15. November 2015 · Kommentare deaktiviert für „Tschechien und die Flüchtlinge: Eine Nation macht die Tür zu“ · Kategorien: Nicht zugeordnet · Tags: , ,

Quelle: FAZ

Kein Land in Europa weist so entschieden Flüchtlinge ab wie die Tschechische Republik. Was in Deutschland geschieht, gilt als verrückt: Warum die Mehrheit der Tschechen Flüchtlinge so gar nicht willkommen heißen will.

von Claus Leggewie

Nur drei Stunden braucht man von Frankfurt bis zur tschechischen Grenze. Wer sich dort vom Navigationsgerät verführen lässt, einen Grenzübergang anzufahren, den es gar nicht mehr gibt, kommt vor einem Paradox zum Stehen: Verschlossen ist nur das von Gestrüpp und Herbstblättern überwucherte Straßenstück, rechts und links davon sind sämtliche Reste von Stacheldraht und Todesstreifen abgebaut und steht die grüne Grenze jedem offen. Doch je offener die Tschechische Republik seit 1989 geworden ist, desto mehr igelte sie sich ein.

Kein Land in Europa weist laut Eurobarometer so entschieden und mit solcher Unterstützung durch die Bevölkerung Flüchtlinge ab wie die Tschechische Republik. Sie, die Slowakei und Ungarn sind die Visegrad-Staaten, die sich jedweder Quote aus Brüssel und allen Solidaritätsersuchen aus Berlin und Paris verweigern. „Unbarmherzig“ hat Frankreichs Außenminister Laurent Fabius die Visegrad-Dreiergruppe im Herzen Europas genannt, und man fragt sich an diesen schönen Herbsttagen, da die Stadt von (weißhäutigen) Touristen überzulaufen droht: Warum ist das eigentlich so?
Das Opfertrauma übertrifft das Tätertrauma

Der Politologe Jiří Pehe leitet die hiesige Dependance der New York University. Ein Flüchtling war auch er: Als junger Mann ging er 1976 über Jugoslawien und ein italienisches Flüchtlingslager ins Exil nach Amerika. Zurück nach Prag kam er als Kommentator bei Radio Freies Europa und durch die Bestellung zum politischen Berater des ersten frei gewählten Präsidenten Václav Havel. Nun versteht er sein Land immer schlechter, nennt es eine Nation, die ihrer selbst unsicher sei, „ein mehrfach traumatisiertes Land“.

Ihrer selbst unsicher – so hat Milan Kundera jene verspäteten Nationen zwischen Deutschland und Russland genannt, die, kaum dem k. u. k. „Völkergefängnis“ entronnen, in den vierziger Jahren zwischen zwei totalitären Mühlsteinen aufgerieben wurden. 1938, nach dem Münchner Abkommen zwischen Hitler und den westlichen „Schutzmächten“, stand die Tschechoslowakei tatsächlich ganz allein da. Dieses Opfertrauma übertrifft bei weitem das Tätertrauma der Massenvertreibung von Millionen deutscher Einwohner 1945, die Vaclav Havel als Verbrechen bezeichnet hat, heute aber kaum noch ein Offizieller so nennen will. Zu verdrängen war diese Untat durch die Erinnerung an die kommunistische Herrschaft: 1948 der Putsch der KP, 1968 der Einmarsch der sozialistischen „Bruderstaaten“.

Pegida ist im Vergleich ein laues Lüftchen

In diesem Selbstbild bleibt ausgespart, dass nach dem brutalen Ende des Prager Frühlings geschätzte 300 000 Tschechen ins Ausland flohen und dort ganz überwiegend freundliche Aufnahme fanden. Darauf angesprochen, erhält man oft die Antwort, diese hätten sich in ihrem jeweiligen Exil in Tätigkeiten vom Hausmeister bis zum Universitätsprofessor nützlich gemacht und an die dortigen Landessitten angepasst – was von Muslimen heutzutage nicht zu erwarten sei. Wenn im benachbarten Sachsen Pegida gegen die „Islamisierung des Abendlandes“ mobil macht, klingt das wie ein laues Lüftchen im Vergleich zu den Vorurteilen, die allen voran der tschechische Staatspräsident Milos Zeman von sich gibt.

Ähnlich wie in Dresden brachte die lange realsozialistische Selbstisolation mit sich, dass die Tschechen mit Fremden, abgesehen von einigen wenigen separierten Vertragsarbeitern aus dem sozialistischen Ausland, nie konkrete Erfahrungen sammeln konnten. Muslime gibt es in dieser Nation, die im Europavergleich atheistische Spitzenwerte aufweist, so gut wie keine, die einzige Moschee des Landes steht in Brünn, und kein noch so tugendsamer Muslim könnte das gehässige Feindbild von potentiellen Vergewaltigern, Terroristen und Faulpelzen aufbrechen, das mit Milos Zeman beinahe sämtliche einheimischen Medien ausmalen. Viele Tschechen möchten so ahnungslos und empiriefeindlich bleiben wie vor 1989.

Werte werden ausgebeutet

Fast verzweifelt fordert dagegen die Soziologin Tereza Stöckelová in der vom Kulturministerium unterstützten Zeitschrift „A 2“: „Lasst uns die muslimischen (und anderen) Ankömmlinge behandeln wie Menschen, die wir nicht kennen, nicht als Gespenster aus der Mottenkiste jahrhundertealter Orient-Stereotypen. Womit wir doch vertraut sein sollten, ist die universalistische Ausdeutung von Werten wie Freiheit, Gleichheit und Solidarität, zu denen sich unsere Nation offiziell bekennt. Die Ankunft der Flüchtlinge ist die Gelegenheit, diese Werte auch konsistent zu praktizieren.“ Jonathan aus Ghana, der seit gut einem Jahr in Prag Landwirtschaft studiert, erzählt, er habe vor allem in den Städten so gut wie nie ein freundliches Gesicht zu sehen bekommen, und auf dem Land werde er fotografiert wie ein exotisches Tier.

Dass Viktor Orbáns Ungarn sich hinter Nato-Stacheldraht einigelt, wird von Eliten und Volk im Nachbarland begrüßt. Die tschechische Nation, die es in ihrer heutigen Gestalt erst seit 1993 gibt, wird immer nationalistischer. Als ihre Mission sehen manche offenbar, sich Europa zu widersetzen, wenn dieses bereit sein sollte, den Muslimen ihre Zivilisation zu opfern. Jiří Pehe deutet zum Verständnis für diese Haltung auf das am Altstädter Ring gelegene Nationaldenkmal von Jan Hus, der sich lieber verbrennen ließ, als klein beizugeben.

Dabei wurde in Prag im vergangenen Jahr ein Flüchtlingsbild häufig gezeigt und gefeiert: wie fast neuntausend Botschaftsflüchtlinge aus der DDR 1989 den Zaun der westdeutschen Botschaft überwanden und im Garten des Lobkowitz-Palais hausten, bis ihnen Hans-Dietrich Genscher vom Balkon die Ausreise verkündete. Die ikonischen Fotos und Fernsehbilder hatten seinerzeit die Tschechoslowaken aus der Lethargie geweckt und die samtene Revolution mit ausgelöst. Aber die Deutschen waren eben keine Muslime, und der Spuk war nach wenigen Wochen vorbei.
Zögerliche Aufarbeitung des Holocausts

Zemans Popularitätswerte steigen gleichzeitig mit den Zahlen derjenigen Tschechen, die sofort aus der EU austreten wollen; zuletzt waren das fast zwei Drittel. Auf der Burg weht die Flagge Israels – Tschechien deklariert sich als unverbrüchlicher Freund des jüdischen Staates. Doch zu den Anhängern des Populisten Zeman auf dem Hradschin zählen nicht nur die Verächter der ungefähr 300 000 Personen zählenden Roma-Gemeinde im Land, die weiterhin massiv diskriminiert wird, sondern auch beinharte Antisemiten. Gute Juden sind demnach nur die außer Landes.

Im Übrigen – das belegt die hier erst zögerlich begonnene Aufarbeitung des Holocausts – gelten auch sie in der kollektiven Erinnerung eher als Deutsche. Vor 1938 gehörten viele Juden in der Tat zum deutschsprachigen Bürgertum, nach 1945 wurde unter der halbdemokratischen Benes-Regierung wie unter der Ägide der stalinistischen KP das Konzentrationslager Theresienstadt als Monument des nationaltschechischen Widerstands inszeniert. Anfang der fünfziger Jahre fanden schlimme judenfeindliche Säuberungen in der Kommunistischen Partei statt.

Hoffen auf den Stimmungsumschwung

Die Deutschen sind ein altes Feindbild, das auch Jüngere teilen, die Besatzung und Deportationen gar nicht erlebt haben. Mehr als viertausend Liberale haben vor kurzem einen offenen Brief an das „Liebe Europa“ veröffentlicht, in dem sie sich beschämt zeigen über den Kleinmut ihrer Regierung und die Hartherzigkeit ihrer Mitbürger, aber auch feststellen: „Hunderte von uns haben sich auf den Weg gemacht, um den Menschen in Not zu helfen. Du konntest uns im Vámossszabadi, Röszke, Horgosi, Győr, Szeged, Tovarnik, Belim, Monastir und an vielen anderen Orten treffen. Tausende von uns kümmern sich um materielle, finanzielle und logistische Hilfe. Ebenso viele von uns Tschechen schicken warme Kleidung, Decken, Essen und Geld. Und wir unterstützen auch diejenigen, die in die Tschechische Republik kommen, mit Wohnraum und Arbeit.“

Erik Tabery. der Chefredakteur des liberalen Wochenblatts „Respekt“, bekräftigt, Wohnraum und Arbeit gebe es genug in Stadt und Land, er hofft auf einen Stimmungsumschwung. Mut gemacht hat ihm eine Gesprächsveranstaltung seiner Zeitschrift über Flüchtlinge und Europa an der Universität in Olmütz, zu der ein paar Dutzend Zuhörer erwartet wurden, aber Hunderte kamen und ernsthaft diskutierten. Es ergebe nämlich keinen Sinn, gute Deutsche gegen böse Tschechen zu stellen, der Riss gehe quer durch Europa. „Merkel sollte reisen und für ihren Standpunkt werben“, regt Tabery an, denn „die Mitte Europas fühlt sich einsam“ – im Auge des Orkans zwischen westlicher Willkommenskultur und balkanesischem Flüchtlingsstau.

Und mitten im einstigen Arbeiterbezirk Žižkov, wo gerade eine Prager Version von Prenzlauer Berg zu entstehen scheint, entdeckt man einen Laden, der „Halal Meat“ anpreist. Wo die einen das Abendland untergehen sehen, bekommen andere auch in Tschechien Appetit auf Neues.

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