25. November 2015 · Kommentare deaktiviert für „Das neue Zauberwort in der Flüchtlingsdebatte“ · Kategorien: Deutschland · Tags: , ,

Quelle: NZZ

Deutschland streitet um Modelle der Entschleunigung und Begrenzung der Migration

Berlin will die Grenzen für Migranten zwar nicht schliessen, die Zuwanderung aber trotzdem reduzieren. Der Diskussion um Flüchtlingskontingente mangelt es an Ehrlichkeit.

Markus Ackeret, Berlin

In der deutschen Politik wird mittlerweile fast jede Woche über einen neuen Aspekt der Flüchtlingsthematik heftig gestritten. Der Anlass dafür ist immer der gleiche – das Land ist, auch wenn es die Regierung nicht zugeben will, mit dem Ausmass und der Geschwindigkeit des Zuzugs von Flüchtlingen überfordert. Nach wie vor wird jeder, der als Flüchtling an die deutsch-österreichische Grenze kommt, ins Land gelassen. Trotzdem diskutieren die Parteien fast nur darüber, wie der Zuzug begrenzt werden kann, zumal die CSU laute Forderungen gestellt hat und auch in der CDU und SPD der Unmut wächst. Die bereits vor einiger Zeit aufgebrachte Idee von Flüchtlingskontingenten steht nun im Vordergrund.

Ein sicherer Fluchtweg

Kontingente für syrische Flüchtlinge sind nichts Neues. Im vergangenen Jahr hatten verschiedene Bundesländer solche beschlossen und entsprechende Verfahren durchgeführt. Damals ging es vor allem darum, Schutzbedürftigen die Möglichkeit zu geben, auf ordentlichem und sicherem Weg den vorläufigen Aufenthalt in Deutschland zu beantragen und damit der gefährlichen Route über das Mittelmeer zu entgehen. Mit diesem Argument werben die Parteien auch jetzt, zumal durch die Balkanroute die Schlepper-Kriminalität an der türkisch-griechischen Grenze floriert.

Ziel der Kontingente wäre es aber auch, die Zuwanderung der Flüchtlinge zu reduzieren. Der SPD-Vorsitzende und Vizekanzler Sigmar Gabriel sagte der «Süddeutschen Zeitung» Ähnliches, was er vergangene Woche bereits zusammen mit seinem Parteigenossen, Aussenminister Frank-Walter Steinmeier, dargelegt hatte: Deutschland müsse die staatliche Steuerung und Kontrolle der Flüchtlingsbewegung zurückgewinnen. Auch eine Entlastung des Landes sei unabdingbar. Weniger die Zahl als die Geschwindigkeit und Dynamik des Zuzugs bringe Deutschland an seine Grenzen. Kontingente in Absprache mit der Türkei würden Abhilfe schaffen. «Dynamik» ist in diesem Zusammenhang allerdings nur ein Euphemismus für die schiere Masse an Zuwanderern.

Verpönte Obergrenze

Diese Linie vertreten mittlerweile zahlreiche Vertreter der grossen Koalition, auch die Kanzlerin. Ihr schwebt allerdings ein europäisches Kontingent vor, das nach einem gewissen Schlüssel auf die einzelnen EU-Staaten verteilt würde – keine nationale Lösung. Selbst die CSU, die in ihrem Leitantrag am Parteitag Ende vergangener Woche demonstrativ, auch zum Preis der Stillosigkeit gegenüber Merkel, eine Obergrenze für Flüchtlinge gefordert hatte, wäre dafür zu haben – sofern es nicht nur ums System des Zuzugs ginge, sondern eine verbindliche Zahl für Deutschland festgelegt würde. Eine jährlich vom Bundestag zu beschliessende Zahl schlug auch der SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann vor, der sich, wie fast alle Exponenten der Koalition ausser jene von der CSU, gegen das Wort Obergrenze wehrt.

Die gegenwärtige Diskussion hat deshalb etwas Unehrliches. «Obergrenze» klingt starr, und deren Gegner argumentieren nicht nur mit dem Asylrecht, sondern auch mit Beispielen – was etwa geschähe mit der ersten Flüchtlingsfamilie, die um Asyl nachsuchte, wenn die Obergrenze erfüllt wäre?

Ein durch den Bundestag festgelegtes jährliches Flüchtlingskontingent bestünde aber auch aus einer Zahl, gleichsam einer Obergrenze. Die Flüchtlinge müssten zwar den gefährlichen Weg nicht auf sich nehmen. Wie aber würde gerecht darüber entschieden, wer eine Chance hat, auf diese Weise dem Flüchtlingslager nach Deutschland zu entkommen? Bestünde nicht die Gefahr, Flüchtlinge gleichsam nach «Nützlichkeit» auszuwählen? Und was geschähe mit den Zurückbleibenden? Ist es möglich, mit Geld und mit der Forderung an die Türkei, den syrischen Kriegsflüchtlingen Chancen im Arbeitsmarkt zu geben, die Attraktivität der Lager zu verbessern?

Merkel braucht Einigung

Auch wenn ein Ziel einer Vereinbarung mit Ankara die bessere Grenzsicherung ist, dürften viele Migranten andere Wege nach Europa suchen. Schliesslich müsste auch bei einer angesichts der inneren Widerstände eher unrealistischen Einigung auf Quoten für einzelne EU-Staaten sichergestellt werden, dass die Flüchtlinge wirklich in Polen oder Bulgarien bleiben, wenn sie zu deren Kontingent gehören. Mit der Türkei wollen sich die Europäer so schnell wie möglich einigen. Merkel braucht diese Einigung und eine erfolgreiche Umsetzung innenpolitisch dringend – der Widerstand gegen ihre Politik der offenen Grenzen für Migranten aus sicheren Drittstaaten wächst auch in der CDU mit jedem Tag.

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