06. November 2015 · Kommentare deaktiviert für „Die derzeitige Rhetorik der CSU trägt zur Verrohung bei“ · Kategorien: Deutschland

Quelle: Telepolis

Interview von Patrick Spät

Der Sprachwissenschaftler Anatol Stefanowitsch über den oft diskriminierenden Sprachgebrauch bei der sogenannten „Flüchtlingsdebatte“

„Actions speak louder than words“, heißt es. Inwiefern beeinflusst der Sprachgebrauch überhaupt unser Denken – und damit unser Handeln?

Anatol Stefanowitsch: Sprache bildet nicht die Realität ab, sondern eine Perspektive auf die Realität. Insofern kann der Sprachgebrauch eine entscheidende Rolle bei der Bewertung von Menschen und Situationen spielen. Ein Lehrbuchbeispiel: Jemanden, der ein Regierungsgebäude in die Luft sprengt, können wir, je nach Perspektive, als „Terrorist“ oder „Freiheitskämpfer“ bezeichnen. Die Wahl, die wir treffen, zieht dann bestimmte Denk- und Handlungsmuster nach sich: Einen Terroristen müssen wir bekämpfen, einen Freiheitskämpfer dagegen unterstützen oder wenigstens Verständnis für seinen Freiheitskampf haben.

Natürlich können wir uns durch sorgfältigeres Nachdenken von solchen Begriffen lösen und zu einer differenzierteren Bewertung gelangen – Sprache bestimmt unser Denken nicht, sie legt uns nur bestimmte Denkweisen nahe. Aber da wir über viele Dinge eben nicht sorgfältig nachdenken, spielt der Sprachgebrauch eine entscheidende Rolle.

Thilo Sarrazin, Pegida, brennende Flüchtlingsheime, rechtspopulistische Töne aus den Reihen der CDU/CSU: Die Rechten kriechen aus ihren Verstecken. Wie macht sich dieser neue Rechtsruck im Sprachgebrauch bemerkbar?

Anatol Stefanowitsch: Da sind zum einen die propagandistischen Sprachmuster sogenannter „bürgerlicher“ Politiker und Feuilletonisten, die vielleicht noch nicht allgemein übernommen werden, die aber inzwischen wieder als ganz normaler Teil des öffentlichen Diskurses akzeptiert werden – die „Festung Europa“ oder die „Notwehr“ der Bayern gegen die Flüchtlingspolitik, oder die ständige Forderung nach „Obergrenzen“ für die Aufnahme von Flüchtlingen, die ja nichts anderes ist, als die altbekannte „Das-Boot-ist-voll“-Rhetorik in neuem Gewand. Auf der anderen Seite setzt sich immer stärker ein Sprachbild von Flüchtlingen als „Last“ durch, unter der das Land „ächzt“, „ins Wanken gerät“ oder „zusammenzubrechen“ droht.

Solche Sprachbilder sind gefährlich, weil sie – mehr noch als einzelne Wörter wie „Terrorist“ oder „Freiheitskämpfer“ – unsere Gedanken und Argumente in vorgefertigte Bahnen lenken. Natürlich stellt die große Zahl an Flüchtlingen, die derzeit nach Europa und besonders nach Deutschland kommen, die Gesellschaft vor große Herausforderungen – vor allem, da wir völlig unvorbereitet sind, obwohl die Situation eigentlich absehbar war. Aber diese Herausforderung als „Last“ zu versprachlichen, engt unser Verständnis auf eine Weise ein, bei der die Chancen, die in diesen Herausforderungen stecken, völlig ausgeblendet werden.

Nicht nur rechte Gruppierungen, sondern auch ältere Menschen sprechen häufig von „Asylanten“ – oft ohne zu wissen, was dieser Begriff eigentlich impliziert. Woher stammt dieser Begriff und was ist an ihm problematisch?

Anatol Stefanowitsch: Der Begriff taucht in den 1970er Jahren auf – zu einem Zeitpunkt, an dem die Wörter „Asylbewerber“ und „Asylsuchende“ längst etabliert waren. Das Wort „Asylant“ diente von Anfang an dazu, unerwünschte Asylsuchende von den erwünschten abzugrenzen und als illegitim darzustellen – ähnlich, wie heute unerwünschte „Wirtschaftsflüchtlinge“ von legitimen „Kriegsflüchtlingen“ abgegrenzt werden sollen.

Das Wort „Asylant“ findet sich von Anfang an in negativen Zusammenhängen – in Kombinationen wie „illegale Asylanten“, „kriminelle Asylanten“ und „Scheinasylanten“. Diese negative Aura umgibt jede Verwendung des Wortes – auch dort, wo es möglicherweise ohne böse Absicht verwendet wurde.

Linke Gruppierungen gehen derzeit dazu über, statt von „Flüchtlingen“ von „geflüchteten Menschen“ oder von „Refugees“ zu sprechen. Warum?

Anatol Stefanowitsch: Zum einen besteht in diesen Gruppierungen das Gefühl, dass das Wort „Flüchtling“ einen leicht herabwürdigenden Beiklang hat – möglicherweise wegen der Nachsilbe „-ling“, die häufig (aber nicht ausschließlich) in negativ wertenden Wörtern vorkommt – „Schwächling“, „Eindringling“, „Schreiberling“ usw. Ein wirklich überzeugendes Argument ist das allein allerdings nicht, da auch neutrale oder positive Wörter mit „-ling“ gebildet werden können – zum Beispiel das Wort „Neuankömmling“, das in letzter Zeit häufiger als Alternative zum „Flüchtling“ vorgeschlagen wird.

Zum anderen wird aber auch die Fokussierung auf die Handlung des Flüchtens kritisiert, die in dem Wort „Flüchtling“ steckt – das englische „Refugees“ ist da eher auf die sichere Zuflucht – das Refugium – gerichtet, und das Wort „Geflüchtete“ verortet die Flucht wenigstens in der Vergangenheit.

„Der Begriff Asylkritiker ist ein verschleiernder Euphemismus“

Welchen Begriff bevorzugen Sie für Flüchtlinge bzw. geflüchtete Menschen?

Anatol Stefanowitsch: Ich sehe im großen und ganzen keine Argumente dafür, grundsätzlich auf das weit verbreitete und nicht auf negative Zusammenhänge beschränkte „Flüchtling“ zu verzichten und warne davor, es unnötig schlecht zu reden und dadurch zu einer Stigmatisierung beizutragen. Aber ich kann die Argumente für Alternativen wie „Refugees“, „Flüchtende“ oder „Geflüchtete“ sehr gut nachvollziehen – auch hier stellt sich am Ende nicht die Frage, welches der Wörter „besser“ oder „richtiger“ ist, sondern die, welche Perspektive ich sprachlich zum Ausdruck bringen will. Im Diskurs ist Platz für mehr als ein Wort.

Und natürlich würde ich einzelnen Betroffenen, die sich selbst durch das Wort „Flüchtling“ herabgesetzt oder falsch beschrieben sehen, den Respekt erweisen, im Gespräch mit ihnen soweit wie möglich auf das Wort zu verzichten.

Die feministische Linguistin Luise Pusch hat übrigens kürzlich darauf hingewiesen, dass „der Flüchtling“ als Maskulinum vorrangig männlich interpretiert wird. Das führt dazu, dass weibliche Flüchtlinge manchmal sogar als „Flüchtlingsfrauen“ bezeichnet werden – so, als seien sie selber gar keine Flüchtlinge, sondern nur mit Flüchtlingen verheiratet.

Sogar Spiegel Online hat zuletzt den Begriff „Asylkritiker“ in einer Headline verwendet. Wie werten Sie diesen Begriff?

Anatol Stefanowitsch: Das ist ein verschleiernder Euphemismus, der nach einer kurzen Karriere zum Glück wieder am Verschwinden ist. Wem es wirklich um eine Kritik an Asylpolitik geht, stellt man sich nicht vor Flüchtlingsheime und hetzt gegen die Menschen, die dort nach einer oft traumatischen Flucht versuchen, zur Ruhe zu kommen. Nein, wer Asylpolitik kritisieren will, muss schon dort demonstrieren, wo Gesetze gemacht werden, und natürlich sollten echte „Asylkritiker/innen“ auch etwas über Asylpolitik wissen und ein paar Argumente mitbringen.

Wer aber gegen Menschen wütet oder hetzt, weil die nicht „von hier“ sind, ist nicht asylkritisch motiviert, sondern fremdenfeindlich, rassistisch und/oder nationalistisch. Solange diese Hasstiraden und die Hetze nicht die Grenze zur Strafbarkeit überschreiten, müssen wir sie im Namen der Meinungsfreiheit ertragen, aber wir müssen sie nicht noch durch das Prädikat „kritisch“ adeln.

Momentan hört man ständig von einer „Flüchtlingswelle“, angefangen bei der Wochenzeitung Die Zeit, über Debatten im Bundestag bis zum alltäglichen Gespräch im Café. Was suggeriert dieser Begriff?

Anatol Stefanowitsch: Dieses Sprachbild ist schon sehr viel älter, es findet sich gehäuft auch in den Diskussionen der 1990er Jahre. Wörter wie „Welle“, „Flut“ oder „Strom“, die sich eigentlich auf Wassermassen beziehen, sind ohnehin eins der häufigsten Sprachbilder für Migrationsbewegungen, nicht nur im Deutschen, sondern auch in anderen Sprachen.

Wenn ich über Flüchtlinge als „Flut“ oder „Welle“ spreche, lenke ich damit davon ab, dass es sich um Individuen mit jeweils ganz eigenen Biographien handelt. Das Sprachbild der „Welle“ bringt – wie auch das von der „Last“ – seine eigene Logik mit: Wassermassen sind eine Bedrohung, und wir können sie sinnvollerweise nur „eindämmen“, „kanalisieren“, „umleiten“ oder „abwehren“ – und diese Vorstellung übertragen wir dann auf unser Denken über Flüchtlinge.

Nicht nur Flüchtlinge, auch andere Menschengruppen werden sprachlich diskriminiert, insbesondere Schwule und Lesben, Menschen mit Behinderungen und religiöse Minderheiten. Welche Begriffe finden Sie hier besonders schlimm?

Anatol Stefanowitsch: Ich werde keine konkreten Beispiele nennen, das Internet ist ohnehin voll von ihnen. Besonders schlimm finde ich aber die Wörter, bei denen bei jedem Anlass von neuem diskutiert wird, ob man sie nicht doch verwenden darf, obwohl die Betroffenen – also diejenigen, die mit den Wörtern bezeichnet werden – seit Jahren klar und deutlich sagen, dass sie so nicht genannt werden möchten und die historischen, sprachlichen und gesellschaftlichen Gründe dafür detailliert aufzählen.

Immer wieder wird hier das vermeintliche Recht der Mehrheitsgesellschaft verteidigt, einen Schaumkuss oder eine Paprikasoße mit rassistischen Bezeichnungen zu benennen oder immer neue Generationen von Kindern mit der rassistischen Sprache eines Kinderbuchs aus den 1940er Jahren bekannt zu machen. Als ob die winzige Umgewöhnung, die neue Wörter oder eine literarische Überarbeitung mit sich bringen, ein ernsthaftes Argument dagegen wäre, mit unseren Mitmenschen sprachlich respektvoll umzugehen.

Über die sprachliche Diskriminierung von Frauen wird seit Jahren diskutiert. Was sagt und schreibt man denn nun am besten? Arbeiterinnen und Arbeiter? ArbeiterInnen? Arbeiter_innen? Oder Arbeiter*innen?

Anatol Stefanowitsch: Da gibt es keine „beste“ Lösung, es kommt darauf an, in welchen Kreisen man sich befindet und worauf man sich dort einigt. Sprachlich nahe an der Norm sind die Doppelformeln (Arbeiterinnen und Arbeiter). Die anderen Lösungen sind experimenteller, und jede und jeder muss für sich selbst entscheiden, ob und in welchen Kommunikationssituationen sie sich gut und richtig anfühlen.

Nur eins ist klar: Das sogenannte generische Maskulinum – also die alleinige Verwendung der männlichen Form verbunden mit der Behauptung, Frauen seien dabei mitgemeint – kommt nicht infrage. Experimente zeigen klar, dass diese Formen unbewusst rein männlich verstanden werden und eine mentale Anstrengung nötig ist, um zur generischen Interpretation zu gelangen. Dass die Hälfte der Bevölkerung sich ständig fragen muss, ob sie gerade mitgemeint ist, oder nicht, ist schlicht nicht hinnehmbar.

Die Empörung vieler Männer, wenn sie umgekehrt ausnahmsweise einmal bei einer femininen Form mitgemeint sind – wir erinnern uns an den Sturm der Entrüstung, als die Universität Leipzig ihre Grundordnung im Femininum formuliert hat – zeigt, dass Männer das eigentlich sehr gut wissen.

Welche Personen des öffentlichen Lebens halten Sie derzeit für die größten Sprachpanscher?

Anatol Stefanowitsch: „Sprachpanscher“ ist hier das falsche Wort – Sprache ist immer im Fluss, wir „panschen“ mit ihr also jedes Mal, wenn wir sie verwenden. Sprachlich besonders unangenehm fallen aber schon länger Horst Seehofer und andere CSU-Politiker auf – wir erinnern uns, wie Seehofer schon 2010 davon sprach, Deutschland wolle nicht „Sozialamt für die ganze Welt“ werden und die Zuwanderung aus „anderen Kulturkreisen“ ablehnte, oder wie er 2011 Bayern „bis zur letzten Patrone“ gegen „Zuwanderer in die Sozialsysteme“ verteidigen wollte. Die derzeitige Rhetorik der CSU, die das Grundrecht auf Asyl infrage stellt und ständig von „Obergrenzen“ spricht, führt diese Verrohung des öffentlichen Diskurses konsequent fort.

Und welchen Personen bescheinigen Sie einen bedachten Umgang mit der Sprache?

Anatol Stefanowitsch: Schwer zu sagen. Angela Merkel vielleicht – sie sagt ja so gut wie gar nichts, da kann sie auch kaum etwas Falsches sagen.

„Wir können alle zu sprachwandlerischen Schwergewichten vom Rang eines Luther oder einer DPA werden“

Zum Schluss noch eine Frage zur möglichen, zukünftigen Entwicklung der Sprache. Wird es bald als korrektes Hochdeutsch gelten zu sagen: „Wegen dem schlechten Wetter“ oder „Ich geh Kino“? Was erwartet uns vielleicht in sprachlicher Hinsicht?

Anatol Stefanowitsch: „Wegen dem schlechten Wetter“ ist heute schon korrektes Deutsch, den Genitiv benutzen wir eigentlich nur noch in der Schriftsprache. „Ich geh Kino“ wird sich im Standarddeutschen sicher nicht sehr bald durchsetzen, es ist auf klar abgrenzbare Subkulturen beschränkt.

Insgesamt ist es schwierig, die Zukunft einer Sprache vorherzusagen. Relativ sicher bin ich, dass unser Wortschatz weiter wachsen wird, wobei natürlich weiterhin viele englische Lehnwörter übernommen werden. Und insgesamt glaube ich auch, dass das Deutsche gerechter und weniger diskriminierend wird. Das dauert zwar länger als nötig, aber insgesamt sehe ich eine positive Tendenz.

Kurz gesagt: Wie vollzieht sich eigentlich ein solcher Sprachwandel? Top-down, indem zum Beispiel Medien oder Gerichte einen diskriminierenden Sprachgebrauch anmahnen? Oder Bottom-up, indem zum Beispiel Individuen in den sozialen Netzwerken einen Shitstorm oder eine Diskussion entfachen?

Anatol Stefanowitsch: Sprachwandel vollzieht sich überall dort, wo Sprache verwendet wird – jede Äußerung hat das Potential, die Sprache kreativ weiter zu entwickeln. Grammatischer Wandel vollzieht sich dabei langsam und stetig, während Veränderungen im Wortschatz recht abrupt sein können.

Natürlich spielt es dabei eine Rolle, wie viele Menschen eine Äußerung mit einer kreativen Neuerung wahrnehmen – ist es ein kleiner Kreis, dann muss die Neuerung sich sozusagen von Mund zu Mund getragen langsam durchsetzen, oder eben nicht. Ist es ein großer Kreis, geht es entsprechend schneller. Insofern haben die Massenmedien immer eine wichtige Rolle gespielt – zunächst der Buchdruck, später Zeitungen und das Fernsehen. Martin Luther hat zur Verbreitung vieler Wörter beigetragen, einfach, weil seine Bibelübersetzung in jedem Haushalt vorhanden war, und wenn die DPA oder AP heute ein Wort verwenden, steht es Minuten später auf Tausenden von Bildschirmen, Tablets und Smartphones.

Die sozialen Netzwerke verändern die Dynamik hier, indem Einzelpersonen Dinge schreiben können, die sich dann viral verbreiten. So können wir theoretisch alle zu sprachwandlerischen Schwergewichten vom Rang eines Luther oder einer DPA werden. Der Moment muss aber stimmen und unsere sprachlichen Neuerungen müssen zum Nachahmen einladen.

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