03. Februar 2016 · Kommentare deaktiviert für „Griechenland Keine Kontrolle über die Außengrenzen“ · Kategorien: Europa, Griechenland, Türkei · Tags: , ,

Quelle: FAZ

Europäische Beamte kontrollieren die griechische Grenzpolizei. Das Ergebnis ist verheerend. Selbst der Chef der Terrormiliz IS hätte unbehelligt nach Europa reisen können.

von Thomas Gutschker

Die europäischen Kontrolleure kamen am 10. November. Sie prüften auf Herz und Nieren, wie Griechenland seine Außengrenze sichert, die zugleich die Außengrenze aller Staaten im Schengen-Raum ist. Sie besuchten zwei Inseln direkt vor der türkischen Küste und die Landgrenze zur Türkei. Unangekündigt, wie es das Regelwerk für die Schengen-Staaten vorsieht. Als sie wieder fuhren, war Freitag, der 13. November. Der Tag, an dem in Paris Terroristen 130 Menschen töteten. Schnell kam heraus, dass zwei Attentäter über Griechenland eingereist waren, getarnt als Flüchtlinge. Was muss da in den Kontrolleuren vorgegangen sein? Sie kannten zwar nicht die Einzelfälle, aber sie hatten drei Tage lang erlebt, welche Zustände an griechischen Grenzposten herrschen.

Kurz gesagt: Selbst Abu Bakr al Bagdadi, der Terrorchef des „Islamischen Staats“, hätte unbehelligt griechischen Boden betreten können. Griechischen Grenzbeamten sei „das Phänomen ausländischer terroristischer Kämpfer nicht geläufig“, schrieben sie später in ihrem Bericht. Es habe keinerlei „Risikoanalyse“ gegeben; offenbar war den Griechen nicht einmal das Konzept geläufig. Auch was die Kontrolleure sonst noch beobachteten, hatte mit „Grenzschutz“ nur entfernt zu tun.

Seit einer Woche liegt der Bericht vor, intern, er wird nicht veröffentlicht. „Griechenland vernachlässigt in schwerwiegender Weise seine Verpflichtungen zur Kontrolle der Außengrenzen“, resümieren die Prüfer. Der Satz hat gravierende Folgen. Er löst erstmals ein Verfahren aus, mit dem ein Staat bis zu zwei Jahre faktisch aus dem Schengen-Raum ausgeschlossen werden kann. Die EU-Kommission hat den Prüfbericht an diesem Dienstag angenommen und fünfzig Empfehlungen ausgesprochen, wie die Missstände zu beheben sind. Die Mitgliedstaaten werden dem in Kürze zustimmen. Den Griechen bleiben dann drei Monate Zeit, um es besser zu machen – andernfalls können die Staaten im Mai Grenzkontrollen verlängern oder neu einführen. Die Innenminister haben sich schon darauf eingestellt. Und das wohl zu Recht, denn die Mängel im Bericht lassen sich nicht im Handumdrehen beseitigen. Sie verweisen auf tiefer liegende Schwächen der griechischen Verwaltung.

Der Scanner war kaputt, die Griechen nahmen keine Fingerabdrücke

Die Probleme beginnen mit der Überwachung der Seegrenze. Das ist in der Ägäis besonders wichtig, denn mehrere Inseln liegen in Sichtweite der türkischen Küste. Deshalb setzen Migranten dort über, deshalb blüht das Geschäft der Schlepper. Eine halbe Stunde mit dem Schlauchboot – und schon ist die EU erreicht. Mehr als 850 000 Menschen wählten diesen Weg im vergangenen Jahr. Der Hauptdruck lastet auf fünf Inseln. Zwei von ihnen nahmen die Prüfer genauer unter die Lupe: Chios und Samos.

Es sind Dramen, die sich dort Nacht für Nacht abspielen. Doch davon bekommen nur jene Beamten etwas mit, für die es auch ein Schiff gibt – zwei Patrouillenboote auf Chios, drei auf Samos, dazu noch ein Schnellboot. Viel zu wenig, wie die Prüfer meinen. Die Beamten in den Inselstationen können nur jene Schiffe sehen, die mit einem Erkennungssignal fahren – auf einer Seite im Internet. So erkennen sie zwar die reguläre Fähre, leider aber nicht Boote von Schleusern und Schmugglern. Die schalten nämlich ihren Transponder aus. Die griechischen Streitkräfte haben ein besseres Überwachungssystem. Jedoch bekommt die Küstenwache keinen Zugang dazu.

Nehmen wir mal an, den griechischen Grenzschützern fällt trotzdem etwas Verdächtiges am türkischen Ufer auf – zum Beispiel, dass gerade ein Dutzend Schlauchboote auf den Strand gelegt werden. Dann könnten sie doch die Türken zu Hilfe rufen! Genau, aber sie müssten schon sehr laut rufen. Es gibt nämlich keine direkte Funkverbindung, nicht einmal zwischen Schiffen im Rettungseinsatz. Der Dienstweg sieht so aus: Die Griechen rufen ihr Hauptquartier in Athen an, und dort ruft jemand den Verbindungsoffizier im Hauptquartier der türkischen Küstenwache an. Falls es dann irgendwann bei den örtlichen Kräften klingelt, ist eines gewiss: Die Schiffe sind längst fort.

Es muss den griechischen Beamten vor ihren Monitoren jeden Morgen wie ein Naturereignis erscheinen, wenn wieder ein paar hundert oder tausend Menschen über Nacht eingetroffen sind. Die Migranten müssen sich dann registrieren lassen. Die Griechen sollen dafür Ausweise prüfen oder Personalien aufnehmen. Sie sollen Fingerabdrücke scannen, sie in die Eurodac-Datei überspielen – die zentrale Datei für Flüchtlinge – und alles mit anderen Fahndungsdateien abgleichen. Betonung auf sollen. Denn auf Chios zum Beispiel fanden die Prüfer vier Scanner, von denen zwei kaputt waren. Die beiden anderen konnten mangels Internetverbindung nicht genutzt werden. Also wurden gar keine Abdrücke erfasst.

„Zur Zeit des Besuchs war der Polizeibeamte im Jahresurlaub“

In einer anderen Registrierungsstelle wurde dagegen analog gearbeitet: mit Tinte und Papier. Mit zehn Tagen Verzögerung scannten die Beamten die so erstellten Abdrücke dann ein und luden sie in ein griechisches Polizeisystem hoch. Da waren die Besitzer der Finger vermutlich schon in Österreich. Blöd auch für die Beamten: Sie hätten gerne den einen oder anderen Abdruck wiederholt, weil er unlesbar war. An einen Datenabgleich in Echtzeit war unter diesen Umständen erst gar nicht zu denken – in keiner der Registrierungsstellen.

Dieser Abgleich ist aber das A und O, um Verdächtige herauszufiltern. Personen, die zur Fahndung oder Beobachtung ausgeschrieben sind, finden sich im System von Interpol und im Schengener Informationssystem. Dort ist auch hinterlegt, wer nicht in die EU einreisen darf – zum Beispiel, weil er nach einer Ausweisung nicht freiwillig in seine Heimat zurückgekehrt ist. Sogar gestohlene oder gefälschte Pässe werden erfasst. Das ist wichtig, wie der Fall der beiden Pariser Terroristen zeigt, die sich Anfang Oktober auf Leros als Flüchtlinge meldeten. Die Männer zeigten Pässe vor, die dem IS bei der Eroberung von Raqqa in die Hände gefallen waren. Die Angaben zur Person waren frei erfunden. Doch die Passnummern waren von der Bundespolizei im Schengen-System hinterlegt worden. Ein Scan, ein Datencheck – und die griechischen Beamten hätten allen Grund gehabt, sich die Männer genauer anzusehen.

Allerdings scheint Ausweiskontrolle nicht die Stärke griechischer Beamten zu sein. Das fiel den EU-Prüfern in den Häfen auf, wo Fähren aus der Türkei anlegen, oft mit Touristen auf Tagestour. Deren Passnummern werden von den Fährgesellschaften vor der Ankunft übermittelt, damit sie schon mal überprüft werden können. Im Hafen von Samos gab es genau einen Beamten, der dafür ausgebildet war. Die Prüfer notierten: „Zur Zeit des Besuchs war der
Polizeibeamte im Jahresurlaub.“

Türken brauchen ein Visum, wenn sie in die EU einreisen wollen. Flüchtlinge bekommen in den Registrierungsstellen eine Aufenthaltsbescheinigung. Syrer dürfen sechs Monate bleiben; die anderen Nationalitäten nur einen Monat. Mit der Bescheinigung können sich alle Migranten ein Fährticket nach Athen kaufen. Nur dort könnten sie Asyl beantragen. Allerdings will kaum jemand in Griechenland bleiben – und die Behörden versuchen auch gar nicht erst, daran etwas zu ändern. Informationen gibt es auf den Inseln nur von Hilfsorganisationen, Unterkunft für ein oder zwei Nächte gewährt das UN-Flüchtlingshilfswerk. Alles ist auf schnelle Weiterreise angelegt. Kein einziger Migrant sei je direkt von einer griechischen Insel in seine Heimat zurückgeführt worden, heißt es im EU-Bericht.

An der Landgrenze zwischen der Türkei und Griechenland fanden die Prüfer geordnetere Zustände vor. Dort bildet der Fluss Evros eine natürliche Barriere. Wo das nicht so ist, steht ein vier Meter hoher Metallzaun mit Stacheldraht, alles videoüberwacht. Da kommen weniger Flüchtlinge unentdeckt durch. Es sei denn, sie kennen einen kleinen Übergang in der Pampa. Dort werden Autos nämlich nicht überprüft, nur der Fahrer muss in einer Kontrollstelle seinen Ausweis zeigen. Als die EU-Leute auf diese Schwachstelle hinwiesen, antworteten die Grenzbeamten, sie würden systematischer kontrollieren, sobald Kämpfer aus Konfliktzonen zurückkehrten. Aber woher die Grenzer das im Voraus wissen, blieb ihr Geheimnis.

So stellte sich die Lage also Mitte November dar. Seitdem hat sich manches getan, weil die EU-Kommission den Griechen unter die Arme greift. Ein Team des „Dienstes zur Unterstützung von Strukturreformen“ ist seit Anfang Januar im Einsatz. Der Dienst soll den Aufbau der „Hotspots“ vorantreiben – Registrierungszentren auf den Inseln, von denen aus Flüchtlinge dann auf die Mitgliedstaaten verteilt werden. Auf Lesbos, Leros und Chios wird daran gearbeitet, auf Samos und Kos noch nicht. Die Kommission hilft den Griechen außerdem mit neunzig Fingerabdruckscannern. Die EU-Grenzschutzbehörde Frontex hat zusätzlich Beamte auf die Inseln entsandt, die bei der Registrierung helfen. Und die Vereinten Nationen schaffen weitere Schlafplätze. Denn die Umverteilung kann nur klappen, wenn Flüchtlinge nicht auf eigene Faust weiterziehen.

Die Zustände an den griechischen Grenzen sind erschreckend. Trotzdem wollen alle Akteure Athen helfen. Nicht nur, weil langfristige Kontrollen an den EU-Binnengrenzen hohe Kosten verursachen. Sondern auch, weil Griechenland weiter Migranten anzieht. Ob die Griechen nun zur EU und zum Schengen-Raum gehören oder nicht – ihre geographische Lage bleibt.

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