03. November 2015 · Kommentare deaktiviert für „Griechen wehren sich gegen den Zaun“ · Kategorien: Griechenland, Türkei · Tags: ,

Quelle: Frankfurter Rundschau

Von Ferry Batzoglou

Demonstranten fordern sichere Wege für Flüchtlinge. Sie stellen sich klar gegen den Grenzzaun, der Griechenland von der Türkei trennt. Seit der Zaun steht, fliehen die Menschen in völlig überfüllten Booten in Richtung der griechischen Inseln Lesbos, Samos, Chios, Kos und Leros.

Kastanies/Evros – Die Lage eskalierte schnell: Rund 600 Demonstranten steuern an diesem kalten Samstagnachmittag schnurstracks auf die griechisch-türkische Landesgrenze in der winzigen Ortschaft Kastanies zu. „Reißt den Grenzzaun nieder!“, skandieren sie. Die griechische Polizei kann die aufgebrachte Menschenmenge erst kurz vor der Schranke an der ansonsten ruhigen Zollstation stoppen – und auch das nur unter dem massiven Einsatz von Tränengas und Blendgranaten.

Es dauert Stunden, bis die Protestler abziehen. „Wir wollen Flüchtlingen sichere Wege nach Europa öffnen, und zwar sofort“, erklärt Daphne, eine der Demonstranten, warum sie gekommen ist. „Keine Toten mehr in der Ägäis!“ Es sind die ersten Proteste dieser Art in Kastanies. Mit Bussen und Autos sind Daphne und ihre Mitstreiter aus Thessaloniki, Athen, Patras und anderen Städten in Griechenland angereist. Unter den Demonstranten sind auch Vertreter der Syriza-Parteijugend sowie der einflussreichen Sektion Menschenrechte der Athener Regierungspartei von Premier Alexis Tsipras.

Ihre Proteste richten sich gegen den Grenzzaun zwischen Kastanies und dem Nachbarort Nea Vyssa, 10 365 Meter lang, vier Meter hoch. Mit seinem Bau 2012 fiel die Zahl der illegal Einreisenden an der griechisch-türkischen Festlandsgrenze drastisch – um 98 Prozent. So ist das bis heute.

Die konservative Athener Tageszeitung „Kathimerini“ frohlockte nach der Errichtung des Grenzzauns: „In Evros kommt nicht einmal eine Mücke über die Grenze.“ Evros und das türkische Edirne waren zuvor der Flaschenhals für illegale Einwanderer auf ihrem langen, beschwerlichen Weg nach Europa. Ein vergleichsweise sicherer Fluchtweg über Land, auch im Winter. An Spitzentagen für bis zu 500 Menschen.

„Die Leichenhallen sind voll“

Doch seit der Grenzzaun steht, kommt das Gros der Flüchtlinge vom türkischen Festland über die Ostägäis vor allem auf den Inseln Lesbos, Samos, Chios, Kos und Leros an – falls sie in den oft völlig überfüllten Flüchtlingsbooten die riskante Reise überhaupt überleben. Laut offiziellen Angaben der griechischen Polizei (Elas) sind in den ersten neun Monaten dieses Jahres allein auf Lesbos, Samos, Chios sowie den Dodekannes-Inseln wie Kos, Leros und Kalymnos weiter südlich 389 375 Flüchtlinge angekommen. Dies sind mehr als 90 Prozent aller nach Griechenland eingereisten. Gleichzeitig reißen die Nachrichten über ertrunkene Flüchtlinge in der Ägäis, darunter viele Kinder und Babys, nicht ab. Kein Wunder: In diesen Tagen herrscht in der Ostägäis Windstärke 8 bis 9.

Der Bürgermeister von Lesbos, Spyros Galinos, fordert schon, dass Fähren die Flüchtlinge fortan direkt und sicher aus der Türkei nach Griechenland bringen sollten. Sein Argument: Solange die Türkei nicht den Flüchtlingsstrom gen Westen kontrolliere oder kontrollieren wolle, bliebe keine andere Möglichkeit, als diese Menschen zur Registrierung mit Fähren auf seine Insel zu bringen, damit sie nicht im Meer ertränken. „Wir müssen diese Verbrechen beenden“, sagt Galinos. Die Leichenhallen der Insel seien voll mit Opfern, klagt er.

Der Druck auf Premier Tsipras wird angesichts der immer neuen Toten in der Ostägäis zunehmend größer. Schon längst liebäugelt die Regierung damit, den von den konservativen Vorgängern unter Expremier Antonis Samaras errichteten Grenzzaun abzuschaffen. Als Syriza noch in der Opposition war, hatte sie sich das Niederreißen des Zauns auf die Fahnen geschrieben. Auch außenpolitisch wäre dies „ein starkes Signal“, so heißt es nun in Syriza-Parteikreisen. Die unmissverständliche Botschaft: Während andere EU-Länder, allen voran Ungarn, mit neuen Grenzzäunen Europa vor den Flüchtlingen abschotten, belebt Hellas umgekehrt mit dem Niederreißen von Grenzzäunen die wahre Kultur Europas.

Unverhohlen pflichtet Athens neuer Minister für Flüchtlingsfragen, Jannis Mouzalas, den Protestlern von Evros jedenfalls bei. „Es gibt keine logischere Position als das Motto ‚Öffnet die Evros-Grenze‘“, sagte er dem Staatssender ERT. Dies sei auch sein Standpunkt, so Mouzalas. Das Thema werde in Regierungskreisen „als alternative Lösung“ bereits diskutiert. „Aber aus rein technischen Gründen geht es nicht“, so Mouzalas. Noch nicht.

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