29. November 2015 · Kommentare deaktiviert für „Die Jahrhundertchance“ · Kategorien: Deutschland · Tags:

Quelle: Zeit Online

Kann der Flüchtlingsstrom zum Wirtschaftswunder werden?

Von Uwe Jean Heuser

Gut fünfzehn Jahre ist es her. Kurz vor der Jahrtausendwende boomte die New Economy, und in Deutschland fehlten Computerexperten. Also verfielen Industrielobbyisten und die rot-grüne Regierung auf die Idee, eine sogenannte Green Card für „Computer-Inder“ anzubieten. Das Programm war ein Desaster, weil die Manager und Politiker dachten, Deutschland müsse nur rufen, und schon kämen die armen Asiaten angerannt. Die deutschen Herren in Grau und Blau irrten sich gewaltig. Es kamen ein paar Osteuropäer, viel mehr nicht. Konservative Politiker hätten sich fremdenfeindliche Parolen wie „Kinder statt Inder“ schenken können. Die Deutschen bekamen wenig Kinder und noch weniger Inder.

Kein Wunder. Die deutsche Green Card war eine Zumutung. Für fünf Jahre sollten die Drittweltgenies kommen, nicht länger. Sie durften sich entwurzeln für die einmalige Chance, Deutschland aus einer vorübergehenden Mangelsituation herauszuhelfen – und dann mal sehen. Später ging das Programm im neuen Zuwanderungsgesetz auf, aber viele Entscheidungsträger haben es immer noch nicht kapiert: Flucht und Migration geschehen meist nicht auf planwirtschaftlichen Befehl hin, sondern kommen als Wellen, chaotisch, überraschend, veränderlich.

Deshalb hatte Angela Merkel den richtigen Instinkt, als sie die gegenwärtigen Flüchtlinge aus dem Osten und Süden willkommen hieß. Aus menschlichen, aber auch wirtschaftlichen Erwägungen: Sie sind eine Jahrhundertchance für die Volkswirtschaft. Wenn es gut läuft, verjüngen sie das Land, gründen Unternehmen wie viele Migranten in anderen Ländern auch, teilen Ideen, tragen neue Perspektiven in Unternehmen und Gesellschaft. Doch all das geschieht nicht von selbst. „Wir schaffen das“ ist ein hübscher, aber irreführender Satz. „Wir müssen es schaffen, dass sie etwas schaffen“ trifft die Sache schon eher. Diese Aufgabe zu lösen verlangt, dass viele über ihren Schatten springen, viel investiert und viel Geduld aufgebracht wird.

Besser, Deutschland fängt gleich damit an. Je eher die Flüchtlinge eine Chance erhalten zu arbeiten, desto seltener verlieren sie ihre Motivation und gewöhnen sich an ein Dasein in Perspektivlosigkeit. Die Amsterdamer Soziologieprofessorin Halleh Ghorashi hat das im Jahr 2009 in einer Studie über Flüchtlinge in den Niederlanden demonstriert. Die Quintessenz hat sie jüngst wiederholt: „Die ersten Jahre sind entscheidend in ihrer Integration.“ Die meisten wollten die üblen Erfahrungen in ihrer alten Heimat hinter sich lassen, damit nicht ihr ganzes Leben davon überschattet wird. „Es ist wichtig, dass sie die Sprache lernen können, echte Verbindungen mit den Einheimischen im neuen Land haben – und dass sie arbeiten. Arbeit ist tatsächlich der Kern, um ein neues Leben aufzubauen. Und in den ersten Jahren ist die positive Energie am größten.“

Die Regierenden sollten schnell die wirtschaftlichen Weichen stellen, wie Deutschland es an den großen Wendepunkten der vergangenen Jahrzehnte frühzeitig hätte tun sollen. Immer wieder hat die Politik große Ereignisse herbeigeführt, ohne die wirtschaftlichen Konsequenzen zu ziehen. Bei der deutschen Einheit wurde das besonders sichtbar: Das Sozialwesen wurde überlastet, das Land erstarrte, und erst ein Jahrzehnt später bahnte die Agenda 2010 unter riesigen Spannungen den Weg zu neuen Jobs und neuer Dynamik. Ähnlich wie bei der Energiewende, als die Kanzlerin zwar das Zeitalter der erneuerbaren Energien verkündete, aber die entscheidenden Weichen ungestellt ließ. Also streiten die Länder heute noch über Stromleitungen, halten sich Investoren zurück, weiß die Wirtschaft nicht, wie es weitergeht.

Auch der Euro ist ein Beispiel für diese „Wir entscheiden jetzt und handeln später“-Haltung. Schon als es losging, wurde gewarnt, dass eine gemeinsame Währung ohne gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik scheitern könnte. Und doch hat man die Einsicht zehn Jahre lang ignoriert – und tut sich jetzt so schwer, weil in der Krise jeder einzelne Mitgliedsstaat der EU vor allem an sich selber denkt.

Die Lehre lautet: Je früher das Land reagiert, desto größer der Nutzen. Doch die Ökonomen tun das, was sie am liebsten tun, sie streiten. Marcel Fratzscher, Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, ist optimistisch: Die Flüchtlinge würden die Volkswirtschaft beflügeln, und schon in wenigen Jahren könne das neue Wachstum die zusätzlichen Sozial- und Bildungslasten übersteigen. Clemens Fuest, Präsident des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung, widerspricht. Für ihn kommt es darauf an, wie gut die Neuen im Land ausgebildet sind, und leider seien die Ingenieure aus Bagdad und die Ärzte aus Kabul die Ausnahme. Die meisten Flüchtlinge hätten keine Qualifikation und würden deshalb Deutschland lange zur Last fallen. Während Fratzscher zu hohen Investitionen für die Flüchtlinge rät, will Fuest die Grenzen verstärken.

Dieser Streit, ausgetragen im Handelsblatt, ist nur ein Beispiel. Die einen unterstreichen die niedrige Qualifikation der Flüchtlinge, die anderen ihre Jugend und Motivation. Eines bestreitet aber keine Seite: Was die Politik jetzt unternimmt, wird die Kosten-Nutzen-Rechnung verändern und darüber entscheiden, ob ein neues Heer von Langzeitarbeitslosen entsteht, denen das Land fremd bleibt, oder ob die alternde Bevölkerung sich verjüngt und der Wirtschaft dadurch neue Kraft verleiht. Und auch das würden die allermeisten Ökonomen unterstreichen: Es hat keinen Zweck, die Neuen von den Alten abzuschotten, sie in eigens geförderten Arbeitsmarktghettos einzusperren und auf diese Weise herkömmliche Jobs zu verdrängen. Die Flüchtlinge müssen sich der Herausforderung des Marktes stellen, genauso wie die Deutschen sich der Herausforderung durch die Flüchtlinge stellen müssen.

Aus alldem entsteht eben doch eine Agenda für Deutschland, ergeben sich Antworten auf die Fragen, wer kommen soll, wie die Neuen ausgebildet werden und arbeiten können – und wer die Milliardenrechnung begleicht, die unweigerlich anfällt.
Idee des Asyls und eine aufgeklärte Einwanderungspolitik miteinander verbinden

1. Ökonomie und Humanität verbinden

Das Einfache, das Menschliche zuerst: Wer zu Hause verfolgt wird und in der Ferne einen Zufluchtsort sucht, darf bleiben. Doch unter den Menschen, die gegenwärtig nach Deutschland strömen, suchen viele auch nur nach einem besseren Leben. Und wenn man die Argumente der Fratzschers und Fuests zusammendenkt, sollte die Bundesrepublik nicht alle Wirtschaftsflüchtlinge nach Hause schicken, sondern denen ein Bleiberecht gewähren, die gut ausgebildet sind, lernfähig, unternehmungsfreudig.

Deutschland sollte die Idee des Asyls und eine aufgeklärte Einwanderungspolitik miteinander verbinden, statt wie bisher daraus zwei verschiedene Welten zu machen. Die Botschaft: Wer erfolglos Asyl beantragt, kann im wirtschaftlichen Sinne trotzdem willkommen sein. Er kommt dann aus wirtschaftlichen Gründen (seinen eigenen) und bleibt aus wirtschaftlichen Gründen (denen der Bundesrepublik). Dafür gab es früher keinen Konsens im Land, weil „wirtschaftliche Gründe“ entweder als unfein galten oder als Wunsch verstanden wurden, sich in die deutsche Hängematte zu legen. Doch das wissen Linke und Konservative mittlerweile besser.

Der Staat muss also differenzieren, sonst geschieht das Absurde, dass er ökonomisch willkommene Migranten abschiebt – nur um sie zwei, drei Jahre später als „qualifizierte Einwanderer“ extra wieder anzulocken. Moderne Software und das Wissen der Soziologen und Ökonomen können helfen, unter den Neuen zu differenzieren. Das Argument, wenn Deutschland dieses Tor öffne, kämen noch mehr Flüchtlinge, sticht nur, wenn sich keiner traut, Menschen ohne Asylgrund abzuschieben.

So eine Differenzierung schafft dann tatsächlich Wohlstand, wie der Ökonom Fuest deutlich macht: Unzureichend qualifizierte Migranten kosten demnach Geld, im Schnitt der gegenwärtigen ausländischen Bevölkerung 125 Euro pro Jahr, ein hoch qualifizierter Zuwanderer aber entlastet Deutschland um 1000 Euro. Zudem, so erklärt es die Kreditanstalt für Wiederaufbau, gründen Migranten mehr Unternehmen, „als es ihrem Anteil an der Bevölkerung entspricht“. Das gilt umso mehr, wenn die wirtschaftlichen Talente kommen, wie die Vereinigten Staaten zeigen: Dort hätten Migranten und ihre Kinder mehr als 40 Prozent der größten 500 Unternehmen im Land gegründet, hat die liberale Initiative Partnership for a New American Economy ermittelt. Intel, eBay, Tesla – sie alle gehören dazu.

Es wird also Zeit, Humanität und Ökonomie zu verbinden. Wer dagegen alle Flüchtlinge abwehren oder alle aufnehmen will, wird die große Chance, die der Strom der nach Deutschland strebenden Menschen mit sich bringt, nicht wahrnehmen können.
Ausbildung von Flüchtlingskindern

2. Die besten Lehrer zu den Flüchtlingen schicken

Die Boston Consulting Group hat es schon im Jahr 2009 vorgerechnet: Der Staat kann sein Geld nicht besser anlegen als in Migrantenbildung. Mit fünf bis zehn Milliarden Euro im Jahr könne man die Wertschöpfung im Land um das Dreifache vergrößern, rechneten die Berater vor. Das gilt heute wohl so sehr wie damals. Deutschkurse, schnelle Aus- und Weiterbildung, fast alles lohnt sich – und nichts so sehr wie guter Schulunterricht.

Der Harvard-Ökonom Raj Chetty hat mit Kollegen untersucht, wie ein einziger guter Lehrer das Leben von Kindern beeinflussen kann. Aus Schulstatistiken lasen sie ab, welche Lehrer die Testresultate von Schülern verschlechterten und welche sie verbessern halfen, mit Steuerdaten konnten sie die Lebenswege der Kinder über die Jahrzehnte verfolgen. Das Resultat: Gute Lehrer verändern das Leben. Ihr Einfluss sorgt dafür, dass die Schüler eher studieren und überdurchschnittlich viel verdienen, dass sie seltener in soziale Not geraten oder als Teenager schwanger werden. In Geld ausgedrückt: Einen einzigen schlechten Lehrer durch einen besseren abzulösen sichert einer Klasse insgesamt ein um 266.000 Dollar höheres Lebenseinkommen.

Man sollte sich nicht an der Zahl aufhängen, wohl aber die Botschaft ernst nehmen, gerade wenn es um Flüchtlinge geht. Sie brauchen ganztägig Lehrer, und sie brauchen gute Lehrer. Viel spricht sogar dafür, die besten Lehrer an die schlechtesten Schulen zu schicken – meist sind das die mit vielen Migranten und sozial benachteiligten Kindern –, weil sie dort die größte Wirkung entfalten könnten. Das würde außerdem der Gefahr begegnen, dass Schulen für Arme entstehen. Schon taucht das Szenario in der Debatte auf: Flüchtlingskinder mit schlechten Sprachkenntnissen und wenig Unterstützung vom Elternhaus senken das Lerntempo in den staatlichen Schulen und treiben auf diese Weise die deutsche Mittelschicht dazu, ihre Kinder auf private Schulen zu schicken – ein Teufelskreis.

Der Staat, die Wirtschaft, die Bürger – sie alle sollten daran interessiert sein, dass die Schulen mit vielen Flüchtlingskindern gute Schulen sind. Die Politiker in Bund und Ländern reden seit Jahrzehnten über neue Bildungsinvestitionen, in jeder Wahlkampfrede. Jetzt ist es Zeit, das allgegenwärtige Versprechen einzulösen.
Deregulierung am Arbeitsmarkt

3. Ohne Deregulierung am Arbeitsmarkt können Flüchtlinge nicht ein- und aufsteigen

Skeptiker führen derzeit gerne eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft an: Gut die Hälfte derjenigen, die in der Vergangenheit nach Deutschland geflüchtet sind, hätte keinen Studien- oder Berufsabschluss. Unter den Bundesbürgern dagegen gehe nur ein Sechstel derart unqualifiziert durchs Leben. Soweit sich die Zahlen auf die heutigen Flüchtlinge übertragen lassen, heißt das aber umgekehrt: Fast die Hälfte hält sehr wohl einen Abschluss in den Händen – in einer Volkswirtschaft, die mühselig nach qualifizierten Arbeitskräften fahndet. Dazu kommen gerade aus Syrien, wo die Selbstständigkeit viel höher im Kurs steht als die Lohnarbeit, noch viele Unternehmer ohne formales Diplom.

Flüchtlinge sollten also möglichst schnell arbeiten dürfen. Und doch werden viele von ihnen am unteren Rand des Arbeitsmarktes einsteigen. Hans-Werner Sinn, Chef des ifo Instituts, bringt das auf eine einfache Formel: Putzen und Autowaschen werden billiger werden. Man kann es auch höflicher sagen: Vor allem dort, wo wenig verdient wird, wächst die Jobkonkurrenz. Es läuft aber auf dasselbe hinaus.

Sollen am unteren Ende mehr Jobs entstehen, dann muss die Arbeit dort günstiger werden. Setzt man deshalb aber den Mindestlohn für Flüchtlinge aus, hält man sie bei den einfachen Arbeiten fest – und verdrängt jene Arbeitnehmer, die für ähnliche Jobs bisher mehr erhalten. Langzeitarbeitslose haben dann erst recht kaum noch Chancen. Die Marktlogik sagt dagegen, dass der Mindestlohn unter den neuen Bedingungen für alle neu bestimmt werden müsste. Wahrscheinlich muss er sinken, bestimmt darf er nicht mehr steigen. Außerdem sollten Arbeitnehmer so flexibel wie möglich einsetzbar sein, weil sie das für Arbeitgeber wertvoller macht. Berlin muss also prüfen, wo es die Zeitarbeit und die selbstständige Arbeit noch erleichtern kann.

Rein ökonomisch betrachtet, gab es so eine Situation schon mal. Nach der Wiedervereinigung kamen Millionen Ostdeutsche mit anderen Abschlüssen und Gewohnheiten auf den Arbeitsmarkt, und trotzdem versuchten die vereinigten Deutschen, die starren Regeln und den überfrachteten Sozialstaat aus dem Westen aufrechtzuerhalten. Das Ergebnis waren fünf Millionen Arbeitslose. Die Wende kam, als die Tarifpartner und Gerhard Schröder den Arbeitsmarkt öffneten.
Einkommensverteilung wird ungleicher

4. Die Reichen müssten nur wenig geben, um das Wirtschaftswunder zu ermöglichen

Vergangenes Jahr hat der französische Ökonom Thomas Piketty der industriellen Welt ihren Verteilungsspiegel vorgehalten. Seit den achtziger Jahren, sagt er, steige die Ungleichheit der Einkommen, weil die Vermögenden immer mehr dazugewännen, während die Löhne nur noch einen schrumpfenden Teil der Wertschöpfung ausmachten. In Deutschland hat der Arbeitsmarktboom zwar dazu geführt, dass die Einkommen in den vergangenen zehn Jahren kaum noch auseinanderfielen. Aber die Vermögen sind dafür umso ungleicher verteilt.

Mit den Flüchtlingen wird die Einkommensverteilung im Land nun wieder ungleicher: Diese Prognose von Hans-Werner Sinn ist plausibel – entweder weil mehr Billigarbeit entsteht oder mehr Arbeitslosigkeit. Auch darüber hinaus steigt jetzt der Druck im unteren Teil der Gesellschaft. Das Ringen um billige Wohnungen wird zunehmen, Obdachlose haben es mitunter jetzt schon schwerer unterzukommen. Dagegen profitieren zum Beispiel Immobilienbesitzer, weil der Staat dringend Unterkünfte für die Flüchtlinge braucht und dafür gut bezahlen muss.

Egal, wie man es rechnet, zweistellige Milliardenbeträge pro Jahr werden fällig, für Wohnungen und Sozialleistungen, für Sprachkurse und Schulen, für Verwaltung und Sicherheit. Soll der Staat dafür bei anderen Bürgern sparen? Oder sich auf Kosten der Jugend verschulden? Nein, er sollte sich das Geld am oberen Rand der Gesellschaft holen.

Derzeit steigt der Tarif der Einkommensteuer auf 42 Prozent ab einem Familieneinkommen von gut 100.000 Euro im Jahr, und erst ab einer halben Million Euro greift dann die sogenannte Reichensteuer von 45 Prozent. Stattdessen könnte Berlin den Tarif für die Wohlhabenden kontinuierlich steigen lassen. Ebenso könnte Schwarz-Rot die Steuer auf Kapitalerträge erhöhen und dafür die Freibeträge am unteren Ende heraufsetzen. Es geht um kleine Eingriffe von fiskalischem, aber auch symbolischem Wert.

Wenn mehr Menschen mit anderem Hintergrund ins Land kommen, ändert sich auch das Land. Besser, man gestaltet diese Entwicklung, als sie einfach geschehen zu lassen. Das wäre das richtige Signal: Wir wollen den Flüchtlingen nicht die Tür zuschlagen, aber wir haben auch den Willen zu Wohlstand. Das Programm dafür muss sich an den Regeln der Marktwirtschaft und der Fairness orientieren – damit die Jahrhundertchance nicht zum Desaster wird.

Beitrag teilen

Kommentare geschlossen.