23. November 2015 · Kommentare deaktiviert für „Kein Dach über dem Kopf auf Lesbos“ · Kategorien: Europa, Griechenland · Tags: , ,

Quelle: der Standard

Viele Flüchtlinge sind auf der griechischen Insel obdachlos, der Winter könnte ihre Situation weiter verschlechtern

Bianca Blei

Lesbos/Wien – Wütende politische Äußerungen sind normalerweise nicht das Metier der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF). Doch wenn es um die Beschreibung der Zustände für Flüchtlinge auf der griechischen Insel Lesbos geht, dann fehlen dem neuen Leiter der MSF-Mission, Daniel Huescar Lerena, die besonnenen Worte. „Das sind Orte voller Schande“, sagt Lerena. Die Lage in der östlichen Stadt Moria sei „absolut nicht unter Kontrolle“. Tausende Menschen würden ohne Unterschlupf auf offener Straße schlafen, so der Arzt.

Die griechischen Behörden seien so sehr mit administrativer Arbeit bei der Flüchtlingsregistrierung beschäftigt, dass sie auf das Wesentliche vergessen würden: „Es braucht eine humanitäre Antwort auf die Krise.“

Schutzlos im Freien

Obwohl die Wetterbedingungen mit der Ankunft des Winters auf der Insel und auf dem offenen Meer immer schlechter werden, ist die Zahl der ankommenden Menschen auf Lesbos weiterhin hoch. Mindestens 3.000 Personen kommen im November täglich mit Booten, die den Namen teilweise nicht verdient haben, an den Stränden der Insel nahe der Türkei an.

Das Flüchtlingshochkommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) spricht von 3.300 Menschen täglich. Obwohl die meisten der Ankommenden regelmäßig mit Fähren zum Festland gebracht werden, befinden sich etwa 12.000 Flüchtlinge auf der Insel – die beiden Aufnahmelager können 2.800 Menschen beherbergen. Drei, vier Tage müssen sie im Moment durchschnittlich warten, um als Flüchtlinge registriert zu werden.

„Diese Zahlen machen klar, dass sich das nicht ausgehen kann“, sagt Aikaterini Kitidi von UNHCR vor Ort. Zwar habe UNHCR damit begonnen Decken, Ausrüstung und Mahlzeiten an die Menschen auszuteilen, die schutzlos im Freien übernachten müssen, doch könne niemand abschätzen, wie und in welchem Ausmaß sich die humanitäre Lage verschlechtern wird, wenn die Temperaturen fallen und der Regen einsetzt. Im Moment würden Temperaturen um die zwölf Grad Celsius in der Nacht die Situation der Flüchtlinge noch halbwegs erträglich machen.

Starke Kritik an UNHCR

Zu spät habe das UNHCR mit solch unmittelbarer Hilfe begonnen, so die Kritik der internationalen Freiwilligen, die auf der Insel tätig sind. „Wir haben lange überlegt, ob wir in Griechenland überhaupt einen Einsatz starten sollen“, erwidert Kitidi. Immerhin seien die Noteinsätze im Libanon oder Jordanien stark unterfinanziert, bis Ende des Jahres sogar nicht einmal zur Hälfte.

„Außerdem dürften wir hier, in der Europäischen Union, eigentlich gar nicht gebraucht werden“, sagt Kitidi weiter. Griechenland und die gesamte Staatengemeinschaft verfüge über genügend Kapazitäten, um mit solch einer Krise umgehen zu können. Die Hauptaufgabe des UNHCR sei seit 1952 die Anwaltschaft für Bedürftige, die Unterstützung von Regierungen und die Dokumentation von Situationen. Deshalb engagierten sich die Mitarbeiter des Hochkommissariats zu Beginn des Einsatzes die griechischen Behörden, das Asylsystem effizienter zu gestalten. Ende Juni diesen Jahres sei laut Kitidi aber klar geworden, dass es sich bei der Flüchtlingskrise auf Lesbos um eine „Notsituation“ handle und UNHCR habe seinen Einsatz ausgeweitet.

Spärliche Versorgung

Dass es ohne internationale Hilfsorganisationen nicht einmal die nun vorhandene, spärliche Versorgung der Flüchtlinge geben würde, zeigt Lerena anhand eines Beispiels aus dem medizinischen System: „Es gibt auf der gesamten Insel Lesbos für alle Bewohner und Ankommenden zwei funktionierende Ambulanzen.“ Deshalb sollen drei Rettungswägen von MSF auf die Insel transportiert werden. Dafür müssen laut dem Einsatzleiter aber bürokratische Hürden überwunden werden. „Ich bin aber überzeugt, dass wir das hinbekommen“, so der Arzt.

Täglich 3000 Flüchtlinge nach Chios

Doch nicht nur die Helfer auf Lesbos stehen aufgrund der anhaltenden Flüchtlingsankünfte während der Wintermonate vor einer neuen Herausforderung. Auch auf der nur halb so großen, südlicheren Insel Chios kommen über einen Zeitraum von wenigen Tagen durchschnittlich 3.000 Menschen an. Das erzählt Tiril Skarstein vom Norwegian Refugee Council, einer internationalen Hilfsorganisation vor Ort.

Selbst an den windigsten Tagen würden die Menschen die Küste in den aufblasbaren Booten erreichen. Für Skarstein liegt es nun aber vor allem an den anderen EU-Staaten, die vollkommen überlasteten griechischen Behörden zu unterstützen. Und vor allem die Nachbarstaaten Syriens, von wo der Großteil der in Griechenland ankommenden Flüchtlinge stammt. „Es müssen sichere Fluchtrouten nach Europa geschaffen werden, um das Sterben auf hoher See zu beenden“, wiederholt sie eine der Hauptforderungen der Hilfsorganisationen.

Passfälscher festgenommen

Abseits der humanitären Krise konnten griechische Sicherheitskräfte in den vergangenen Tagen auf der Insel drei Griechen und neun Pakistanis verhaften, die Dokumente für Flüchtlinge gefälscht haben sollen.

Kommentare geschlossen.