorgeschriebenen zwei Wochen nicht möglich. Zudem sei die Türkei nicht als sicheres Drittland anzusehen.

Darüber hinaus bemängeln die Linken innerhalb des Syriza, dass die geplanten bewachten Lager Gefängnissen ähnlich seien, somit den Menschenrechten der Flüchtlinge nicht gerecht würden. Als Affront wird empfunden, dass die Bewachung der Lager privaten Sicherheitsfirmen übertragen werden soll. Im Personal dieser Firmen vermuten die 53+ in ihrem Manifest vor allem Anhänger und Parteimitglieder der Goldenen Morgenröte.

Für einen zusätzlichen faden Beigeschmack bei Syriza-Abgeordneten von den mit Hotspots für die ankommenden Flüchtlinge versehenen Inseln sorgt zudem eine Affäre um die Vergabe von Aufträgen für die Versorgung der Menschen. Der Verteidigungsminister und Koalitionspartner Panos Kammenos hat auf keiner der Inseln lokalen Anbietern ermöglicht, einen Auftrag zu ergattern.

Stattdessen gingen die lukrativen Aufträge an ortsfremde große Unternehmen. Die Abgeordneten mahnen an, dass es sinnvoller wäre, den Inselbewohnern, deren touristische Unternehmen durch die Flüchtlingsproblematik erheblich gestört werden, zumindest über derartige Aufträge einen Ausgleich zu geben.

Bauern in Idomeni wollen protestieren

Auf solch einen mehrfach versprochenen Ausgleich warten die Bauern vom Grenzort Idomeni seit langem. Einer von ihnen versuchte am Donnerstag im Alleingang sein Problem zu lösen. Der Mann, Lazaros Oulis, setzte sich auf seinen Traktor und begann sein Feld in Idomeni zu pflügen. Die dort in Zelten campierenden Flüchtlinge wollte er auf diese Weise verscheuchen.

Oulis hatte bis vor kurzem in einer Kantine im Lager gearbeitet. Er selbst bestreitet, Inhaber der mittlerweile geschlossenen Kantine, welche täglich 3.000 belegte Brötchen zu je 2 Euro an die Flüchtlinge verkaufte, zu sein. Er besitzt 72.000 Quadratmeter Ackerland, das komplett mit Zelten gefüllt ist.

Weil er dafür besteuert wird und weil er auf den Feldern Mais für seine Rinderherde anbaut, sieht sich Oulis vom Staat benachteiligt und durch die Flüchtlinge in seiner Existenz bedroht. Vorläufig brachte die Polizei ihn von seinem Vorhaben ab. Allerdings organisiert Oulis nun einen Aufstand aller Bauern von Idomeni. „In ein paar Tagen wird hier alles brennen“, rief er in die Kameras der Fernsehnachrichten.

Explosive Situation in den Lagern

Nicht mit Feuer, aber mit Messern und Steinen traktieren sich regelmäßig Syrer und Afghanen in den Lagern. In Piräus wurden am Mittwochabend bei einer dieser Auseinandersetzungen acht Menschen teilweise schwer verletzt. Der Streit begann angeblich, weil ein Afghane die Ehefrau eines Syrers belästigte. Der Ehemann bekam das mit und in Windeseile rauften sich die beiden Volksgruppen in den Passagierterminals E 1 und E2.

Auch vor diesem Hintergrund fanden sich am Donnerstag zahlreiche Syrer, die das Angebot der Regierung zur Abreise in andere, staatliche und bewachte Lager annahmen. Freiwillige Helfer vor Ort bezweifeln jedoch, dass die Menschen dort lange bleiben werden. Sie rechnen mit einer baldigen Rückkehr.

Tatsächlich kommen einige wieder zurück. Denn nicht alle staatlichen Lager sind so gut ausgestattet, wie die seit Jahren leerstehende Ferienhausanlage LM Village in Myrsini. Dort hat der aus Syrien stammende Bürgermeister Nabil Iosif Morand mit einem Beschluss der Stadtgemeinde Platz für 38 Familien geschaffen.

In anderen Lagern wie in Veria oder Larissa schlägt den Flüchtlingen zudem der Unmut der Einheimischen entgegen. Sie sind nicht überall gern gesehen. Die Einheimischen fürchten sich vor einer Gewalt- und Verbrechenswelle, die sie mit der Ankunft der Flüchtlinge in Verbindung bringen.

Die Tatsache, dass die Polizei nun Sonderkommissionen für die offenbar zahlreichen Vergewaltigungen von Flüchtlingsfrauen durch einige der übrigen Flüchtlinge eingerichtet hat, wirkt in diesem Zusammenhang alles andere als beruhigend bei den aufgebrachten Gemütern der Provinzbewohner. Die Polizeidirektionen des Landes haben die Beamten dazu angewiesen, – außer bei Familien – auf eine Geschlechtertrennung zu achten und auch ohne direkte Anzeige zu ermitteln, wenn ihnen etwas verdächtig erscheint.

Zu den weiteren Tätigkeiten der Polizei gehört die verstärkte Beobachtung von Aktivisten. Sowohl aus den Worten Vitsas als auch aus Artikeln in Teilen der Presse ist zu entnehmen, dass einige Aktivisten verdächtigt werden, die Flüchtlinge und Migranten zum Aufruhr oder, wie am Mittwoch zu Demonstrationen anzustacheln. Unter Mithilfe von Studentenverbänden und antifaschistischer Gruppen gelang es am Mittwoch knapp 2.000 Immigranten und Flüchtlingen die Innenstadt Athens für drei Stunden zu blockieren.

Die gern plakativ titelnde griechische Presse, wie zum Beispiel Proto Thema, schreibt sogar davon, dass die Immigranten „einen Schritt vom Beginn eines Aufstands“ entfernt sind.

Hilfsorganisationen und Mitarbeiter ziehen ab

Allerdings mischen sich vermehrt auch besonnenere Menschen unter die Mahner. Der örtliche Vorsitzende der Hilfsorganisation „Ärzte der Welt“, Nikitas Kanakis, wandte sich mit einem Appell an die Öffentlichkeit. Er meint „wir haben jeden Abend einen Fight Club in den Lagern der Flüchtlinge“.

Kanakis bittet die Regierung inständig darum, ihr Hauptaugenmerk auf den Hafen von Piräus zu legen. Einige Hilfsorganisationen oder Verbände von Freiwilligen ziehen bereits aus den wilden Lagern ab. Nikos Razis Koudounis, ein Arzt des griechischen Roten Kreuzes, weigert sich gar, noch einmal in Piräus einen Einsatz anzutreten, wenn der Staat dort nicht mehr Präsenz zeigt.

Weil zudem auch ausländische Unternehmen wegen der Blockade der Eisenbahnanbindung Griechenlands ans übrige Europa mit dem Abzug aus dem Land und mit der Forderung von Kompensationszahlungen drohen, ist zu erwarten, dass in den nächsten Tagen ein verstärktes Eingreifen der Regierung in den wilden Lagern im Land zu erwarten ist.

Der Tenor der einheimischen Presse berichtet zudem immer intensiver über die durch Flüchtlinge verursachten Probleme der Wirtschaft und der Anwohner der Lager als über das Elend der Flüchtlinge.

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