04. November 2015 · Kommentare deaktiviert für „Die Festung Europa ohne Mauern“ · Kategorien: Europa · Tags:

Quelle: NZZ

Die Willkommenskultur zugunsten aussereuropäischer Schutzsuchender vermischt humanitäre Hilfe und Immigrationspolitik.

Kommentar von Martin Woker

Flüchtlingskrise? Die britische Sendeanstalt BBC meidet in ihrer derzeitigen Berichterstattung den Begriff Flüchtling. Migranten sind demnach alle sich unterwegs befindenden Personen, deren Antrag auf Asylgewährung noch offen ist. Die Gruppe umfasse Personen aus Syrien und andern Kriegsländern, die möglicherweise als Flüchtlinge anerkannt würden, präzisiert die BBC. Als Migranten gälten aber auch jene, die Arbeit sowie ein besseres Leben suchten und von Regierungen als Wirtschaftsmigranten eingestuft würden.

Das Bemühen um eine Begriffsklärung ist berechtigt, so theoretisch das Ansinnen angesichts der erschöpften, in Richtung des reichen Europa reisenden Menschenmassen auch erscheinen mag. Deutschland bereitet sich darauf vor, im laufenden Jahr über eine Million Migranten aufzunehmen. Der Helferwille zwischen Aachen und Zittau ist beispiellos. Die Kanzlerin hat bisher politischem Druck standgehalten, die Aufnahmebereitschaft ihres Landes zu relativieren. Die im Zuge von Griechenlands Schuldenregelung zu hörenden Misstöne gegenüber Deutschland sind verstummt.

Abschreckungsstrategien

Die überwältigende Hilfsbereitschaft täuscht darüber hinweg, dass humanitäre Hilfe und Migration in einem bisher ungekannten Ausmass vermischt werden. Dafür ausschlaggebend ist die medial verbreitete Not der Ankömmlinge. Ob in Wiener Bahnhöfen, am Stacheldrahtverhau vor der ungarischen Grenze, in italienischen Abbruchliegenschaften, in der eisigen slowenischen Provinz oder am Strand griechischer Ferieninseln: Wegschauen geht nicht. Die Mauern der Festung Europa sind gefallen. Nur noch Grossbritannien vermag sich dank seiner Insellage abzuschotten.

Zumindest in Deutschland bestehen kaum Zweifel, wie zu reagieren ist. 25 000 neue Lehrkräfte und 50 000 zusätzliche Sozialarbeiter seien nötig, sagen Berufsverbände. Die Polizei will eine Aufstockung um 15 000 Mann. Das Bundesbauministerium rechnet mit einem Bedarf von über 300 000 neuen Wohnungen und Zehntausenden von zusätzlichen Plätzen in Kindertagesstätten. Der Ärzteverband meldet ein Manko von 6000 Kollegen. So vage diese Angaben auch sind: Hier wird vor dem Hintergrund einer Notlage Einwanderungspolitik betrieben. Das ist neu.

Bis anhin galt in den reichen Staaten Europas der Grundsatz, dass individuelle wirtschaftliche Notlage kein Asylgrund ist. Migranten aus Kriegsgebieten hingegen wird eine vorläufige Aufnahme gewährt, auch wenn sie nach gegebener Frist nicht imstande sind, eine Arbeitsstelle nachzuweisen. Unter dem Druck nationalkonservativer Kräfte verfolgen einige europäische Staaten, unter ihnen die Schweiz, zunehmend eine Abschreckungsstrategie. Die Hilfeleistung für Neuankömmlinge soll keinesfalls als Anreiz wirken und schon gar nicht als Einladung zum Einwandern verstanden werden. Zudem werden Asylverfahren beschleunigt, um abgelehnte Antragsteller nach kürzestmöglicher Frist auszuweisen, sofern sie nicht als Kriegsflüchtlinge vorläufige Aufnahme finden. Auf dem schmalen Grat zwischen verbindlichem internationalem Recht, das Flüchtlingen Schutz gewährt, und Rücksichtnahme auf Verlustängste der eigenen Bevölkerung bleibt den Behörden wenig Raum. Die sich häufenden Ausschaffungen und Rückführungen strapazieren aber die Rechtsstaatlichkeit und das soziale Empfinden breiter Kreise. Die Schweiz setzte unlängst Zwangsausschaffungen nach Sri Lanka aus, nachdem Tamilen bei ihrer Rückkehr verhaftet und misshandelt worden waren.

In Deutschland, wo die aus der Not geborene Willkommenskultur ungeahnte positive Energien freisetzt und zahllose Freiwillige mobilisiert, werden die zu erwartenden Ausschaffungen noch wenig thematisiert. Weitgehende Einigkeit besteht darin, dass Bürger europäischer Staaten, auch jene aus Kosovo, Serbien und Montenegro, über keine plausiblen Fluchtgründe verfügten und ihre Herkunftsländer sicher seien. Doch was bedeutet schon Sicherheit in den miserablen Roma-Ghettos in Osteuropa und auf dem Balkan?

Das Mitgefühl gilt im Moment, und nicht nur in Deutschland, vor allem den syrischen Migranten. Ihnen werden vier Jahre nach Ausbruch des Kriegs echte Fluchtgründe attestiert. Und weil sich in ihrer Heimat kein Ende der Katastrophe abzeichnet, ist es realistisch, ihre gesellschaftliche Integration in der Fremde zu fördern. Prioritär sind Spracherwerb und eine Beschäftigung, die wirtschaftliche Selbständigkeit gewährt.

Gilt Gleiches auch für Bürger aus dem Irak, aus Afghanistan, Palästina, Jemen, Pakistan, Somalia, Libyen, Mali oder Kongo, aus dem Südsudan oder aus Zentralafrika? Der unbequemen Frage muss sich stellen, wer über die Beweggründe für Migration richten will, also Kriegsgefahr und daraus resultierende Not von materiellem Elend und individueller Perspektivenlosigkeit zu unterscheiden versucht. Klare Befunde sind darum sehr schwierig, weil bewaffnete Konflikte kaum je ganze Länder erfassen (Irak), regionale Sicherheitslagen sich über Nacht verändern (Afghanistan) und autoritäre Regime, wie etwa jenes in Eritrea, den Exodus der eigenen Bevölkerung als Einnahmequelle erkannt haben. Der Flächenbrand in Syrien ist die Ausnahme der Regel.

Unter den Neuankömmlingen in Deutschland und anderswo im reichen Teil Europas ist daher ein Verteilkampf unter den Migranten absehbar. Er wird sich darum drehen, wer vom Flüchtling zum Einwanderer mutieren darf. Jene, die sich dafür nicht zu qualifizieren vermögen, werden sich von der Willkommenskultur verraten und um ihre Zukunft betrogen fühlen. Freiwillig und höflich dankend werden die wenigsten ausreisen wollen. Wohin denn schon?

Die Entflechtung von humanitärem Engagement und Einwanderungspolitik ist in Umrissen bereits erkennbar. Die EU beabsichtigt, in den sogenannten Hotspots entlang ihrer Aussengrenze Neuankömmlinge zu registrieren, um bereits zu diesem Zeitpunkt Asylgesuche auf ihre Berechtigung hin zu prüfen. Nur: Wohin mit jenen Antragstellern, deren Aufnahmebegehren chancenlos sind? Wird Griechenland die Türkei zum sicheren Drittland erklären? Erst dann böte sich die rechtliche Grundlage, abgewiesene Migranten in die Türkei zurückzuführen. Dort, und nur dort, soll in gesicherten Auffanglagern die Möglichkeit geschaffen werden, um nach Aufnahme in Europa zu ersuchen. Damit erübrigte sich die risikoreiche Reise übers Meer. Faktisch bedeutete dieser von dem Expertenpool European Stability Initiative initiierte Plan eine Rückkehr zum sogenannten Botschaftsasyl, das die Schweiz als letzter europäischer Staat unter Druck der Nationalkonservativen vor zwei Jahren allzu unbedacht abgeschafft hatte.

ZwiespältigeZusammenarbeit

Gegenüber dem türkischen Präsidenten Erdogan signalisierte Europa unlängst die Bereitschaft zu umfangreicher Kooperation beim Bewältigen der Flüchtlingskrise in dessen Land, um im Gegenzug eine wirkungsvolle Kontrolle seiner Meeres- und Landgrenze zu Griechenland einfordern zu können. Vergleichbare Absprachen an Europas Südgrenze sind in Gang, mit Marokko funktionieren sie bereits. Das Gelingen setzt aber eine Rückkehr Libyens in den Kreis funktionierender Staaten voraus. Bis dahin wird Libyen für Migranten ein Transitland bleiben – ohne staatliche Kontrolle seiner Grenzen und ohne Bereitschaft zur Rücknahme all jener Migranten, deren Begehren, in Europa eingelassen zu werden, abgelehnt wurde.

Mit der politischen Avance gegenüber Erdogan stärkt Europa einen zunehmend autokratischen Regenten. Dessen von innenpolitischen Motiven geleitetes Verhalten gegenüber den Kurden widerspricht einem europäischen Verständnis von Minderheitenpolitik und wird, wenn der latente Konflikt in Ostanatolien wieder voll entflammen sollte, weitere Kriegsflüchtlinge in Bewegung setzen. Und Europas Entgegenkommen für Marokkos Kooperation hat einen Fixpreis: kein böses Wort zur widerrechtlichen Annexion der Westsahara.

Ein Neuaufbau der Festungsmauer braucht Zeit, während die unkontrollierte Zuwanderung anhält. Das Diktum der deutschen Kanzlerin «Wir schaffen es» büsst an Wirkung ein. Gefordert wird eine Lösung, als ob es diese gäbe. Da mag Merkel lange präzisieren, unter «wir» ganz Europa zu verstehen. EU-Mitglieder drohen mit Grenzbefestigungen oder machten sie wie Ungarn bereits wahr. Ausgerechnet Ungarn, wo 1989 der Eiserne Vorhang nur darum fiel, weil der Schiessbefehl nicht länger befolgt wurde. Der Ruf nach nationaler Abschottung mag zwar Wählergunst einbringen, faktisch ist er aber wirkungslos, weil es sich derzeit kein europäischer Staat leisten kann, gegen unbewaffnete Migranten Schusswaffen einzusetzen.

Es bleibt der Einwand, wonach besser bewachte Grenzen abschreckende Wirkung erzielen und den Strom der Migranten «kanalisieren». Der in Brüssel entwickelte Plan zur Errichtung von Aufnahmestellen für 100 000 Migranten entlang der Balkanroute zielt in diese Richtung. Es ist bereits von einem Puffer die Rede. Das aber passt schlecht zu Europas Integrationsbemühungen in seinem Südosten. Puffer kann nur sein, wer nicht dazugehört.

Eine in Brüssel koordinierte kohärente Aussenpolitik zum Wiederaufbau von Europas Festungsmauern erfordert Absprachen entlang Europas Aussengrenze. Auf der Strecke aber bleiben ausgerechnet jene Prinzipien, die sich die Hüter von Europas Werten auf die Fahne geschrieben haben. Für all jene Migranten, denen der Einlass in die Festung verwehrt wird, steht fest: Dort predigen sie öffentlich Wasser, doch heimlich trinken sie Wein.

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